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Thomas Druyen, Direktor am Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien, etwa verweist auf tausende Interviews im deutschsprachigen Raum zu den Erwartungshaltungen für die kommenden zehn Jahre. Demnach sei der "Wunsch nach einem starken Europa, einem europäischen Dabeisein absolut existenziell", sagte der deutsche Soziologe im Gespräch mit der APA. Insbesondere jüngere Menschen seien proeuropäisch eingestellt und sähen in Europa ihre Heimat. Die Wahl von Donald Trump zum künftigen US-Präsidenten habe dies noch beschleunigt, weil die Erwartung sei, "dass die Europäer noch stärker auf sich gestellt sind" und "nicht mehr im Schoße der Amerikaner" liegen. Österreich, das am 1. Jänner 1995 der EU beigetreten ist, sei hier "ein Achsenstaat zwischen Ost und West".
Auch Druyens Kollege, Reinhold Popp, Leiter des Instituts für Zukunftsforschung an der Sigmund Freud Universität, sieht es ähnlich. Herausforderungen wie kriegerische Auseinandersetzungen, wirtschaftliche Probleme, Migration, Energiepolitik, Digitalisierung, Aufkommen neuer Machtzentren wie China und Indien und vieles mehr, machen eine intensivere Zusammenarbeit in Europa notwendig. "Es wird uns fast nichts anderes übrigbleiben." Denn: "Nahezu alles, was den Menschen Sorgen bereitet, ist überhaupt nicht im kleinen Nationalstaat lösbar", sagt Popp.
"Es geht gar nicht, dass Europa nicht eine Einheit bildet", meint auch Druyen. Warum trotzdem zuletzt in Europa viele nationalistische und EU-kritische Parteien bei Wahlen gewonnen haben, erklären die Experten mit den "Leistungen der Regierungen in Europa", wie Druyen es formuliert. Hier ortet er "beängstigende Selbstverliebtheit" und viel Streit statt einer Zukunftsorientierung, die den Menschen eine Perspektive gäbe. Die psychischen Belastungen der Menschen würden immer größer.
Popp ergänzt, dass "sich in Europa eine Stimmung andeutet: am liebsten hätten wir einen Schrebergarten". Dabei werde übersehen, dass "die Parklandschaft der EU uns auch schützt, weil wir doch zu klein sind, um uns in der Welt allein zu bewegen". Die EU sei "schwer verzichtbar" und keineswegs "schrottreif", sondern habe sich in den vergangenen drei Jahrzehnten, in denen Österreich dabei ist, "äußerst dynamisch entwickelt". Etwa im Verteidigungsbereich habe die EU zuletzt "dazugelernt". Popp meint ebenfalls, dass die Wahl Trumps diese Entwicklung fördern werde. "Wir neigen aus sehr kurzfristiger Perspektive auf viele Jahrzehnte vorauszuschauen", langfristig "sollte man die Änderungsmöglichkeiten sehen".
Sowohl in den Nationalstaaten als auch in der EU als Ganzes sehen beide Experten großen Änderungsbedarf. Es sei wichtig, "eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber der EU zu entwickeln", sagt Popp. Nationale Politiker, die in Brüssel und Straßburg EU-Entscheidungen mittragen, sollten es unterlassen, zuhause über die EU zu schimpfen. Stattdessen sollten sie "Möglichkeiten für eine funktionsfähige Entwicklungsdynamik ingangsetzen". Als Beispiel nennt Popp das Einstimmigkeitsprinzip bei vielen Entscheidungen in der EU. "Mit so einem Programm - salopp gesagt - können Sie nicht einmal einen Schrebergartenverein führen". Eine Zwei-Drittel-Mehrheit dagegen sei "auch nicht undemokratisch".
Druyen, der auch Vermögensforscher und an der opta data Zukunfts-Stiftung in Essen tätig ist, fordert, dass die Politik sich stärker auf den "Zukunftsgedanken" konzentriere. Es brauche "politische Verlässlichkeit und Zukunftsmodelle". Insbesondere durch die technologischen Möglichkeiten wie der Künstlichen Intelligenz (KI) seien die "Chancen breit da, Europa muss sie nutzen". Länder sollten sich hier zusammentun, um das Potenzial auszuschöpfen, statt dass "jeder für sich allein rum macht" oder "Glaubenskriege" über das Thema KI führt. Gleiches gelte für den gemeinsamen Handel, das Gesundheitswesen und viele andere Bereiche. Außerdem müsse die Bürokratie "drastisch abgebaut werden". Wer Kreativität zu stark reguliere, laufe Gefahr, dass die Leute weggehen.
Auch Popp spricht die Digitalisierung an. Er sieht vor allem die Medienfreiheit als einen Bereich, in dem "wir sehr vieles tun müssen, um nicht in die Herrschaftszonen der sogenannten sozialen Medien mit ihren unerträglich mächtigen multinationalen Unternehmen im Hintergrund hineinzurutschen". Der österreichische Zukunftsforscher will bei der Nutzung der Medien und Kommunikationsplattformen die menschliche Komponente berücksichtigt wissen. Es solle dabei in Richtung technologischen Humanismus gehen: Freie Meinungsäußerung, Medienvielfalt und öffentliche Kritik müssten weiterhin möglich sein. Statt Verboten und einer "Verhinderungslogik" brauche es Leuchtturmprojekte.
(Die Gespräche führte Alexandra Demcisin/APA)
13.11.2024, Rheinland-Pfalz, Mainz: Abgeordnete verfolgen eine Debatte im Landtag von Rheinland-Pfalz. Foto: Boris Roessler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++