Die FPÖ hat mit ihrem Spitzenkandidaten Herbert Kickl bei der Nationalratswahl rund 29 Prozent erreicht. Eine Regierungsbeteiligung oder gar ein Kanzler der FPÖ sind damit zumindest im Rahmen des Möglichen. Grund genug, sich ein politisches Vorbild Kickls näher anzusehen: Viktor Orbán
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Sonntagabend, 21.05 Uhr. Wahlparty FPÖ: Herbert Kickl kommt mit einem breiten Siegerlächeln in die „Stiegl-Ambulanz“ in Wien. Im Blitzlichtgewitter der Fotografinnen und Fotografen bedankt er sich bei seinen Unterstützern und Parteikollegen. Im Hintergrund FPÖ-Schilder mit „Danke“-Aufschrift. Dann skandiert die Menge noch ein „Herbert, Herbert“, gefolgt von etwas leiseren „Kanzler, Kanzler“-Rufen. Soweit so unspektakulär.
Die erste Hochrechnung um 17 Uhr hatten die anwesenden Blauen fast verpasst, weil sie sich falsch aufgestellt hatten –egal. Für das Livebild von ORF, Servus und OE24 wurde noch rechtzeitig gejubelt. Der eingetroffene Kickl jedenfalls hielt eine kurze Rede vor den Journalisten, ehe diese von dem wahrscheinlich feucht-fröhlichen weiteren Abend ausgeschlossen wurden: So präsentierte sich die FPÖ im Moment des Sieges aufgesetzt ruhig und aufgeräumt – fast schon langweilig. Es sollte das Bild einer möglichst staatstragenden Partei transportiert werden.
Vorbild Orbán
Unter „staatstragend“ versteht Kickl wohl das, was Viktor Orbán in Ungarn macht. Ihn bezeichnete der FPÖ-Chef bei einer Konferenz Anfang Mai des vergangenen Jahres als „Macher an der Spitze des Staates“. Auch in anderen Ländern Europas wird der ungarische Ministerpräsident von rechten Parteien nahezu angehimmelt.
Doch wie genau hat Viktor Orbán in 18 Jahren Amtszeit unser Nachbarland umgekrempelt und inwieweit könnte eine Regierung unter FPÖ-Führung zu einer Orbánisierung Österreichs führen?
Orbánismus in …
News hat mit dem ehemaligen ungarischen Abgeordneten und Wirtschaftswissenschafter Tamás Bauer darüber geredet, wie sich der Orbánismus in Ungarn manifestiert.
Wirtschaft
„Das Wesen der Regierung Orban im wirtschaftlichen Sinne ist der Aufbau einer regierungsnahen Unternehmerschicht“, so Bauer. Das bedeutet, dass die Wirtschaft sich mit der politischen Macht immer weiter verzahnt. Bauer nennt dieses Phänomen Klientelkapitalismus. Reiche Oligarchen und Oligarchinnen sind nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht allein in Russland entstanden, sondern auch in anderen ehemaligen sozialistischen Staaten wie beispielsweise Polen und Tschechien.
Unter Orbán konnten diese allerdings nicht unabhängig von der Regierung reich werden, sondern wurden durch Staatsaufträge und Konzessionen künstlich bereichert. Im Außenhandel versucht die Fidesz-Regierung, sich mit ihrer Wirtschaftspolitik an autoritäre Staaten wie beispielsweise China und Russland zu binden, um sich unabhängiger von der Europäischen Union zu machen. Ungarn profitiert als eines der größten Nettoempfängerländer der EU zwar von Zahlungen, diese machen die Regierung in Budapest aber auch abhängig von Brüssel.
Medien
Die freie Presse ist der FPÖ nicht erst unter Kickl ein Dorn im Auge. Praktisch in den Zeiten von Internet: Wenn einem die Nachrichten nicht passen, kann man einfach selber welche machen. Noch praktischer: Man kann behaupten, was man will, denn die Wahrheit ist im Internet zweitrangig. FPÖ TV ist ein perfektes Sprachrohr für die Kickl-FPÖ. In Österreich gibt es allerdings Alternativen. In Ungarn ist das anders.
„Die ungarische Presse, insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk, ist im Orbánismus von den machthabenden Personen abhängig und ist zum Sprachrohr der Fidesz geworden“, so Bauer. „Die größte Tageszeitung sowie regionale Medien wurden in Ungarn von parteinahen Unternehmen aufgekauft und teilweise eingestellt. Dem wichtigsten unabhängigen Radiosender wurde die Frequenz entzogen und DAB-Sendungen wurden eingestellt.“
Außerdem beherrscht die Regierung den überlebenswichtigen Anzeigenmarkt. Die Fidesz-nahe Presse wird gefördert, während andere Medienhäuser keine staatlichen Anzeigen erhalten. Somit beherrscht die Regierung Orbán die Offline-Presse, was in Ungarn mit einer De-facto-Hoheit über die Informationen in der Gesellschaft gleichzusetzen ist. Freien Zugang zu Onlineinformationen hat nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. „Der Umgang mit der ungarischen Presse zeigt, wie die Regierung Orbán ohne Verwendung von Gewalt eine Mehrheit der Bevölkerung von ihrer Politik überzeugt“, sagt Tamás Bauer.
Es klingt erschreckend vertraut. Zwar ist die Geschichte mit der im „Ibiza-Video“ publik gemachten angedachten Übernahme der wichtigsten Zeitung des Landes durch die FPÖ Schmäh von gestern, der Stiftungsrat des ORF kann aber noch immer aufgrund von Parteibüchern besetzt werden. Auch die wirtschaftliche Abhängigkeit einiger Medienhäuser von öffentlichen Inseraten und/oder Förderungen ist mindestens ein Grund zur Sorge.
Tamás Bauer über die Medienpolittik von Viktor Orbán:
Justiz
Schon während der ersten Regierung Orbán (1998–2002) gelang es der Fidesz, den Posten des Generalstaatsanwalts zu besetzen und damit die Staatsanwaltschaft auch während ihrer Jahre in der Opposition (2002–2010) zu kontrollieren. „Dadurch gelang es ihnen, Angriffe gegen die politischen Gegner zu führen und die eigenen Politiker in den meisten Fällen zu schützen“, so Tamás Bauer, „Sofort nach der erneuten Machtübernahme 2010 haben sie den Verfassungsgerichtshof paralysiert und durch die Ernennung Fidesz-treuer Verfassungsrichter vollständig übernommen.“ Etwas undurchsichtiger gestaltet sich die Situation bei den Gerichten. Die Fidesz habe zwar ebenfalls versucht, diese zu untergraben, allerdings konnten sich die ungarischen Richterinnen und Richter dagegen wehren und haben ihre Unabhängigkeit großteils bewahrt. Bauer zur aktuellen Situation der ungarischen Gerichte: „Der Oberste Gerichtshof wurde inzwischen von Fidesz durch die Ernennung eines neuen Präsidenten erobert, aber die anderen Gerichte blieben mehr oder weniger unabhängig und entscheiden häufig gegen die Regierung und sogar auch gegen Orbán selbst.“
Herbert Kickl hat als Innenminister gezeigt, dass er die Unabhängigkeit von Justiz und Medien infrage stellt. Eine von der FPÖ dominierte Regierung könnte versuchen, durch Postenbesetzungen den Einfluss auf die Gerichte zu vergrößern.
Steuersystem
Charakteristisch für den Orbánismus ist eine Steuerpolitik, die den Reichen zugute kommt und die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft.
Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass die ärmere Bevölkerung, die auf Unterstützung am meisten angewiesen ist, von den Familienförderungen de facto ausgeschlossen bleibt. Darüber hinaus wurde die Arbeitslosenbeihilfe auf drei Monate gekürzt, was in den meisten Fällen für arbeitsuchende Personen ein unrealistischer Zeitrahmen für eine Anstellung ist. Zudem wurde die progressive Einkommensteuer durch eine lineare ersetzt und die Erbschaftssteuer für Kinder, Ehepartner und Geschwister abgeschafft.
Auch die FPÖ setzt sich für geringere Steuerbelastungen von Wohlhabenden und für eine Kürzung von Sozialleistungen ein. Außerdem sollen Sozialhilfen nach Aussagen von Herbert Kickl und dem Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp im diesjährigen Sommer lediglich für österreichische Staatsbürger ausbezahlt werden. So ließe sich auch in Österreich das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich verstärken.
Minderheiten
Im Orbánismus spielt der Nationalismus eine große Rolle. Einerseits ist dieser laut Bauer im Staatsnationalismus manifestiert. Also die Vertretung nationaler Interessen innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Egal, ob EU, Vereinte Nationen oder NATO. Für die Orbán-Regierung gilt es, das Bestmögliche für das eigene Land herauszuholen. Zusätzlich gibt es den Ethnonationalismus der Fidesz-Regierung. Dieser manifestiert sich unter anderem dadurch, dass die ungarische Staatsbürgerschaft allen im Ausland lebenden Ungarinnen und Ungarn angeboten wird. So stärke Orbán auch die Erzählung der ethnischen Ungarn aus dem Karpatenbecken, meint Bauer.
Laut dem ehemaligen Abgeordneten waren die Vertretungen der ungarischen Minderheiten früher neutral. Nun seien sie völlig unter der Kontrolle der Fidesz-Partei. „Daher geraten deren Anliegen in der Politik ins Hintertreffen, insbesondere gilt das für Sinti und Roma.“ Schulen in der Muttersprache gibt es für diese Kinder in Ungarn, anders als beispielsweise in Rumänien oder Serbien, nicht. „Das führt dazu, dass Minderheiten in Ungarn inzwischen besser ungarisch sprechen als ihre Muttersprache“, so Bauer.
Die Regierung Orbán führt außerdem eine Kampagne gegen sexuelle Minderheiten und hat deren Rechte eingeschränkt. Auch Kickl hat in den vergangenen Jahren verlauten lassen, inwieweit er Minderheitenrechte – vorsichtig formuliert – beschneiden möchte und was er von LGBTQ-Communties hält.
„Volkskanzler“ des „Kicklreichs“
Mit dem Sieg der FPÖ könnte Kickl (theoretisch) der erste blaue Kanzler werden – ein Novum für die Zweite Republik. Schwarzmalerei ist dennoch nicht angebracht, denn der österreichische Rechtsstaat ist wehrhaft. Auch ist Österreich im Gegensatz zu Ungarn stärker in die EU integriert und orientiert sich (zumindest noch) klar an den westlichen Partnern. Auch Bauer urteilt: „Die Möglichkeiten in Österreich sind deutlich eingeschränkter als in Ungarn, aber die Gefahr ist groß.“ Hinzu kommt, dass eine Machtergreifung der FPÖ mit einem „Volkskanzler“ Kickl zurzeit wenig realistisch ist. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Fünf weitere Jahre in der Opposition könnten Wasser auf die Mühlen der FPÖ sein. Auch hat Kickl schon am Wahlabend klar gemacht, wie sehr eine Verhinderung des Kanzleramts für die FPÖ sein kommendes Narrativ werden könnte. Der klare Wahlsieg am vergangenen Sonntag hat ihn darin nur weiter bestärkt.
In einem Aspekt kann man aber wohl von einer noch stärkeren Orientierung Kickls am ungarischen Vorbild ausgehen – egal, ob Regierung oder Opposition –, der Migrationspolitik. Als jahrelanges Hauptthema der FPÖ wäre alles andere eine Überraschung. Es ist ein erster Schritt in Richtung Orbánistan.