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Eine auf bestimmte Themen bezogene, aber keine "strukturelle Polarisierung", ortet auch Alexander Bogner, Koordinator des von der Bundesregierung beauftragten Projekts zur Corona-Aufarbeitung an der Akademie der Wissenschaften (ÖAW). "Man schickt die eigenen Kinder nicht nur in jene Schulen, wo man die Kinder der anderen Gruppe nicht treffen kann. Oder man folgt auch keinen Heiratsregeln." Hierzulande stehe man noch nicht da, wo die USA stehen: Die Demokraten und Republikaner jenseits des Atlantiks, so lauten Modelle, seien so zerstritten, "dass man in der politischen Praxis vernünftige politische Kompromisse hintertreibt, nur um nicht in den Verdacht zu kommen, man würde mit den anderen reden." "Das haben wir hier nicht", so der Soziologe.
Die Beteiligung an Diskussionen in sozialen Medien habe - entgegen der verbreiteten Annahme - keinen nennenswerten Einfluss auf Meinungsbildung oder Wahlverhalten, zeigten bereits einige Untersuchungen. Medienwissenschafter Matthias Karmasin von der Universität Klagenfurt weist auch darauf hin, dass die diversen Plattformen nur einen Teil des "Medien-Menüs" ausmachen würden, mit dem man sich täglich beschäftigt, von analogen Informationsquellen, Interaktionen und Diskussionen - Stichwort Stammtisch - mal ganz abgesehen. Digitale Filterblasen und Echokammern sollten also nicht überschätzt werden. Ihnen die alleinige Schuld für gewisse gesellschaftspolitische Phänomene zu geben, hält auch die Medienexpertin Sophie Lecheler von der Universität Wien für eine allzu bequeme Lösung.
Eine generelle Entwarnung lässt sich daraus aber auch nicht ableiten: Die Nutzung von sozialen Medien als Nachrichtenquelle nehme kontinuierlich zu, gleichzeitig sei das Geschäftsmodell vieler Plattformen auf Emotion, Konflikt und Gewinn ausgerichtet. Die Algorithmen, die die Kommunikation steuern, würden darauf programmiert, die Verweildauer zu erhöhen und nicht darauf, Erkenntnis, Verständnis und Faktentreue zu befördern. Gleichzeitig wächst in Zeiten der Polykrisen auch die "News Avoidance", wodurch Informationen teils komplett ausgeblendet werden, äußerten sich Expertinnen und Experten gegenüber der APA.
"Postfaktisch ist tatsächlich ein Ding", sagte Lecheler. "Es ist nicht nur ein Buzzword, sondern es ist wirklich etwas, was sich verändert hat, wenn wir über politische Kommunikation sprechen." Das bedeute allerdings nicht, dass den Menschen Wahrheit nicht mehr wichtig sei.
Eine Reform der Medienförderung, EU-Regelwerke, die Einrichtung eines Ethikrats für politische Werbung bis hin zu einem digitalen Ordnungsruf für Politikerinnen und Politiker, um soziale Medien nicht als Macht gegen Demokratie zu instrumentalisieren - das sind bereits vielfach vernommene Forderungen als Maßnahme.
Langfristig betrachtet sei die Stärkung von Medienkompetenz und demokratischer Bildung der Bevölkerung sehr wichtig. Die größte Auswirkung auf die Medienlandschaft aus pragmatisch-ökonomischer Sicht hätte eine Reform der Medienförderung und der Inseratenvergabe, meinte Karmasin. So könnten Qualitätsmedien wirkungsvoll als "Gatekeeper" fungieren. Bei der Medienkompetenz anzusetzen, rät auch Jakob-Moritz Eberl, Senior Scientist an der Universität Wien, etwa durch die Vermittlung der Grundwerkzeuge des Faktenchecks und eine informiert-skeptische Haltung. Das gilt auch für die "Digital Natives", die nicht zwangsläufig eine hohe digitale Medienkompetenz aufweisen, wie Johanna Grüblbauer von der Fachhochschule (FH) St. Pölten erläuterte.
Von Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern höre man immer wieder: Wenn etwas Wichtiges passiert, werde ich das schon erfahren. Es poppt ja ohnehin im "Internet" oder im persönlichen Social-Media-Feed auf, oder es wird einem von Gleichgesinnten erzählt. Zu dieser "Nachrichten-finden-mich" aka "News will find me"-Wahrnehmung (NFM) gibt es bereits wissenschaftliche Untersuchungen, so Grüblbauer. Diese Einstellung berge die Gefahr "mangelnden politischen Wissens". Umso wichtiger sei es daher, junge Menschen zu ermutigen, sich aktiv auch außerhalb von Social Media zu informieren. "Es braucht daher eine Annäherung beider Seiten: Journalistisch sind hochwertige Inhalte so aufzubereiten, dass junge Menschen angesprochen werden. Umgekehrt müssen junge Menschen den Wert freier Medien mit hohen journalistischen Standards erkennen und wertschätzen lernen."
Viele Expertinnen und Experten empfehlen zudem, Gemeinsamkeiten zu suchen und auf das Verbindende zu setzen, um der allgemein wahrgenommenen zunehmenden Frontenbildung entgegenzuwirken. In eine Falle sollte wohl nicht getappt werden: Eine generelle Spaltung der Gesellschaft beziehungsweise den Weg dorthin als unausweichlich anzusehen.
Service: Ein Überblick zum Themenschwerpunkt "Kaninchenbau oder Meinungsschau? Wie soziale Medien wirken" findet sich bei APA-Science unter https://go.apa.at/Ff4CXdgb