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Wie misst man Antisemitismus?

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Österreich plus 500 Prozent, Deutschland plus 350 Prozent, Frankreich plus 1.000 Prozent. Negativrekorde in Sachen Antisemitismus im Gefolge des 7. Oktober 2023, präsentiert im April bei der Vorstellung des Europäischen Monitoring-Netzwerks ENMA. Doch was sagen solche Zahlen aus?

Dokumentieren, was ist, um zu wissen, wogegen man ankämpfen muss: Das ist die Idee hinter Einrichtungen wie den Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in Deutschland oder der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien. Sie verzeichneten nach dem Anschlag der Hamas in Israel am 7. Oktober des Vorjahrs teils massive Zunahmen bei gemeldeten antisemitischen Vorfällen. Diese Momentaufnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt bilden aber nur einen Teil des Phänomens Antisemitismus ab, wie Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des RIAS, und Benjamin Nägele, Generalsekretär der IKG, betonen.

Sichtbar wird dabei immer nur das, was gemeldet wird. Hier hängt es einerseits davon ab, wie viel Bewusstseinsarbeit für die Wichtigkeit des Meldens geleistet wurde. Die Dunkelziffer kann aber auch aus einem anderen Grund hoch sein: Wenn Betroffene immer und immer wieder mit antisemitischen Beschimpfungen konfrontiert sind, hören sie irgendwann auf, diese zu melden.

Solidarität mit Betroffenen ist wichtig

"Uns geht es daher auch darum, Betroffenen zu vermitteln: 'Ihr seid nicht alleine'", sagt Nägele. "Und: Wir können helfen und wir behandeln den Vorfall dann genau so, wie die betroffene Person das möchte. Das kann sein, begleitet Anzeige zu erstatten oder psychosoziale Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Es kann aber auch eine anonymisierte Meldung erfolgen. Die Entscheidung liegt allein bei der meldenden Person."

In Wien sei hier in den vergangenen Jahren viel Bewusstsein geschaffen worden. Die Arbeit der Meldestelle beschränke sich daher auch nicht nur auf das Erfassen von Vorfällen, sondern beinhalte auch die Begleitung von Betroffenen. Knapp ein Jahr nach dem Anschlag in Israel sei man allerdings dennoch damit befasst, dass Betroffene, die nun ständig mit Antisemitismus konfrontiert seien – meist Menschen aus der Orthodoxie, die auch auf der Straße als jüdisch erkennbar sind –, aufgegeben hätten, jede Begebenheit zu melden, beklagt Nägele.

Der Faktor Zeit und die Dunkelziffer

Dieses Problem ist auch Steinitz bewusst. Er sagt daher: Es brauche fünf Jahre, bis eine Meldestelle so etabliert ist, dass die Zahl der Vorfälle wirklich Aussagekraft habe. Dennoch bildet auch die dann erfasste Zahl an antisemitischen Vorkommnissen die Lage nicht eins zu eins ab, es bleibe immer eine Dunkelziffer. Was allerdings dann abzulesen sei, sei eine Tendenz – wie eben die, dass der Antisemitismus seit dem 7. Oktober massiv zugenommen habe.

Katharina von Schnurbein bemüht sich seit 2015 auf EU-Ebene, Antisemitismus entgegenzuwirken und auch hier Daten zu sammeln. Sie macht drei Säulen aus, um sich dem Phänomen anzunähern: Neben den bekannt gewordenen antisemitischen Vorfällen – hier wird derzeit auch ein EU-finanziertes europäisches Monitoringnetzwerk aufgebaut – setzt die EU dabei einerseits auf die Abfrage von antisemitischen Einstellungen in der Gesamtbevölkerung im Rahmen des Eurobarometer (hier ist die nächste Untersuchung für 2025 vorgesehen) und auf eine Umfrage unter Juden und Jüdinnen in Europa durch die Grundrechteagentur (FRA – European Union Agency for Fundamental Rights).

Seitens der FRA gibt es zwar aktuell diesen Juli veröffentlichte Ergebnisse, wonach 80 Prozent der insgesamt 8.000 Befragten – in Österreich waren es 76 Prozent von 363 Studien-Teilnehmern – angaben, dass der Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. Allerdings wurde die Befragung im ersten Halbjahr 2023, und damit vor dem 7. Oktober durchgeführt. Schnurbein betont jedenfalls: "Nur alle drei Formate zusammen geben langfristig ein gutes Gesamtbild."

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Kundgebung gegen "die rechtsextreme Gefahr" im Jänner 2024 vor dem Parlament

 © Tobias Steinmaurer/APA/picturedesk.com

Das schätzt auch der scheidende Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka so ein. 2018 etablierte er daher seitens des Parlaments eine alle zwei Jahre in Österreich durchgeführte Einstellungserhebung zum Thema Antisemitismus. Man habe hier in den Fragestellungen an Studien aus früheren Jahrzehnten anzuknüpfen versucht, betonen Eva Zeglovits von IFES und Thomas Stern von Braintrust, die gerade an der vierten solchen Umfrage unter 2.000 Österreichern sowie 1.000 Personen mit türkischem oder arabischem Hintergrund arbeiten.

Die bisherigen Studien zeigten: Vorfälle wie das Attentat eines Islamisten in Wien 2020 führen zu einer kurzfristigen Abmilderung antisemitischer Tendenzen, und antisemitische Einstellungen sind bei Personen mit türkischem oder arabischsprachigem Background ausgeprägter als unter jenen ohne solchem Hintergrund. 2022 wiesen die Antworten von 15 Prozent der Befragten auf einen manifesten, von weiteren 32 Prozent auf einen latenten Antisemitismus hin. Bei den Studienteilnehmern mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund betrugen diese Werte 36 (manifest) sowie 54 (latent) Prozent. Als manifester Antisemitismus wurde u. a. Rassismus, Holocaust-Leugnung, Schuldumkehr gewertet. Marker für latenten Antisemitismus waren z. B. israelbezogener Antisemitismus sowie Macht- und Verschwörungserzählungen. Hier schließen auch die Befunde aus der Covid-Pandemie-Zeit an: Wer für Verschwörungserzählungen anfällig ist, ist auch für Antisemitismus empfänglicher, so die Experten.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 38/2024 erschienen.

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