Der Wiener Bürgermeister und Landeshauptmann Michael Ludwig zu Themen, die Menschen in Wien bewegen: Wie sicher ist die Stadt noch? Provoziert Wien mit hohen Sozialleistungen Zuwanderung nach Österreich? Und wie soll man in einer Stadt noch leben können, die im Sommer immer heißer wird?
Ich würde gerne mit Ihnen über zwei Themen sprechen, von denen ich glaube, dass sie für die Stadt wichtig sind oder wichtig werden. Vorher aber: Was ist ein Thema, von dem Sie glauben, dass es in Zukunft für Wien eine besondere Herausforderung darstellt?
Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, den sehr guten Wirtschaftsstandort Wien weiterzuentwickeln und an neue Gegebenheiten anzupassen. Die demografische Entwicklung ist eine sehr große Herausforderung, aber auch technologische Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz und die Weiterentwicklung des Arbeitsmarktes. Wir haben derzeit in Wien einen Beschäftigungsrekord mit rund 930.000 Beschäftigten. Ich sehe aber mit großer Sorge, dass österreichweit die Arbeitslosigkeit steigt. In Wien geringer als im Österreich-Schnitt, aber trotzdem. Und deshalb kann ich nur sagen, dass wir um jeden Arbeitsplatz kämpfen werden. Und ich fordere, dass die Bundesregierung die Mittel und Ressourcen für das AMS aufstocken sollte. Und nicht reduziert, wie ich gerüchteweise gehört habe.
Ein Thema, das viele Wienerinnen und Wiener derzeit beschäftigt, ist das Zusammenleben in der Stadt. Es hat über den Sommer mehrere Gewalttaten gegeben. Ist Wien noch sicher?
Ja. Wien ist eine der sichersten Metropolen weltweit. Das zeigen auch sämtliche Statistiken. Trotzdem ist jedem Einzelfall auch entsprechend zu begegnen. Und es muss deutlich gemacht werden, dass Gewalt keinen Platz hat in unserer Stadt. Und zwar unabhängig davon, wer diese Gewalt ausübt. Wir tolerieren Gewalt in keiner Form.
Trotzdem meiden viele Menschen mittlerweile gewisse Hotspots wie zum Beispiel Bahnhöfe. Was tun Sie konkret, um Ihnen das Sicherheitsgefühl zurückzugeben?
Ich höre in vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern, dass es solche Gebiete gibt, wo das subjektive Sicherheitsgefühl beeinträchtigt ist. Daher habe ich als Bürgermeister bereits starke Schritte gesetzt und schon 2018 ein Alkoholverbot am Praterstern eingeführt. Seit 2019 gibt es dort auch ein Waffenverbot und ich trete seitdem für ein generelles Waffenverbot in der gesamten Stadt ein. Das schlagen mittlerweile auch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus anderen Gemeinden vor. Denn es ist ja nicht einzusehen, warum irgendwer mit Schusswaffe oder Machete in einer Stadt unterwegs sein muss. Daher fordere ich die Bundesregierung und den Bundesgesetzgeber auf, hier die entsprechenden Veranlassungen zu treffen.
Sie fordern auch, dass die Polizei in Wien aufgestockt wird. Schieben Sie damit die Verantwortung für die Probleme in Wien auf den Bund ab?
Ich schiebe überhaupt keine Verantwortung ab. Die Polizei ist eine Einrichtung des Bundes. Die Bevölkerung Wiens ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewachsen, wir haben aber nicht mehr Polizistinnen und Polizisten für den aktiven Dienst, sondern weniger. Und das ist kein Zustand, den wir akzeptieren wollen. Allein der Bezirk Favoriten hat so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie die Stadt Linz, aber nur halb so viele Polizisten. Und ich fordere ja nicht nur, sondern bin auch bereit, die Polizei zu unterstützen. Wir haben viele Bereiche, die früher von der Polizei betreut wurden, übernommen, zum Beispiel Pass- und Meldewesen. Wir haben gemeinsam mit dem Verein Freunde der Wiener Polizei ein eigenes Recruiting-Center eröffnet. Wir haben einen eigenen Bus durch die Bezirke geschickt, um Frauen und Männer für den Polizeidienst zu interessieren. Aber: Es muss dann auch sichtbare Ergebnisse geben. Und wir werden von Jahr zu Jahr vertröstet.
Auch beim Thema Sozialhilfe wird Ihnen vorgeworfen, die Verantwortung an den Bund zu spielen. In den letzten Wochen wurde heftig über die Höhe der Zahlungen an eine syrische Familie in Wien diskutiert. Sie haben einen relativ komplexen Reformvorschlag gemacht, der u. a. das AMS involviert. Warum werden Sie nicht einfach selbst tätig und senken etwa die Beträge bei mehreren Kindern ab, wie es andere Bundesländer tun?
Dieser Vorwurf ist besonders unrichtig. Wien schiebt hier keine Verantwortung ab, ganz im Gegenteil: Wir lösen Herausforderungen, die der Bund abschiebt. Denn für alles, was Asyl, Zuwanderung und Migration betrifft, ist der Bund zuständig. Dass wir die Asylquote mit 190 Prozent übererfüllen, hängt ja nicht damit zusammen, dass wir aufzeigen und sagen, bitte, wir hätten gern noch mehr Herausforderungen, sondern damit, dass der Bund nicht in der Lage ist, den eigenen Verantwortungsbereich wahrzunehmen, nämlich eine gerechte und den Vereinbarungen entsprechende Verteilung innerhalb Österreichs vorzunehmen.
ÖVP und FPÖ argumentieren, Sie seien selber schuld, weil Sie durch hohe Sozialleistungen die Menschen überhaupt erst nach Österreich locken.
Das ist völlig unrichtig. Wir haben in Wien überhaupt keine Möglichkeit, zu beeinflussen, wie viele und welche Menschen nach Österreich kommen. Nicht einmal, wenn wir wollten, könnten wir das. Ich will nur daran erinnern, dass wir damals, als die Kinder im Morast von Moria von Ratten gebissen wurden, angeboten haben, 100 Kinder zumindest zeitlich befristet aufzunehmen. Die schwarz-grüne Bundesregierung hat das verhindert. Wir sind das einzige Bundesland ohne Außengrenze. Wir sind in dieser Sache Co-Pilot und nehmen staunend zur Kenntnis, dass es einen Wettbewerb zwischen politischen Parteien gibt, wer mehr Zuwanderung verhindern möchte. Aber wir haben null Einfluss.
Michael Ludwig, 63
Der Wiener Bürgermeister und Landeshauptmann ist seit 2018 im Amt. Seine politische Karriere startete er als Bezirksrat in seinem Heimatbezirk Floridsdorf, 1999 wechselte er in den Wiener Landtag und Gemeinderat, von 2007 bis 2018 war Ludwig amtsführender Stadtrat für Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung. Nächstes Jahr, im Herbst 2025, finden in Wien die nächsten Landtags- und Gemeinderatswahlen statt. Bei der Wahl 2020 kam die Wiener SPÖ auf 41,62 Prozent und regiert seither in einer Koalition mit den Neos.
Beeinflussen die Wiener Sozialleistungen die Verteilung innerhalb von Österreich?
Darüber könnte man reden. Aber wenn man sich den Durchschnitt der Sozialleistungen in Österreich im Vergleich der Bundesländer anschaut, sieht man, dass für einen Haushalt im Österreichschnitt 743 Euro vorgesehen sind und in Wien 748. Der Unterschied beträgt fünf Euro. Das heißt, in fünf Bundesländern wird im Schnitt pro Haushalt leicht weniger ausgegeben, in drei Bundesländern mehr. Wien liegt also ziemlich im Mittelfeld aller Bundesländer. Dort, wo wir uns unterscheiden, ist, dass wir pro Kind gleich viel Unterstützung vorsehen, weil uns jedes Kind gleich viel wert ist.
Man kann ja durchaus argumentieren, dass die Kosten pro Kind sinken, wenn mehrere davon da sind. Warum passen Sie das nicht an?
Wir haben uns in Wien ganz besonders vorgenommen, Maßnahmen gegen Kinderarmut zu setzen. Man sieht gerade jetzt bei Schulbeginn, was es kostet, ein Kind auf die Schule vorzubereiten. Deshalb habe ich nicht nur den Vorschlag gemacht, die Sozialhilfe künftig über das AMS abzuwickeln, damit der Druck steigt, in den Arbeitsprozess einzusteigen, sondern auch eine Kindergrundsicherung einzuführen, die sicherstellen soll, dass kein Kind in Armut aufwachsen muss. Ich habe vorhin die demografische Entwicklung angesprochen: Wir werden in den nächsten Jahren große Probleme am Arbeitsmarkt bekommen. Deshalb ist es entscheidend, sich intensiv damit zu befassen, wie viele Menschen mit den richtigen Qualifikationen und Fähigkeiten erforderlich sind, um die zukünftigen Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen.
In Innsbruck würde eine syrische Familie ähnlich viel bekommen wie in Wien. Warum wird darüber nicht diskutiert?
Das überrascht mich gar nicht. An Wien reibt man sich besonders gerne. Und es wird kein Zufall sein, dass das ausgerechnet in jenen Bundesländern eine besondere Rolle spielt, wo nicht nur Nationalrats-, sondern auch bald Landtagswahlen stattfinden. Soll sein, das sind wir gewohnt. Wir sind sehr selbstbewusst in diesen politischen Diskussionen. Wir sind erfreulicherweise in drei internationalen Rankings gleichzeitig wieder zur lebenswertesten Stadt gewählt worden. Wir sind überzeugt, dass wir der Wirtschaftsmotor Österreichs sind. Sehr viele Menschen aus den anderen Bundesländern kommen zu uns nach Wien, um hier zu studieren, zu arbeiten und zu leben.
Außer jene, die Angst vor No-go-Areas haben. Vielleicht müssen wir noch kurz über den Zusammenhang zwischen der Gewalt der letzten Wochen und Zuwanderung sprechen. Hat es in Wien Integrationsversäumnisse gegeben?
Wenn man in den letzten Jahrzehnten Hunderttausende Menschen integriert hat, geht das mit vielen Herausforderungen einher. Etwa die Hälfte aller Menschen, die am Arbeitsmarkt in Wien tätig sind, haben Migrationshintergrund. Das gilt übrigens auch für andere Teile Österreichs. Was ich interessant finde: Es gibt einen einzigen Bereich im gesamten gesellschaftlichen und medialen Diskurs, wo Migrationshintergrund eine Rolle spielt, und zwar bei Delikten. Wenn Sie einen Artikel über einen Arzt, eine Architektin oder eine Pflegerin schreiben, erwähnen Sie nicht, dass es einen Migrationshintergrund gibt. Aber wenn jemand etwas angestellt hat, kann er noch so lange österreichischer Staatsbürger sein, die Herkunft seiner Großeltern ist immer ein Thema.
Neben der Forderung nach mehr Polizei und einem generellen Waffenverbot in der gesamten Stadt wären auch mehr Integrationsmaßnahmen notwendig, um das Problem zu lösen?
Was glauben Sie, was wir als Stadt Wien seit Jahrzehnten machen? Ich war in meinem früheren Berufsleben in der Erwachsenenbildung tätig. Wir waren als Volkshochschulen eine der ersten Bildungsorganisationen überhaupt, die sich Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre mit Sprach- und Integrationskursen beschäftigt haben. Von Menschen, die beispielsweise nach den Balkankriegen zu uns nach Österreich gekommen sind. Das war damals eine Riesenherausforderung. Und es haben damals dieselben Parteien gegen Zuwanderinnen und Zuwanderer mobilisiert, die es heute auch tun. Im Unterschied zu jenen, die sich an den Herausforderungen abarbeiten, aber nichts zur Lösung beitragen, haben wir uns den Herausforderungen immer gestellt. Wir setzen Maßnahmen. Manchmal gelingt es nicht. Ja, richtig, da muss man nachschärfen. Aber in Zehntausenden Fällen hat es sehr gut funktioniert.
Zum zweiten angekündigten Thema. Wien hat einen extrem heißen Sommer erlebt, Modellen zufolge wird die Temperatur in der Stadt durch den Klimawandel um mehrere Grade ansteigen, mit der Wahrscheinlichkeit extremer Hitzewellen zwischen Mai und September. Wie, Herr Bürgermeister, kann man die berühmte Wiener Lebensqualität auch in dieser Hinsicht beibehalten?
Ich glaube, es sind zwei Dinge, die man sehen muss. Und in beiden Bereichen ist Wien sehr vorbildhaft unterwegs. Das eine ist, dass wir Maßnahmen gegen den Klimawandel setzen, das zweite, wie man mit den Auswirkungen umgeht. Wir haben schon seit vielen Jahrzehnten ein Klimaschutzprogramm, an dem wir konsequent arbeiten und das auch dazu führt, dass die CO2 -Emissionen pro Kopf in Wien halb so hoch sind wie im Österreichschnitt. Wir bauen öffentliche Verkehrsmittel aus. Wir haben die thermische, energetische Wohnhaussanierung seit über 20 Jahren verpflichtend im geförderten Wohnbau. Wir haben die größte Passivhaussiedlung Europas errichtet. Es ist uns gelungen, den Anteil an Grünraum zu erhöhen. Es kommen laufend internationale Delegationen zu uns nach Wien, um sich anzuschauen, wie das funktioniert. Von daher war ich auch sehr dafür, dass man dem Renaturierungsgesetz auf Ebene der Europäischen Union zustimmt.
Ich will das alles gar nicht schlechtreden, aber die Herausforderungen dürften enorm werden. Stadtklimaforscher raten zum Beispiel dazu, das Fernkältenetz auszubauen und bei der Stadtplanung darauf zu achten, dass man Kaltluftschneisen nicht verbaut. Ist das vorgesehen?
Frischluftschneisen bei der Stadtplanung sind für uns ein wichtiger Aspekt. Aber das sollen uns bitte nicht die Grünen erzählen, die das Ressort Stadtplanung und Verkehrswesen zehn Jahre lang innehatten. Auch bei der Fernkälte sind wir dran. Sie befinden sich gerade in einem Raum, der mit Fernkälte gekühlt wird. In Neubauten ist der Einbau natürlich leichter, aber es passiert auch bei historischen Gebäuden.
Autos in der Stadt sind ein Problem. Sie heizen sich auf und geben die Hitze dann ab, sie verbrauchen außerdem Platz, der für andere Maßnahmen gebraucht wird. Selbst wenn es nicht populär ist: Müssen Autos raus aus der Stadt?
Ja, wir tun das auch. Unsere erste Fußgängerzone haben wir vor 50 Jahren errichtet, die Kärntner Straße, gegen heftigsten Widerstand. Auch in anderen Teilen der Stadt war die Errichtung verkehrsberuhigter Zonen mit heftigen politischen Kontroversen verbunden. Wir haben aber die Verantwortung übernommen, auch unpopuläre Schritte zu setzen. Ich kenne, ehrlich gesagt, nicht viele Städte, die stärker verkehrsberuhigte Zonen haben als Wien.
Die Erhitzung der Städte ist nicht zuletzt ein großes soziales Problem. Wer es sich leisten kann, baut eine Klimaanlage ein oder zieht über den Sommer in ein Wochenendhaus. Und die anderen?
Der erste Schritt muss immer sein, Maßnahmen zu setzen, um den Klimawandel zu stoppen. Bei den Auswirkungen muss man diesen sozialen Aspekt sehr stark bedenken. Das ist auch der Grund, warum wir in diesem Sommer zusätzliche Coolingzonen eingerichtet haben, für Menschen, die keine Möglichkeit haben, sich in ihrem privaten Bereich abzukühlen werden. Und es gibt im ganzen Stadtgebiet verteilt Brunnen, bei denen sich Passanten jederzeit kostenfrei mit hochqualitativem Wasser versorgen können. Die Sozialdemokratie wird immer jene Partei sein, die gerade diesen sozialen Aspekt und die Verteilungsgerechtigkeit im Auge hat.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 34/2024 erschienen.