von
Begonnen hat alles mit "einem wirklich starken therapeutischen Bedürfnis, Lieder zu machen", erzählt Kemp. "Ich weiß gar nicht, warum ich damals so besorgt war. Wir sind durch Covid gegangen, und wir sind mit sehr vielem konfrontiert. Die Welt war plötzlich zu groß für mich. Außerdem habe ich ein Alter erreicht, an dem man die Endlichkeit des Lebens klarer sieht. Also ging ich in mein Studio, nein, eigentlich in mein Klavierzimmer, denn ich komponiere nie während des Aufnahmeprozesses, und schrieb." Der erste daraus resultierende Song heißt "Take The Wheel": "Es geht um das Bedürfnis, dass jemand die Kontrolle übernimmt. Ich habe das aber in ein Film-noir-Setting gesetzt", so Kemp.
Das Album ist jedoch nicht trübsinnig ausgefallen, es gibt neben langsameren, atmosphärischen Stücken auch waschechte Poptracks. "Ich liebe es, verschiedene Emotionen zu erforschen", nickt der Künstler im Zoom-Gespräch. "Ich setze mich nie hin und plane, ein Album nur mit schnellen oder langsamen Songs zu schreiben. Musikalisch bietet das Album wirklich Abwechslung. Der Song 'I Know Where I'm Going' ist besonders nachdenklich, 'Dancing In Bed' wiederum peppig und ein wenig verrückt. Solche Lieder wie 'Put Your Head Up' waren zweifelsohne ein Versuch von mir, positiver zu sein. Als ich mit dem Album fertig war, habe ich mich viel besser gefühlt."
Zuletzt schrieb Kemp das Titelstück: "Da spreche ich mit mir selbst darüber, wohin ich gehen muss. Musik wartet für mich irgendwo um die Ecke. Ich beschäftige mich oft mit anderen Dingen (u.a. ko-moderiert er einen Podcast und arbeitet fürs Theater, Anm.), aber komme immer wieder auf die Musik zurück. Wenn ich musiziere, fühle ich mich am gesündesten." Mit Songs, auch wenn er sie nicht zu persönlich gestaltet, verarbeitet Kemp seine Gefühle. "Ich habe versucht, für andere zu schreiben, aber das fühlt sich wie eine Lüge an", sagt er.
Mit dem Gitarrespielen hatte Kemp mit elf begonnen. David Bowie und seine Spiders from Mars 1972 im Fernsehen und dann die Sex Pistols 1976 zu sehen, bewog ihn als Jugendlicher zu einer ersten Bandgründung. Schließlich wurde daraus Spandau Ballet ("True"), eine der erfolgreichsten britischen Gruppen der neuen Popgeneration der 80er-Jahre. Der Band gehörte auch Bruder Martin an. Die Geschwister wechselten Anfang der 90er zwischenzeitlich das Metier und spielten beide im Film "Die Kreys". Gary blieb vor der Kamera und war u.a. in "Bodyguard" zu sehen.
"Ich hatte vier Jahre lang keine Gitarren angegriffen", erzählt Kemp. "Ich dachte, ich hätte Musik aufgegeben, weil ich zum Schauspieler geworden war." Aber dann ging seine Ehe in die Brüche. "Das Erste, was ich getan habe, war, meine Gitarren zu nehmen und Songs zu schreiben." So entstand Kemps erstes Soloalbum "Little Bruises" von 1994, erst 2021 folgte mit "Insolo" das zweite.
Zuletzt tourte Kemp mit Ex-Pink-Floyd-Drummer Nick Mason, sang und spielte sechs Jahre lang frühe Floyd-Werke. Ein Gitarrenpart in "Borrowed Town", dem Opener auf dem neuen Album, weckt Assoziationen an eben diese Band. "Diese Musik ist in meinem Herzen", betont Kemp. "Als Heranwachsender habe ich zwei Gitarristen bewundert: David Gilmour von Pink Floyd und Mick Ronson an der Seite von David Bowie und solo. Deren Sound ist in meiner Blutbahn, er schlägt einfach immer wieder durch."
Den Text zu "Borrowed Town" schrieb Kemp auf einer langen U-Bahn-Fahrt durch die englische Hauptstadt: "Es geht um London, ich lebe immer noch im Zentrum. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich bin und bleibe ein Londoner", schmunzelt Kemp. "Aber man borgt sich eine Stadt nur aus. Als ich als junger Mann begann, London zu meiner Stadt zu machen, waren alte Leute auf der Straße, die im Krieg gekämpft haben. Ich hatte keinerlei Verbindung zu ihnen. Mein London war nicht mehr ihr London. Und ich weiß nicht, ob London von heute noch mein London ist. Ich glaube nicht. Ich sehe nur mehr Geister der Vergangenheit. London war schon immer im Fluss, darüber wollte ich schreiben."
Daran knüpft mit "Windswept Street (1978)" ein weiterer Song an. "Es geht um Soho als London mein London war. Um brillante Menschen, die mein Leben inspiriert haben, die aber nicht mehr unter uns sind. Wir sind mit allen möglichen Kids abgehangen, egal ob straight oder gay. Wir haben alle um uns herausgefordert, was unseren Look oder unsere Musik betraf. Wir wollten alle das nächste große Ding sein. Einige meiner Messiasse haben es nicht bis zum Ende geschafft."
(Das Gespräch führte Wolfgang Hauptmann/APA)
(S E R V I C E - Das Album erscheint als CD, LP und Deluxe-CD mit Bonustracks, Steven Wilson fertigte einen Atmos-Mix an. www.garykemp.com)
LONDON - GROSSBRITANNIEN: FOTO: APA/APA/Simon Emmett/Warner/Simon Emmett