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Nehammer habe ihm zuvor berichtet, so Van der Bellen, dass "die Stimmen innerhalb der ÖVP, die eine Zusammenarbeit mit Kickl ausschließen, leiser geworden sind". Damit habe sich ein neuer Weg aufgetan, betonte Van der Bellen, der in seiner Rede nicht ausgeschlossen hat, Kickl den Regierungsbildungsauftrag zu erteilen. Er habe Kickl angerufen und ihn zu einem Gespräch geladen, so das Staatsoberhaupt, das damit eine Tür für eine etwaige blau-schwarze Zusammenarbeit aufgemacht hat.
Kickl selbst hielt sich vor dem morgigen Termin mit dem Staatsoberhaupt bedeckt. Er werde morgen Van der Bellen zu einem persönlichen Gespräch treffen, so Kickl via X, eine mediale Stellungnahme über sein Posting hinaus werde es nicht geben. Manches scheine nun klarer zu sein, "manches liegt noch im Ungewissen", formulierte Kickl, der gleichzeitig festhielt, dass sich die freiheitliche Skepsis am "Versuch des experimentellen Regierens in Form einer Austro-Ampel" bestätigt habe. "Uns trifft keine Verantwortung für verlorene Zeit, für chaotische Zustände und den enormen Vertrauensschaden, der entstanden ist", so der FPÖ-Chef.
Ob es nach diesem Treffen, sofern es gut verläuft, einen Regierungsbildungsauftrag für die FPÖ geben werde, wollte Van der Bellen nach seinem Statement auf Nachfrage nicht beantworten. Mit den Worten "wenn, wenn, wenn" verabschiedete er sich wieder hinter die Tapetentür, durch die er knapp zehn Minuten zuvor gekommen war.
Seine Entscheidung, Kickl als Parteichef der stimmenstärksten Partei nicht von Anfang an mit dem Regierungsbildungsauftrag zu betrauen, verteidigte Van der Bellen. Sowohl Karl Nehammer als auch SPÖ-Chef Andreas Babler hätten ihm versichert, nicht mit Kickl koalieren zu wollen. Er habe dem Land "leere Kilometer" ersparen wollen. "Seit gestern hat sich die Situation verändert".
Auch Stocker - bisher eigentlich ein leidenschaftlicher Kritiker Kickls - sprach in einer Pressekonferenz nach seiner Wahl zum interimistischen Parteichef von einer neuen Situation. Die ÖVP würde ein allfälliges Gesprächsangebot der FPÖ zu Koalitionsverhandlungen annehmen.
Nehammer habe Van der Bellen seinen angekündigten Rückzug als Kanzler in einem persönlichen Gespräch versichert, und auch, dass der Übergang in aller Ruhe stattfinden werde. Van der Bellen werde "im Laufe der kommenden Woche" einen interimistischen Nachfolger ernennen.
Er werde auch in Zukunft "nach bestem Wissen und Gewissen" darauf achten, dass die Grundpfeiler unserer Demokratie - er nannte den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, freie, unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft - weiter hochgehalten würden, betonte das Staatsoberhaupt.
Über das Scheitern der Verhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS zeigte sich der Bundespräsident überrascht. "Lange wurde der Eindruck vermittelt, als gäbe es eine gute Basis. Selbst nach dem Ausstieg der NEOS wurde mir vermittelt, dass eine Einigung möglich sei". Für viele sei das Scheitern nun "eine große Enttäuschung", und "wie Sie alle wissen, das war nicht mein Wunsch".
Einmal mehr war Van der Bellen bemüht, in einer schwierigen Situation Ruhe auszustrahlen: "Wenn ich etwas gelernt habe in meiner Zeit als Bundespräsident der Republik Österreich, ist es, dass es wirklich immer neue Situationen gibt." "Nicht versäumen" wollte er es an dieser Stelle, Nehammer für seine Dienste für die Republik zu danken: "Es waren nun wirklich keine einfachen Zeiten".
Grünen-Chef Werner Kogler reagierte auf die sich abzeichnenden Koalitionsverhandlungen von FPÖ und ÖVP empört. "Die aktuellen politischen Entwicklungen in Österreich sind eine Abfolge unfassbarer Unverantwortlichkeiten", meinte er in einer Aussendung: "Im Ergebnis läuft es auf eine gigantische Wähler:innentäuschung hinaus. Die gleiche ÖVP, die Herbert Kickl zu Recht als Sicherheitsrisiko bezeichnet hat und unbedingt als Kanzler verhindern wollte, ist nun bereit, zum eigenen Machterhalt den Steigbügelhalter für Kanzler Kickl zu geben." Auch SPÖ und NEOS, die mit der ÖVP erfolglos eine Dreierkoalition verhandelt hatten, machte er für "diese Farce" mitverantwortlich.
Zuvor hatte SPÖ-Chef Andreas Babler die Schuld fürs Scheitern bei ÖVP und NEOS verortet. Das wiederum ließen die NEOS nicht gelten. Sie sprachen von einer bewussten Blockadehaltung Bablers.
Die sich abzeichnende blau-schwarze Koalition ruft indes die Zivilgesellschaft auf den Plan. Volkshilfe, Greenpeace und SOS Mitmensch luden per Aussendung für kommenden Donnerstagabend zu einem "lautstarken Protest" vor dem Bundeskanzleramt auf. "Unsere Republik steht am Scheideweg. Es droht ein rechtsextremer Bundeskanzler und mit ihm ein Angriff auf Demokratie, Menschenrechte, Justiz, unabhängige Medien und den sozialen Zusammenhalt in unserem Land", hieß es in der Demo-Einladung.