Endlich sind die Kinos in den meisten Ländern Europas wieder offen. Sie sagten einmal, dass das Kino die Menschen «repariert». Wie meinten Sie das?
Ich bin überzeugt, dass Fiktionen uns heilen und uns Dinge beibringen können. Viele denken, dass wir durch Dokumentationen, die wir im Internet streamen, etwas lernen – aber im Grunde werden wir dort oft nur mit formatierter Information konfrontiert. Im Kino, also bei der Fiktion auf grosser Leinwand, ist das anders. Zum einen, weil Schönheit ganz grundsätzlich den Geist erfrischt, erweitert und repariert. Und zum anderen bringt dieser Akt, jemand anderem beim Leben zuzusehen und sich mit ihm zu identifizieren, unsere Gedanken in Bewegung. Man erkennt sich selbst, beginnt neu über sich nachzudenken. Das kann sehr heilsam sein.
Das gelang Ihnen auch mit Ihrer Rolle des homosexuellen Hervé im französischen Netflix-Hit «Call My Agent!». Viele junge Männer haben Ihnen geschrieben und sich bedankt, weil sie sich in dieser Figur erkannt haben und dadurch einen Weg gefunden haben, über ihre Sexualität zu sprechen. Hatten Sie damit gerechnet, so etwas auszulösen?
Überhaupt nicht, aber ich bin sehr froh darüber und es bedeutet mir viel. Ich hoffe, dass das, was ich tue, auf eine poetische Art politisch ist und jungen oder auch alten Menschen hilft, sich so zu akzeptieren, wie sie sind. Und zwar ganz generell und nicht nur in Bezug auf ihre Sexualität. Ich sehe mich denn auch nicht als Künstler, der nur eine Botschaft transportiert und Filme nur für bestimmte Leute macht.
Auch in Ihrem aktuellen Film «My Best Part» verleihen Sie einem zerbrechlichen Charakter Glanz und wurden dafür an der Berlinale 2021 als «European Shooting Star» geehrt …
… «Shooting Star» – was für ein Titel! Ich bin sehr glücklich, es mit 40 noch so weit gebracht zu haben (lacht).
Sie verkörpern im Film den Schauspieler Jérémie, der auf der Suche nach sich selbst ist, nach dem selbstbestimmten Leben – und der schliesslich durch das Theater gerettet wird. War das bei Ihnen auch so?
Gerettet ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber ja, ich liebe das Theater. Es hinterfragt das Leben und macht es auch einfach sehr viel schöner. Es verbindet mich mit etwas sehr Ursprünglichem, fast Antikem. Es macht mich in gewisser Weise menschlich, vielleicht allzu menschlich.
Sie tragen Ihre persönliche Fragilität in diesem Film sehr offen zur Schau. Entspricht diese Präsentation der eigenen Verletzlichkeit dem Zeitgeist?
Mich hat das französische Kino der 1990er-Jahre, die Filme von Noemie Lvovsky, Laurence Ferreira oder auch Olivier Assayas, geprägt. Sie alle zeigen Figuren, die ihre Sensibilität nach aussen tragen und zugeben, dass sie mit dem gesellschaftlichen Druck, etwas aus sich zu machen, eine Familie und eine Karriere zu haben, nicht klarkommen. Das ist also nicht wirklich neu. Aber es stimmt, dass man solche Figuren heute in den Filmen viel häufiger sieht. Ich habe dabei allerdings oft den Eindruck, als folge man eher einem Trend als einer inneren Notwendigkeit.
Wie meinen Sie das?
Man sieht heute oft junge Protagonisten, die durch ihr Leben stolpern und nicht richtig damit klarkommen, aber trotz allem total lieb und lustig sind. Damit kann ich wenig anfangen, es wirkt auf mich unehrlich. Genau das versuche ich nicht zu machen. Ich versuche so ehrlich wie möglich zu sein, keine Pose einzunehmen.
War das Ihre Intention mit diesem Film? Sie spielen in «My Best Part» (franz. «Garçon chiffon») ja nicht nur die Hauptrolle, sondern haben auch erstmals das Drehbuch geschrieben und Regie geführt.
Ja, ich wollte möglichst ehrlich sein und eine zentrale männliche Figur voller Widersprüche zeigen. Jérémie ist manchmal absichtlich unerträglich, aber als Zuschauer möchte man ihn oft am liebsten umarmen. Er ist auch nicht einfach ein Opfer der Gesellschaft, sondern schwächt sich auch selbst. Der Weg zum selbstbestimmten Menschen ist hart und verlangt viel Arbeit und Disziplin. Und der Film hat auch eine politische Dimension, in dem Sinne, dass wir auch männliche Helden zeigen müssen, die nicht einen Motorradhelm und eine sehr tiefe Stimme haben.
Wollen Sie Männlichkeit neu definieren?
Vielleicht sollten wir einfach aufhören, die Männlichkeit als fixes Konzept zu betrachten. Das lässt zu wenig Raum für Selbstbestimmung. Wir sollten die Männer aus diesem Schema befreien, das besagt: Du bist entweder der nette Loser-Typ oder der starke Mann. Es gibt tausend Daseinsformen dazwischen. Und denen sollten wir Raum lassen, damit sich jeder Mann selbst ausdrücken kann, statt von aussen definiert zu werden.
Zu Ihrem Markenzeichen gehört Ihre spezielle, eher helle und weiche Stimme. Ganz ehrlich: Gab es Momente, in denen Sie versucht waren, Ihre Stimme zu verfälschen, damit sie der klassischen Männerstimme entspricht?
Ich glaube, einige Schauspieler empfinden tatsächlich diese Versuchung, sich zu verstellen, sich irgendwie umzupolen. Aber mir ging das nie so, ich bin mir stets treu geblieben. Nicht, weil ich mich so spannend finde, sondern weil ich glaube, dass ich mit meiner Stimme etwas auslösen kann, das auch andere Menschen berührt. Sie ist dafür ein wichtiges Instrument.
Sie erheben Ihre Stimme auch öffentlich für die Anliegen der LGBTQ+-Community und sind Präsident der «Queer Palm» beim diesjährigen Filmfestival in Cannes.
Ja, das ist für mich eine Mission von grosser politischer Bedeutung. Was mir an der Idee der «Queer Palm» gefällt, ist, einen Cineasten auszuzeichnen und seine Welt hervorzuheben, so gross und gefährlich und damit so aufregend sie auch immer sein mag.
Ist denn das Bewusstsein für die Gleichbehandlung im Kulturmilieu noch nicht genügend geweckt?
Viele Leute denken, dass das Kulturmilieu ein sehr offener Ort ist. Doch auch wenn die Minderheiten im Film heute egalitärer repräsentiert werden, sollte man nicht vorschnell davon ausgehen, dass das Kino ein Raum ist, in dem man LGBTQ+-Menschen stets wohlwollend gegenübersteht. Ob in der Musik- oder in der Filmszene, wir haben noch sehr viel Arbeit vor uns.