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Vor 80 Jahren rückten im Frühling 1945 alliierte Truppen auf österreichischem Boden immer weiter vor. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 erreichte die Rote Armee Graz. Der damalige Gauleiter Sigfried Uiberreither plante, die steirische Landeshauptstadt bis zum Schluss verteidigen zu lassen. Kurz vor Kriegsende ließ er immer noch politische Gegner hinrichten. Erst wenige Stunden vor dem Eintreffen der Roten Armee in Graz floh er in die Obersteiermark. Wenige Wochen später wurde er von den Briten verhaftet und verhört. Durch eine Regelung der Alliierten sollte er in Jugoslawien vor ein Militärgericht gestellt werden, wo ihn wie dem Kärntner Gauleiter Friedrich Rainer mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Todesurteil erwartet hätte. Anfang Mai 1947 gelang ihm die Flucht aus dem amerikanischen Lager Dachau in die rund 200 Kilometer weiter gelegene deutsche Stadt Sindelfingen in der Nähe von Stuttgart.
Die Fahndung nach Uiberreither, der für zahlreiche Morde und Verfolgungen verantwortlich war, wurde nach wenigen Jahren eingestellt. "Man hat sehr viel gewusst, aber die Suche war zu lax", erklärte Karner. Kenntnisse darüber sollen demnach amerikanische Nachrichtendienste, die Organisation Gehlen (Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes in Deutschland) und Untergrund-Bruderschaften ehemaliger Nationalsozialisten gehabt haben. Über das Verschwinden des Gauleiters ranken sich bis heute viele Erzählungen. Eine gängige Geschichte besagt etwa, dass er den Amerikanern die Forschungsunterlagen seines Schwiegervaters Alfred Wegener über Grönland überlassen habe, und dadurch nach Südamerika entkam: "Es klang plausibel, doch so war es nicht", sagte Karner.
Stattdessen begann der Gauleiter ein neues Leben unter dem Decknamen Friedrich Schönharting in Sindelfingen. Dort wurde ihm von Martin Bitzer aus "christlicher Gesinnung" Unterschlupf und Arbeit bei dessen Kühlmaschinenbaufirma gewährt. Seine Frau Käte und seine vier Kinder holte Uiberreither mit neuen Identitäten bald darauf nach Sindelfingen nach. Er unternahm keine Auslandsreisen, hatte keinen Kontakt zu früheren Freunden oder besaß auch keine alten Fotos: "Die Angst hat ihn übervorsichtig gemacht", so Karner. Als seine Kinder 14 Jahre alt wurden, klärte der gebürtige Salzburger sie über die eigentliche Identität auf. Bis heute tragen alle Nachkommen weiterhin den Namen Schönharting.
Karner stieß bereits 1986 bei seinen Recherchen auf Uiberreither. Erst nach seiner Pensionierung 2018 widmete sich der Historiker diesem Thema vollständig: "Davor hatte ich nicht die Zeit", erklärte er der APA. "Ich habe schon viele Bücher geschrieben, aber das war eine besondere Herausforderung", sagte der Gründer des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung. Für diese Biografie habe er in rund 30 Archiven im In- und Ausland geforscht und zahlreiche Gespräche mit Familienangehörigen und Wegbegleitern geführt. Die im Leykam Universitätsverlag erscheinende Monografie "Gauleiter Uiberreither. Zwei Leben" rekonstruiert auf 512 Seiten das gesamte Leben von Sigfried Uiberreither - von seiner Geburt 1908 bis zu seinem Tod 1984 unter seiner falschen Identität. Auch in Deutschland, insbesondere im Raum Sindelfingen, wird die NS-Vergangenheit der Familie Schönharting mit großem medialen Interesse verfolgt.
Service: Stefan Karner: "Gauleiter Uiberreither. Zwei Leben", Leykam, 512 Seiten, 39,95 Euro
Historiker Stefan Karner anl. eines - Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa am Sonntag 08. Mai 2022 im Bundeskanzleramt in Wien.