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In der Regel würden bei den Betroffenen ungünstige Voraussetzungen in Familie und Schule aufeinandertreffen. Oft kämen Erwachsene mit Leseproblemen selbst aus Familien ohne Bücher, wo die Eltern als Lese- und Schreibvorbilder wegfallen. Muckenhuber berichtet auch von Scham in der Familie, weil die Eltern selbst nicht gut lesen können, aber auch von geringem Interesse wegen der Einstellung, dass man sein Leben wohl auch ohne Lesen und Schreiben finanzieren könne. "Das stimmt aber nicht mehr."
In der Schule können die Probleme laut Muckenhuber nur zum Teil aufgefangen werden. Die Klassen seien zu groß, um auf individuelle Bedürfnisse einzugehen. Nicht jede Leselernmethode funktioniere für jedes Kind. Ist das Lerntempo zu hoch, müssten außerdem eigentlich die Eltern einspringen. Die Lerninhalte wiederum seien oft sehr bürgerlich und dementsprechend weit weg von der Lebensrealität der Kinder. Probleme beim Lesen würden in der Schule oft auch nicht oder zu spät erkannt.
Können die Eltern nicht lesen, haben auch die Kinder Nachteile. Werden deshalb etwa Termine verpasst, wird das laut Muckenhuber als Desinteresse an der Bildung gedeutet. Oft werde dann auch das Kind in dieselbe Schublade gesteckt. Stehe das Kind dann etwa auch noch ohne Ausflugsrucksack beim Wandertag da, komme noch der Spott der Mitschüler dazu - "lauter negative Faktoren für den Schulerfolg".
Viele Menschen, die nicht oder schlecht lesen können, outen sich nicht, berichtet Muckenhuber. "Die nehmen lieber Nachteile in Kauf." Im Arbeitsalltag nehmen sie etwa Termine, bei denen die Arbeit mit Texten erforderlich wäre, nicht wahr - mit Folgen bis zur Kündigung. Wer seine Termine beim AMS verpasst, weil er die Einladung nicht versteht oder noch dazu die Uhr nicht lesen kann, werde als unwillig eingestuft. Muckenhuber erzählt auch von Saisonarbeitern aus einem Kurs, die Monate ohne Einkommen in Kauf genommen haben, weil sie sich nicht imstande sahen, den AMS-Antrag zu stellen.
Aber auch Vereinsamung sei ein Thema, weil sich die Menschen aus Angst, "entdeckt zu werden", von gesellschaftlichen Kontakten zurückziehen. Muckenhuber würde sich eine Entstigmatisierung des Themas wüschen, viele Erwachsene mit Leseproblemen seien durchaus beruflich erfolgreich. "Und wenn jemand erzählt, dass er in Mathematik nie gut war, käme niemand auf die Idee zu sagen: 'Was muss das für ein Vollkoffer sein!'" Bei einem unaufgeregten Umgang mit dem Thema wäre es aus ihrer Sicht auch möglich, etwa bei Elternabenden Angebote aus der Erwachsenenbildung zu bewerben und so Eltern und Kinder gleichzeitig zu unterstützen.
Der Großteil der Menschen mit Leseproblemen in Österreich hätte übrigens keinen Migrationshintergrund, betont Muckenhuber. Zwar sei in der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund der Anteil an Personen mit Leseproblemen größer, in absoluten Zahlen hätten sie bei der letzten PIAAC-Ausgabe von 2013 aber nur ein Drittel aller Betroffenen ausgemacht. Zu PIAAC 2023 lägen die entsprechenden Hochrechnungen noch nicht vor.
Zugewanderte Menschen seien dabei für Alphabetisierungskurse im Erwachsenenalter noch leichter zu erreichen, "da fällt meist der Schamfaktor weg". Dazu komme, dass seit der großen Fluchtbewegung von 2015 aus dem Blick geraten sei, dass es solche Kurse auch für Menschen mit deutscher Erstsprache gebe. Muckenhuber plädiert hier für mehr Öffentlichkeitsarbeit. Die Idee sollte dabei sein, dass es sich um ein normales Kursangebot wie einen Englisch- oder Kochkurs handle. Dank kleiner Gruppen und auf die Interessen der Kursteilnehmer abgestimmter Materialien seien in der Erwachsenenbildung beim Lesenlernen auch schnelle Erfolge möglich.
FRANKFURT AM MAIN - DEUTSCHLAND: FOTO: APA/APA/dpa/Boris Roessler