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Viktor Orbán: "Down with Brussels. Long live Europe"

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Viktor Orbán

©Virginia Mayo/AP/picturedesk.com
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Während seiner Präsidentschaft hat er den Rechtsstaat in Ungarn ausgehöhlt. Auf EU-Ebene stellt er sich immer wieder quer und blockiert drängende Entscheidungen. Zusätzlich flirtet er offen mit China und Russland. Ausgerechnet diese Regierung von Viktor Orbán hat nun den Ratsvorsitz der EU übernommen. Was heißt das für Orbán und für Europa?

Schon zu seiner Zeit bei der Jugendorganisation der Fidesz spaltete der damals junge Politiker: Viktor Orbán, inzwischen seit nunmehr 14 Jahren ununterbrochen Ministerpräsident von Ungarn. Am 16. Juni 1989 forderte der damals 26-Jährige die sowjetischen Truppen auf, das Land zu verlassen. Diese Aktion machte ihn im ganzen Land bekannt. Aber schon damals zeichnete sich ab, was noch heute seine Politik prägt: Er polarisiert.

Ein Jahr später war Orbán bereits Abgeordneter des ungarischen Parlaments und ab 1998 das erste Mal ungarischer Ministerpräsident. Die kurze Liaison mit dem Ministerposten wurde dann für zwei Legislaturperioden unterbrochen, ehe Orbán im Jahr 2010 wieder das Steuer der ungarischen Macht in die Hand nahm.

Es ist viel passiert. Der junge Orbán stand zeitweise für offene Grenzen und die freie westliche Welt. Inzwischen ist er ein populistischer Machthaber, der demokratische Institutionen in seinem Land aushöhlt und spätestens seit seiner fünften Amtszeit im Jahr 2022 massiv gegen die Europäische Union schießt.

Im Clinch mit Brüssel

Schon seit einigen Jahren reizt der ungarische Ministerpräsident seine Kolleginnen und Kollegen auf EU-Ebene. "Er ist ein Meister der Provokation und liebt es, dann medial als Enfant terrible vorzukommen. Dazwischen probiert er, mit kleinen und mittelgroßen Deals Vorteile für seine Klientel in Ungarn, seine politische Bewegung in Ungarn und die ungarische Wirtschaft auszuverhandeln", resümiert Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).

Für Unmut in Brüssel sorgt Orbán immer wieder mit Alleingängen. So blockierte er zeitweise alle Auszahlungen eines EU-Sonderfonds, aus dem Waffenlieferungen an die Ukraine finanziert werden sollten. Innenpolitisch nutzte er diese Position, um sich als Friedensstifter zu inszenieren, der Ungarn aus dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine heraushält. In diesem Zusammenhang gerät Orbán auch immer wieder wegen der bilateralen Beziehung zu China und Russland in die Kritik.

Zusätzlich liegt Orbán in der Asyl- und Migrationsfrage im Clinch mit Brüssel. Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) Ungarn wegen seiner Asylpolitik verurteilt hat, muss das Land nun eine Strafe von 200 Millionen Euro zahlen. Darüber hinaus fällt ein tägliches Zwangsgeld von einer Million Euro an, sofern Ungarn den Forderungen eines EuGH-Urteils von 2020 nicht nachkommt.

Außerdem kreidet die EU dem Ministerpräsidenten den Abbau von freien Medien sowie den Einfluss auf das ungarische Justizsystem und die Exekutive an. Aufgrund dessen hält die Europäische Kommission bereits Gelder für Ungarn in zweistelliger Milliardenhöhe zurück. Das schmerzt insbesondere, da Ungarn einer der fünf größten Nettoempfänger der EU ist – egal ob pro Kopf oder vom Gesamtvolumen.

Innenpolitische Drucksituation

"Orbán braucht die Reibung auf europäischer Ebene, um innenpolitisch stark dazustehen", sagt Paul Schmidt. Seiner Auffassung nach spielt Orbán mit der Opferrolle, um den nationalen Kern seiner Politik weiter voranzutreiben. Mit dem Narrativ: Dort in Brüssel wollen sie sich bei uns einmischen und ich sorge dafür, dass das nicht passiert. Damit ist er in den letzten Jahren ziemlich gut gefahren.

Schmidt sieht das System Orbán allerdings aktuell angeschlagen.

Zwar erreichte seine Fidesz-Partei bei der EU-Wahl 44,8 Prozent der Stimmen. Angesichts der Umstände in Ungarn kommt dieses Wahlergebnis allerdings einer herben Niederlage gleich. Es ist auf nationaler Ebene das schlechteste Ergebnis der Partei seit Orbáns Wiederwahl ins Ministeramt vor 14 Jahren.

Besonders der Erfolg eines ehemaligen Fidesz-Getreuen bei der Europawahl lässt wohl alle Alarmglocken bei Orbán läuten. Péter Magyar holte mit seiner Partei Tisza aus dem Stegreif rund 30 Prozent. Der studierte Jurist bekleidete bis zum Februar dieses Jahres hohe Posten innerhalb des Fidesz-Systems. Außerdem war er 16 Jahre lang mit der ehemaligen Justizministerin von Ungarn, Judit Varga, verheiratet. Inzwischen geht Magyar aber auf Konfrontationskurs mit Orbán und dessen Partei. Dabei prangert der ehemalige Günstling der ungarischen Autokratie die Einflüsse auf die Justiz und die Korruption im Land an.

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Der tschechische Ex-Premier Babiš, Kickl und Orbán bei der Verkündung ihrer Allianz

© Tobias Steinmaurer/APA/picturedesk.com

Der Politikwissenschaftler Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht in Magyar zum ersten Mal eine echte Herausforderung für die hegemoniale Position, die Fidesz innenpolitisch ausübt. Inwiefern sich Magyar mit seiner Tisza-Partei aber als ernsthafte Konkurrenz bei der nächsten Wahl etablieren kann, ist laut Lang noch offen.

Die neue ungarische Oppositionspartei hat sich in Europa den Platz von Fidesz bereits gekrallt: Die Abgeordneten von Tisza werden Teil der Europäischen Volkspartei und deren Fraktion im EU-Parlament. Bis zu deren Austritt im Jahr 2021 gehörten die ungarischen Vertreterinnen und Vertreter der Fidesz zu dieser Fraktion. Die Fidesz ist damals einem möglichen Ausschluss aus der EVP-Fraktion zuvorgekommen.

Einen Tag vor der ungarischen Ratspräsidentschaft hat Viktor Obrán zusammen mit dem tschechischen Ex-Premier Babiš und dem FPÖ Politiker Herbert Kickl eine neue EU-Fraktion unter dem Namen "Patriots for Europe" angekündigt. Die drei Politiker unterzeichneten ein "patriotisches Manifest", welches die Basis der Zusammenarbeit darstellen soll. Für die Gründung einer Fraktion braucht das Trio allerdings noch Partner aus mindestens vier weiteren EU-Staaten, bis zur formalen Konstituierung des Parlaments am 16. Juli.

"Make Europe Great Again"

Da Orbán mit seinen wirtschaftlichen Verstrickungen zu Russland und China weiter voranschreitet und auf EU-Ebene immer wieder querschießt, ist er in Europa zunehmend isoliert. Für Ungarn ist das laut Schmidt gefährlich, da das Wohlwollen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten letztlich überlebenswichtig für das Land ist. Außerdem ist der Zuspruch zur EU innerhalb der ungarischen Bevölkerung weiterhin sehr hoch.

Die verschiedenen Bälle, die Orbán aktuell in der Luft hält, scheinen ihm aber zunehmend auf die Füße zu fallen. "Seine Stellung in der Europäischen Union ist sehr, sehr schwach", attestiert Europa-Experte Paul Schmidt. "Wenn die anderen 26 Mitgliedstaaten in eine Richtung gehen, dann ist ihre Lust, auf Ungarn Rücksicht zu nehmen, mittlerweile unter null."

Vor dieser Gemengelage hat Ungarn nun am 1. Juli die Ratspräsidentschaft übernommen. Dies war zeitweise sogar fraglich. Das EU-Parlament hatte im Sommer 2023 daran gezweifelt, dass Ungarn in der Lage ist, die damit verbundenen Aufgaben "glaubwürdig zu erfüllen".

Bereits im Vorfeld der Übernahme hatte Ungarn sein provokatives Motto für den Vorsitz präsentiert: MEGA für "Make Europe Great Again" – eine Anspielung an den Wahlkampfspruch "Make America Great Again" von Donald Trump. Paul Schmidt sieht darin eine Liebeserklärung an den erneuten US-Präsidentschaftskandidaten: "Das Motto ist eine bewusste Provokation für viele, aus Orbáns Sicht, linke, progressive Kräfte in Europa."

Akzente durch Ratsvorsitz

Eine formulierte Priorität für den ungarischen Vorsitz ist beispielsweise die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Hier rechnet Schmidt mit einem Fokus auf die digitale Transformation. Womit die generelle Linie der Präsidentschaft wohl weitreichend erklärt werden kann: Die festgeschriebenen Themen aus dem gemeinsamen Dreiervorsitz mit Spanien und Belgien werden weitergeführt, nur mit anderen Akzenten.

So geht Schmidt davon aus, dass eine grüne Wettbewerbsfähigkeit nicht im Fokus des ungarischen Ratsvorsitzes sein wird. Kai-Olaf Lang erwartet, dass der Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi auch für Ungarn anschlussfähig ist und daher dessen Handlungsempfehlungen im Fokus stehen dürften.

Darüber hinaus ist für Ungarn die EU-Erweiterung ein wichtiges Thema. Allerdings steht aus ungarischer Sicht nicht der Beitritt der Ukraine im Fokus, sondern die Erweiterung des Westbalkans. Außerdem soll ein Fokus auf das Dauerthema Asyl gelegt werden. Hier sieht Lang aber keinen ausufernden Konflikt: "Strengerer Schutz der Außengrenzen, Kooperation mit Drittländern, das ist ja jetzt en vogue."

Ähnlich verhält es sich beim Thema Verteidigung. Generell möchte Orbán Europa verteidigungspolitisch stärker aufstellen. Laut Lang ist es für Ungarn dabei allerdings wichtig, dass dies nicht durch einen neuen Rüstungstopf mit frischen Schulden finanziert wird.

Der Generalsekretär der ÖGfE, Paul Schmidt, rät zur Gelassenheit im Umgang mit dem ungarischen Ratsvorsitz. Es sei ein Glücksfall, dass Ungarn zum jetzigen Zeitpunkt an der Reihe ist. Durch die Europawahl ist die Europäische Union aktuell in einer Umstrukturierungsphase. Daher sind bis zum Ende des ungarischen Ratsvorsitzes am Jahresende wenig bis keine schwerwiegenden Legislativvorschläge zu erwarten.

Der Ton macht die Musik

Auch Kai-Olaf Lang sieht das ähnlich. Er merkt außerdem an: "Ungarn will zeigen, dass man diese Ratspräsidentschaft trotz der Vorabkritik einigermaßen professionell über die Bühne kriegen kann."

Also viel Tamtam um nichts? Es ist wohl davon auszugehen, dass die Rhetorik stärker ist als das politische Ergebnis. Allerdings: Der Ton macht die Musik. Im Fall der ungarischen Ratspräsidentschaft sieht der Politikwissenschaftler Sebastian Heidebrecht vom Centre for European Integration Research der Universität Wien Probleme: "Es spielt schon eine Rolle, wie man rhetorisch auftritt, insbesondere mit Blick auf Minderheiten. Ich denke, dass Worte auch reale Konsequenzen haben."

In der Liebeserklärung an Donald Trump sieht Paul Schmidt von der ÖGfE auch eine klare Strategie in Richtung Zukunft: "Orbán sieht seine große Chance in der erneuten Präsidentschaft von Donald Trump. Damit könnte sein Einfluss wieder wachsen und seine Rolle innerhalb der EU wieder wichtiger werden. Das ist für Orbán die große Exitstrategie."

Es ist wohl damit zu rechnen, dass der ungarische Ministerpräsident und seine Regierung weiterhin aggressiv gegen die EU wettern werden – ohne aber den Bogen komplett zu überspannen. Isoliert ist er auf EU-Ebene ohnehin schon. Daher wird er wohl seinen bisherigen Kurs weiterfahren: gegen Brüssel und die EU-Institutionen schimpfen, Entscheidungen gegebenenfalls hinauszögern, nur um am Ende doch einzulenken – wenn die Staatskasse wieder aufgepäppelt werden muss.

So populistisch und aggressiv wie Orbán rhetorisch auftritt, am Ende geht es für ihn nicht ohne die EU. "Herr Orbán befindet sich aktuell in einem Spagat", stellt Kai-Olaf Lang fest. Oder wie Orbán es selbst im Rahmen des EU-Wahlkampfes treffend formulierte: "Down with Brussels. Long live Europe."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 27+28/2024 erschienen.

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