von
"Chronische Schmerzen (CP) im Erwachsenenleben sind eine weit verbreitete und potenziell mit Invalidität verbundene Erfahrung: Etwa zwölf bis 14 Prozent der Menschen in Europa und 19 Prozent der US-Bevölkerung berichten von chronischen Schmerzzuständen, sieben bis 14 Prozent deshalb auch von mäßig schwerer Behinderung. Chronischer Schmerz ist eine der weltweit führenden Ursachen für "Lebensjahre mit Behinderungen" und hat auch einen starken sozioökonomischen Effekt. In Europa liegen die mittleren jährlichen Kosten durch chronische Schmerzen zwischen drei und zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts", schrieben David Riedl (Ludwig Boltzmann Institut für Rehabilitationsforschung/Wien und Universitätsklinik für Psychiatrie/Innsbruck) in der Fachzeitschrift "Diagnostics" (doi: 10.3390/diagnostics15070839).
Belegt ist laut den Wissenschaftern bereits seit längerer Zeit, dass Depressionen, Angstzustände und Traumata oft im Zusammenhang mit chronischen Schmerzzuständen stehen. Depressionen und Angststörungen sind umgekehrt häufig Begleiterkrankungen von chronischen Schmerzen. "Darüber hinaus können traumatische Erfahrungen, insbesondere belastende Kindheitserfahrungen (ACEs), als zeitlich länger zurückliegende Risikofaktoren wirken, welche die Anfälligkeit für chronische Schmerzen im Erwachsenenalter erhöhen", schrieben die Fachleute. Ungeklärt war aber bisher jener Zeitraum, in dem Kinder oder Jugendliche dafür am verletzlichsten sind.
Die Studie wurde mit stationär aufgenommenen Patienten und Kranken, welche die Ambulanzen von sieben Abteilungen der Universitätsklinik Innsbruck (HNO, Unfall- und Neurochirurgie, Neurologie, Gynäkologie, Innere Medizin und Radiologie) aufgesucht hatten, durchgeführt. Insgesamt nahmen an der Untersuchung 2.577 Probanden teil. Während der Wartezeiten füllten sie detaillierte Fragebogen aus. Knapp ein Drittel der Probanden (mittleres Alter rund 47 Jahre) berichtete von chronischen Schmerzen länger als sechs Monate. Die Fragen bezogen sich auf psychische und physische Misshandlung bzw. Vernachlässigung, erlittene traumatische Erlebnisse, Stresserfahrungen und schließlich die Schmerzsymptomatik.
Knapp 30 Prozent aller Studienteilnehmer berichteten schließlich von ein bis drei sie schwer belastenden negativen Kindheitserfahrungen, etwa sechs Prozent von in der Häufigkeit darüber hinaus gehenden erlittenen negativen Kindheitserlebnissen. Am häufigsten genannt wurden emotionaler Missbrauch (rund 18 Prozent), gefolgt von Misshandlungen durch Eltern etc. An dritter Stelle (zwölf Prozent) folgte körperliche oder psychische Vernachlässigung.
Das Risiko für das spätere Auftreten von chronischen Schmerzzuständen war offenbar sprichwörtlich "dosisabhängig". "Im Vergleich zu Patienten ohne belastende Kindheitserlebnisse stieg die Häufigkeit von chronischen Schmerzzuständen bei ein bis drei solcher Erfahrungen um den Faktor 1,5", stellten die Experten fest. Bei vier und mehr solcher belastender Erlebnisse verdreifachte sich das Risiko für chronische Schmerzen.
Mit einem KI-System samt maschinellem Lernen konnte schließlich jene Phase der Betroffenen identifiziert werden, in denen sie für spätere negative Konsequenzen von belastenden Kindheitserfahrungen am verletzlichsten gewesen waren. "Das ist die erste Studie, die eine Zeitabhängigkeit der Verbindung zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und chronischen Schmerzzuständen (im Erwachsenenalter; Anm.) belegt", heißt es in der Zusammenfassung der Untersuchung. Der Kernpunkt: Missbrauch, schlechte Behandlung in psychischer oder körperlicher Hinsicht, Vernachlässigung und Traumata "im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren" seien die wichtigsten Prognosefaktoren für später auftretende chronische Schmerzen.
Das frühe Entdecken solcher Situationen, denen Kinder ausgeliefert sein können, und psychosoziale Unterstützung im gegebenen Fall wäre eine der Kernaufgaben für Angehörige der Gesundheitsberufe, stellen die Wissenschafter fest. Damit könnten auch nach vielen Jahren auftretende Konsequenzen von belastenden Kindheitserfahrungen verhindert werden.
HANNOVER - DEUTSCHLAND: FOTO: APA/APA/dpa/Julian Stratenschulte