Demokraten und Republikaner liefern sich vor der US-Wahl ein spannendes Rennen. Für den Sieg ist eine Mehrheit im Electoral College nötig, nicht die Mehrheit der Gesamtstimmen. Wie dieses System funktioniert und warum die Swing States alles entscheiden
Wird Kamala Harris nächste US-Präsidentin? Schafft es Donald Trump wieder ins Weiße Haus? Vor der Wahl am 5. November ist nur eines fix, nämlich dass nichts fix ist. Meinungsumfragen zeigen ein äußerst spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen.
Wenige Stimmen entscheiden darüber, wer sich am Wahlabend als Siegerin oder als Sieger feiern lassen darf. Und alle Blicke richten sich auf die Swing States, jene Staaten, in denen sowohl Demokraten als auch Republikaner Erfolgsaussichten haben. Denn das amerikanische Wahlsystem hat seine Besonderheiten.
Electoral College
Jeder Bundesstaat hat je nach Größe der Bevölkerung eine unterschiedliche Anzahl Wahlmänner und Wahlfrauen – das Electoral College (EC). Die Anzahl der EC-Stimmen eines Bundesstaates entspricht der Anzahl der Senatoren und Abgeordneten im Kongress.
Außer in Maine und Nebraska, wo die EC-Stimmen nach Ergebnis der beiden Parteien aufgeteilt werden, entscheidet in 48 Staaten die einfache Mehrheit. Hat zum Beispiel Kalifornien mit 55 EC-Stimmen 28 Demokraten und 27 Republikaner, stimmen alle 55 EC-Vertreter und -Vertreterinnen für den Kandidaten der Demokraten. Insgesamt sind es 538 EC-Stimmen. Erst mit einer Mehrheit von mindestens 270 Stimmen gilt der Präsident oder die Präsidentin als gewählt.
Nicht jede EC-Stimme repräsentiert die gleiche Anzahl Wählerinnen und Wähler. Je geringer die Bevölkerung eines Staates, desto weniger Stimmen sind für eine EC-Stimme notwendig. Das EC trifft im Jahr der Wahl am ersten Montag nach dem zweiten Mittwoch im Dezember zur Abstimmung zusammen – heuer am 17. Dezember. Am 20. Jänner 2025 wird der neue Präsident, die neue Präsidentin vereidigt.
In den meisten Bundesstaaten dominiert eine der beiden Parteien mit einer soliden Mehrheit. Die Farbe der Demokraten ist traditionell Blau, die der Republikaner Rot. Ein Blick auf die Karte der USA zeigt eine Konzentration von roten Staaten in der Mitte und im Süden des Landes und blaue Staaten an seinen Rändern.
Bei einigen wenigen Staaten liegen die Ergebnisse eng beisammen. Der Unterschied ist oft so gering, dass ein Ergebnis, und damit die Mehrheit der EC-Stimmen, kaum vorhersehbar ist – man bezeichnet sie als die Swing States.
Wahlentscheidend sind diesmal sieben Swing States, bei denen die letzten Umfragen keinen klaren Vorsprung für Trump oder Harris zeigten. 2020 lagen in Arizona, Georgia, Michigan, North Carolina, Pennsylvania, Nevada und Wisconsin die Differenzen der Ergebnisse unter drei Prozent. Entscheidend für den Wahlsieg von Biden 2020 waren die knappen Mehrheiten in Arizona, Nevada und Georgia.
Etwa 244 Millionen
Menschen sind wahlberechtigt. Aufgrund ihrer Stimmen entscheidet das Electoral College später zwischen Donald Trump und Kamala Harris
Mehrheiten
Fünfmal in der Geschichte der US-Präsidentenwahlen gewann ein Kandidat die Wahl mit der Mehrheit der EC-Stimmen, obwohl er insgesamt weniger Stimmen als sein Konkurrent oder seine Konkurrentin hatte.
1824 erreichte keiner der Kandidaten eine Mehrheit der EC-Stimmen. Damals entschied das Repräsentantenhaus – wie vorgesehen, wenn kein Kandidat die Mehrheit im Wahlausschuss erreicht. Es wählte John Quincy Adams, obwohl sein Konkurrent Andrew Jackson die relative Mehrheit der Wahlberechtigten hatte.
1876 fand eine der umstrittensten Wahlen statt, ein Zweikampf zwischen dem Republikaner Rutherford Hayes und dem Demokraten Samuel Tilden. Eine Wahlkommission aus Mitgliedern des Obersten Gerichts und Mitgliedern des Kongresses einigte sich auf Hayes als nächsten Präsidenten.
1888 hatte der Republikaner Benjamin Harrison nur 90.000 Stimmen weniger als der Demokrat Grover Cleveland. Doch mit 233 Stimmen des EC – Cleveland hatte 168 – wurde Harrison der nächste Präsident.
2000 erhielt George W. Bush in Florida 537 Stimmen mehr als der Demokrat Al Gore, erreichte dadurch die Unterstützung von 271 EC-Stimmen und gewann mit einer Stimme Mehrheit die Präsidentschaftswahlen. Gore hatte aber insgesamt 500.000 Stimmen mehr als Bush. 2016 bekam Hillary Clinton etwa drei Millionen Stimmen mehr als Donald Trump. Mit 304 EC-Stimmen wurde aber der Republikaner Trump der nächste Präsident der USA.
Umfragen
Die USA sind ein Land extremer Unterschiede bezüglich politischer Positionierung. Von stockkonservativ und streng religiös in ländlichen Gebieten und den südlichen Staaten bis zu einer eher liberalen und toleranten Gesellschaft in den Großstädten und Randstaaten der USA. Während in manchen Bundesstaaten über die Einführung von Abtreibungsverboten aus dem 19. Jahrhundert debattiert wird, sind andere in der Entwicklung moderner Techniken und künstlicher Intelligenz im internationalen Vergleich weit voraus. Kalifornien und New York sind mit den Bereichen Film, Musik, Theater und Unterhaltung führend auf dem kulturellen Sektor.
Trotz aller innenpolitischer Differenzen und Widersprüche zeigt die US-Ökonomie stabile Wachstumsraten, während die Wirtschaftsentwicklung in Asien und Europa stagniert. Kalifornien allein ist die fünftgrößte Wirtschaftsmacht noch vor Indien, Großbritannien und Frankreich.
Die Präsidentschaftswahl erregt international am meisten Aufsehen, doch im November wird auch ein neuer Kongress gewählt, und die Mehrheiten dort sind ebenfalls entscheidend. Alle 435 Sitze im Repräsentantenhaus werden neu gewählt, ebenso ein Drittel der 100 Senatssitze. Bislang haben die Republikaner im Repräsentantenhaus und die Demokraten im Senat die Mehrheit.
Vor drei Wochen führte Kamala Harris konstant mit 49 Prozent vor Donald Trump mit etwa 46 Prozent. Laut neuesten Umfragen hat Trump jedoch aufgeholt. Die großen TV-Stationen NBC und CBS zeigen beide Kandidaten bei etwa 48 Prozent und sind diesmal extrem vorsichtig mit Prognosen.
Der Journalist und Kommentator Harry Enten, der für CNN viele US-Wahlen analysierte, schrieb am 20. Oktober: „Selbst zwei Wochen vor der Entscheidung fühle ich mich weitaus unsicherer, eine Prognose abzugeben, als bei allen anderen Wahlen, die ich bisher kommentiert habe.“
Seit 175 Jahren
wird am Dienstag nach dem ersten Montag im November gewählt – nach der Ernte und bevor der Winter beginnt
Chicago: Symbol des Versagens der Demokraten
Obwohl die gesamte Wirtschaftsentwicklung der USA durchaus positiv ist, zeigen Bundesstaaten extrem unterschiedliche Entwicklungen, wie der Vergleich Texas – Illinois zeigt: Die Gold Coast im Zentrum von Chicago, entlang des Lake Michigan und rund um das noble Einkaufsviertel, ist eine beliebte Wohngegend der oberen Mittelklasse, die ein Apartment mit Schwimmbad am Dach und einen „Doorman“ an der Rezeption einem großzügigen Haus in einem der Vororte vorzieht. Neben den üblichen Luxusgeschäften gibt es gigantische Supermärkte mit einem breiten Angebot von Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst und anderen Lebensmitteln, alles bio und beste Qualität.
Vor den Geschäften warteten früher oft Obdachlose, und es gehörte zum guten Ton der „Upper Class“, ihre Großzügigkeit mit einem Sandwich oder ein paar Dollar zu zeigen. Seit einigen Monaten hat sich dieses Bild verändert. Vor den Supermärkten sitzen jetzt ganze Familien, Eltern, Kinder, oft noch Großeltern, auf Matten, prall gepackte Koffer und Taschen neben ihnen, manchmal einen kleinen Benzinkocher. Es sind Flüchtlinge aus Mittel- und Südamerika.
2,66 Millionen Menschen
lebten 2023 in Chicago. Die Bevölkerung ging gegenüber 2020 um drei Prozent zurück
Familien
Vor jedem Lebensmittelgeschäft warten sie auf Geld und Essbares, verbringen oft die Nächte dort. Die Bevölkerung hilft mit Spielsachen für die Kinder, warmen Decken, ganzen Taschen voll mit Lebensmitteln, bis ein Bus sie alle einsammelt und fortschafft. Am nächsten Tag sitzt dort eine andere Familie. Doch hinter der in den USA üblichen Bereitschaft zu helfen lauern Frust und Ärger über die große Anzahl der Flüchtlinge in der Stadt.
Chicago wird derzeit von illegalen Migranten überrannt, obwohl die Grenze zu Mexiko Hunderte Kilometer vom Bundesstaat Illinois entfernt ist. Die Flüchtlinge kommen in Bussen aus Florida und Texas, oft mehr als 100 Busse an einem Tag. Die Stadt hat Dutzende Hotels gemietet, Sporthallen mit Betten gefüllt, in Parkanlagen leben Familien in Zelten. Doch es reicht nicht, und es kommen täglich mehr.
Die Gouverneure von Texas und Florida, Greg Abbott und Ron DeSantis, beide Republikaner, haben ihre Ankündigungen umgesetzt, illegale Zuwanderer in die von Demokraten verwalteten Bundesstaaten umzusiedeln. Allein Texas hat bisher 37.000 Migranten nach New York gebracht, 31.000 nach Chicago und 12.000 nach Washington, D.C. Vor allem für Chicago, eine der meistverschuldeten Städte der USA, ist diese zusätzliche Belastung eine Katastrophe. 360 Millionen US-Dollar kosteten Verpflegung und Unterbringung der Migranten im Jahr 2023. Dieses Jahr wird es noch mehr werden.
12,5 Millionen Menschen
lebten 2023 in Illinois. Auch hier ist ein leichter Bevölkerungsrückgang zu beobachten
Umsiedeln
Abbott kündigte weitere Transporte an: „Wenn die Biden-Administration nicht fähig ist, die Grenze zu sichern, werden wir illegale Flüchtlinge aus Texas umsiedeln.“ Sein Projekt „Operation Lone Star“ plant, mehr als 100.000 Illegale von Texas in andere Bundesstaaten zu bringen, vor allem nach New York und Chicago. Beide Städte, so wie die Bundesstaaten Illinois und New York, sind Hochburgen der Demokraten.
Illegale Einwanderung und die Wirtschaftslage sind die wichtigsten Themen bis zu den Präsidentenwahlen. Republikaner trommeln derzeit den Unterschied der ökonomischen Situation zwischen Illinois und Texas, als Symbol der Verwaltung durch Demokraten und Republikaner.
„Es geht um die Wirtschaft, du Dummkopf“ – sagte einst Jim Carville, der Stratege im Wahlkampfteam von Bill Clinton. Er schaffte es 1992 mit einem einzigen Satz, die Beliebtheit des Konkurrenten George Bush in eine Niederlage bei der Präsidentenwahl zu drehen. Der Vergleich Illinois – Texas schafft keine guten Bedingungen für die Demokraten.
Die sieben Swing States
Die wichtigen sieben Swing States haben insgesamt mehr als 90 EC-Stimmen. In allen von ihnen können sich weder Trump noch Harris auf eine stabile Mehrheit verlassen
Verschuldung
Bleiben wir bei Chicago als Beispiel, seit fast 100 Jahren von Demokraten regiert. Die Stadt ist nicht nur in den top fünf der US-Städte bezüglich Verschuldung, sondern hält auch seit Jahren Spitzenplätze bei Kriminalität und Korruptionsverfahren gegen Vertreter der Stadtverwaltung. Zwischen 1976 und 2021 wurden 1.824 Beamte und Politiker wegen Bestechung und Unterschlagung verurteilt. Das sind etwas mehr als 40 pro Jahr, das bedeutet, dass in den letzten 50 Jahren fast jede Woche ein Vertreter der Stadt wegen Korruption verurteilt wurde.
Das dramatische Defizit versucht die Stadt mit Steuererhöhungen auszugleichen. Gleichzeitig muss auf der Ausgabenseite gespart werden. Schulen werden geschlossen, Subventionen für Universitäten, Kunst und Kultur reduziert. Der öffentliche Verkehr eingeschränkt. All das hat entsprechende Auswirkungen auf die Attraktivität als Wirtschaftsstandort. Seit sieben Jahren ziehen mehr Menschen weg, als neue Bewohner zuziehen. Unternehmen und Fachkräfte verlassen die Stadt.
Kriminalität
Etwa 300 Unternehmen haben Chicago 2023 verlassen. Die Gründe sind extrem hohe Steuern, katastrophaler Verkehr durch den Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln, Kriminalität und Korruption. In „The Loop“, dem Stadtteil, in dem die meisten Unternehmen ihre Büros haben, stehen ganze Hochhäuser leer. Der Bedarf an Offices ist in den letzten Jahren um 30 Prozent gesunken. Selbst in der wichtigsten Einkaufsstraße, der Michigan Avenue, stehen Geschäfte leer und neue Mieter werden gesucht.
Die Kriminalität, einst in den südlichen und westlichen Bezirken der Stadt konzentriert, hat das Zentrum längst erreicht und breitet sich überall aus. In der Straße, wo ich den Sommer verbringe, sah ich eines Morgens ein Beispiel der neuen „Taktik“ der Überfälle auf Geschäfte. In einer zerstörten Auslage stand ein Auto, halb auf dem Gehsteig, halb im Geschäft. Es war ein Laden mit teuren Schuhen und Handtaschen. Die Methode ist immer die gleiche. Zuerst stehlen die Diebe ein Auto und rasen damit während der Nacht direkt in die Auslage, räumen das Geschäft aus und verschwinden. Alles geschieht innerhalb von Minuten. Die Alarmanlage geht zwar los, die Polizei kommt, doch die gut organisierten Banden sind längst verschwunden.
Unternehmen klagen, dass ihre Mitarbeiter sich weigern, am Abend länger zu arbeiten, da der Weg nach Hause mit den öffentlichen Verkehrsmitteln immer gefährlicher werde. Autos werden an Kreuzungen mit Schusswaffen angehalten, der Lenker, die Lenkerin gezwungen, auszusteigen. Eine Finanzgesellschaft, die nach Miami übersiedelte, begründete diesen Entschluss damit, dass im Durchschnitt einmal pro Woche ein Kollege oder eine Kollegin auf dem Heimweg von der Arbeit überfallen worden sei.
Texas
Zur gleichen Zeit boomt die Wirtschaft in Texas. Mehr als 100 Unternehmen zogen in den letzten zwölf Monaten in den südlichen Bundesstaat, dessen wirtschaftliche Leistung mit 2,3 Billionen US-Dollar dem BIP von Italien gleicht. Es ist die achtgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, größer als Brasilien und Kanada.
Die Unternehmen Oracle, Apple, Tesla, Hewlett-Packard und Amazon haben ihre Büros nach Texas verlagert beziehungsweise gründen dort neue Produktionsstätten. In der Hitliste der Bundesstaaten mit „New Jobs“ steht Texas an erster Stelle mit 300.000 neuen Arbeitsplätzen im Zeitraum August 2023 bis August 2024. Die Steuern sind niedriger als in Illinois, sowohl die Mehrwertsteuer als auch die Steuer auf Immobilien. Die Energiekosten sind extrem niedrig, es gibt weder eine Körperschaftssteuer noch eine Einkommensteuer.
5,7 Prozent Wirtschaftswachstum erreichte Texas 2023. Illinois liegt bei 2,9 Prozent und damit an 45. Stelle von 50 Bundesstaaten. Das Wachstum stützt sich auch nicht auf die Entwicklung von Chicago. Der Großteil von Illinois ist Teil des sogenannten „Corn Belt“ mit weiten Gebieten landwirtschaftlicher Produktion, die von den Preiserhöhungen der Lebensmittel profitierte.
In den Top-Ten-Bundesstaaten für günstige Bedingungen für Start-ups liegt Texas an dritter Stelle, Illinois scheint nicht auf der Liste auf. Die TV-Station CNBC untersuchte die wichtigsten Städte der USA nach besten Bedingungen, ein Start-up zu gründen. An erster Stelle steht Austin, die Hauptstadt von Texas. Gründe sind die große Auswahl an Fachkräften durch Topuniversitäten, eine unterstützende Finanzstruktur mit niedrigen Steuern und einer großen Bereitschaft für Risiko.
Wahlkampf
Kamala Harris ist es in den letzten Wochen gelungen, die Sympathien vieler Wähler und Wählerinnen zu gewinnen, und auch die Unterstützung großer Teile der Medien. Der ursprüngliche Vorsprung von Trump ist auf wenige Prozente geschrumpft.
US-Präsident Joe Biden kann – trotz der Probleme mit illegalen Flüchtlingen – insgesamt eine solide Wirtschaftspolitik vorlegen. Die Arbeitslosigkeit ist gering, die Börse boomt, Industrie und Handel stellen mehr und mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein. Die Republikaner könnten versuchen, diesen Aufschwung mit dem alleinigen Erfolg der durch Republikaner regierten Bundesstaaten zu verbinden.
Entwicklung der Umfragen
Bevor Kamala Harris im Juli als demokratische Spitzenkandidatin fixiert wurde, lag Trump deutlich vorne. Am 10. Juli z. B. kam Trump laut Real Clear Politics auf 47, Biden auf 44 Prozent