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Eine Million Vertriebene im Libanon möglich

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Mikati steht vor einer schier nicht zu bewältigenden Krise
©APA/APA/Lebanese Prime Minister's Press Office/-
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Im Libanon könnte nach Angaben des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Najib Mikati bis zu eine Million Menschen durch die israelischen Angriffe vertrieben werden. Es sei schon jetzt die größte Zahl an Vertriebenen in der Geschichte des Landes, sagte Mikati in Beirut. Im aktuellen Konflikt mit Israel könne es nur eine diplomatische Lösung geben: "Es gibt keine Wahl für uns als Diplomatie."

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Seit Beginn der neuen Konfrontationen zwischen Israels Armee und der vom Iran unterstützten Hisbollah-Miliz wurden im Libanon nach UNO-Angaben mehr als 210.000 Menschen vertrieben, unter ihnen etwa 120.000 allein im Verlauf der vergangenen Woche. Die Zahl könnte, auch gemessen an Erfahrungen des vergangenen Kriegs mit Israel im Jahr 2006, den Vereinten Nationen zufolge aber noch deutlich höher liegen.

Viele Menschen schlafen zudem in Parks, auf der Straße oder am Strand aus Angst vor weiteren Angriffen etwa im Süden, Osten oder im Raum der Hauptstadt Beirut. 50.000 Syrer und Libanesen sind zudem ins benachbarte Bürgerkriegsland Syrien geflohen.

Nach der Tötung von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah durch Israel am Freitag warnt die libanesische Armee vor neuen Konflikten innerhalb des Libanon. "Das Armee-Kommando ruft alle Bürger auf, die nationale Einheit zu bewahren und sich nicht in Handlungen ziehen zu lassen, die den zivilen Frieden in dieser gefährlichen und empfindlichen Phase in der Geschichte unseres Landes gefährden", teilte die Armee am Sonntag mit. Israel arbeite mit seinen Angriffen daran, zerstörerische Pläne umzusetzen und unter die Spaltung unter den Libanesen zu vergrößern.

Welche Folgen die Tötung Nasrallahs für den Libanon hat, ist unklar. In den von ihr kontrollierten Gebieten handelt die Hisbollah wie ein eigener Staat und kümmert sich etwa um Infrastruktur, Gesundheitseinrichtungen, Schulen und Jugendprogramme. Sie ist zudem eine einflussreiche politische Partei und stellt Minister. Sie agiert wie ein Staat im Staat. Laut Umfragen unterstützten sie mit etwa 30 Prozent der Bevölkerung aber vergleichsweise wenig Menschen im Land, die Mehrheit lehnt die Hisbollah demnach ab.

Der Libanon mit seinen gut sechs Millionen Einwohnern steckte schon vor der jüngsten Eskalation mit Israel längst in der tiefsten wirtschaftlichen und politischen Krise seit dem Ende des 15-jährigen Bürgerkriegs 1990, in dem geschätzt 150.000 Menschen umkamen. Das Proporzsystem zwischen den ehemaligen Bürgerkriegsgegnern Schiiten, Sunniten und Christen führte schließlich zur Lähmung. Schon vor Jahren war das Land in Schulden versunken, die Währung im freien Fall.

Die Explosionskatastrophe in der Hauptstadt Beirut vom 4. August 2020, bei der rund 200 Menschen getötet, rund 6.000 verletzt und Hunderttausende obdachlos wurden, führte zu Massenprotesten gegen die Regierung, die schließlich zurücktrat. Eine neue Regierung ließ lange auf sich warten; sie ist nur geschäftsführend im Amt. Das Amt des Staatspräsidenten ist vakant. Der Libanon beherbergt zudem rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien.

Bereits 2006 war es zum bisher letzten Krieg zwischen Israel und dem Libanon gekommen. Ausgelöst wurde er durch die Entführung zweier israelischer Soldaten in der Region der Shebaa-Farmen durch die Hisbollah. Das 30 Quadratkilometer kleine Gebiet an der Grenze von Syrien, Libanon und Israel ist seit langem umstritten.

Das Oberhaupt der Maronitischen Kirche im Libanon rief die Weltgemeinschaft auf, den "Kreislauf des Kriegs, der Tötungen und der Zerstörung" im Libanon zu stoppen. "Der Tod von (Hisbollah-Chef) Hassan Nasrallah hat eine Wunde im Herz der Libanesen geöffnet", sagte der maronitische Patriarch Béchara Boutros Raï in seiner Sonntagspredigt. Die Weltgemeinschaft müsse ernsthaft daran arbeiten, dass im Libanon ein "gerechter Friede" entstehe mit Rechten für alle Menschen in der Region.

In dem konfessionell stark gespaltenen Land sind schätzungsweise 70 Prozent der Bevölkerung Muslime, die etwa zu gleichen Teilen Anhänger der schiitischen beziehungsweise sunnitischen Strömung im Islam sind. Etwa 30 Prozent sind Christen. Mehr als die Hälfte davon sind Maroniten.

Nach Einschätzung der Ökonomin Alia Mubajid müssen die staatlichen Strukturen im Libanon nach der Tötung von Hisbollah-Chef Nasrallah dringend gestärkt werden. "Nur Staatenbildung wird den Libanon retten", schrieb sie am Sonntag auf X. Sie beschäftigt sich unter anderem für Banken und Regierungen seit 25 Jahren mit Wirtschaftsfragen im Nahen Osten.

Der Parlamentsvorsitzende Nabih Berri, ein Schiit, müsse zudem das Parlament zusammentreten lassen, um einen neuen Staatspräsidenten zu wählen, schrieb Mubajid weiter. Wegen eines Streits über die Nachfolge hat das Land seit zwei Jahren kein Staatsoberhaupt. Zudem müsse die Regierung den Ausnahmezustand ausrufen, die Armee landesweit stationieren, Spenden zur Unterstützung der vielen Vertriebenen mobilisieren und einen Plan zur Verbesserung der Wirtschaftslage vorbereiten, schrieb Mubajid.

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