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Meron Mendel: "Rund 70 Prozent der Israelis sagen, dass sie den Rücktritt von Netanjahu sehen wollen"

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Aktualisiert
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16 min

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News hat mit dem israelisch-deutschen Pädagogen, Publizist und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, über die Lage in Israel gesprochen. Zusammen mit Politologin Saba-Nur Cheema schreibt Mendel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine monatliche Kolumne unter dem Titel "Muslimisch-Jüdisches Abendbrot". Daraus entstand das Buch "Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung", das am 5. September 2024 erscheint.

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Sehr geehrter Herr Mendel, wie hat es Benjamin Netanjahu geschafft, solange in Israel an der Macht zu sein?

Meron Mendel

Also der Netanjahu von Anfang der 2000er Jahre und der Netanjahu von heute ist nicht der Gleiche. Über die Jahre hat er sein Geschäftsmodell geändert. Was er aber schon immer gut konnte, war die Risse in der israelischen Gesellschaft dazu zu nutzen, Gruppen innerhalb der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen und dadurch Unterstützung zu gewinnen. Er hat zum Beispiel Juden aus arabischen Ländern gegen Juden aus europäischen Ländern ausgespielt. Auch den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hat er innenpolitisch genutzt, beispielsweise indem er gegen arabische oder palästinensische Menschen mit israelischem Pass gehetzt hat. Auch bei säkularen und religiösen Juden hat er auf Spaltung gesetzt. Jedes Mal, wenn er eine Gruppe gegen die andere aufbringt, nutzt er das, um seine Macht auszubauen.

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Also ist Netanjahu eher ein Machtpolitiker als ein Ideologe?

Meron Mendel

Ja, absolut.

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Wie kam es denn dann zur Koalition mit den Rechtsextremen wie dem nationalen Sicherheitsminister Ben-Gvir?

Meron Mendel

Das war keine Wunschkoalition von Netanjahu. Aufgrund einer Reihe an Gerichtsprozesse gegen ihn wegen Korruption war er radioaktiv für andere mögliche Koalitionspartner, zu denen er vielleicht sogar eine größere ideologische Schnittmenge hätte. Aufgrund der laufenden Prozesse blieb ihm eigentlich nicht viel anderes übrig, als mit den Rechtsradikalen zu koalieren. Für diese und die Ultraorthodoxen spielt das Thema Korruption keine Rolle.

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Netanjahu hat sich in der Vergangenheit immer wieder als "harter Hund" gegenüber palästinensischem Terror profiliert. Inwieweit sind die offensichtlichen Sicherheitslücken vom 7. Oktober für ihn ein Problem?

Meron Mendel

Sicherlich ist das für ihn ein strategisches Problem. Seine Umfragewerte sind seit dem 7. Oktober durchgehend schlecht bis sehr schlecht. Rund 70 Prozent der Israelis sagen konsequent, dass sie den Rücktritt von Netanjahu entweder sofort oder nach dem Krieg sehen wollen. Das hat natürlich auch sehr viel mit dem Versagen vom 7. Oktober zu tun. Sein Umgang damit ist, dass er versucht, der Armee und den Aufklärungsdiensten die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Außerdem versucht er, die Diskussion um seine Person zu verdrängen, indem der Krieg anhält. Solange dieser Krieg anhält, und er ist natürlich derjenige, der maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass der Krieg noch anhält, sollte man nicht über Verantwortung diskutieren.

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Also ist es eine klare Strategie, dass der Krieg weitergeht, damit Netanjahu weiter an der Macht bleibt?

Meron Mendel

Absolut. Das hat einerseits mit der Frage der Verantwortung und andererseits mit der Konstellation seiner Koalition zu tun. Wenn der Krieg zu Ende geht, werden die rechtsradikalen Parteien mit hoher Wahrscheinlichkeit die Regierung verlassen, was dann zu Neuwahlen führen würde. Wenn man dann an die aktuellen Umfragewerte von Netanjahu denkt, hat er überhaupt kein Interesse daran, dass bald eine Wahl stattfindet. Das heißt, dass Netanjahu ein klares Interesse hat, dass der Krieg weiter fortgeführt wird.

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Israelische Demonstrantinnen und Demonstranten werfen Netanjahu vor, dass er kein Interesse an einem Geisel-Deal hat. Wie schätzen Sie das ein?

Meron Mendel

Ich denke, dass Netanjahu natürlich gerne sehen würde, dass die Geiseln zurück sind. In seiner Prioritätenliste steht ein Deal mit der Hamas aber nicht ganz oben. Ein Waffenstillstand würde mit großer Wahrscheinlichkeit seine Koalition zerbrechen und damit auf absehbare Zeit für Neuwahl sorgen. Aus meiner Sicht ist das eine große Bedrohung für ihn.

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In den deutschsprachigen Medien bekommt man aktuell wenig von der Opposition in Israel mit. Wie positioniert sich diese aktuell?

Meron Mendel

Die Opposition ist vor allem gespalten. Ein Teil der Opposition, also die Partei von Benjamin Gantz, ist unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges der Koalition beigetreten. Sie hat später zwar die Koalition verlassen, aber der Schaden war schon angerichtet. Die aktuelle Lage der Opposition spiegelt auch das Bild innerhalb der Bevölkerung wider. Es gibt diejenigen, die trotz Krieg Netanjahu kritisieren. Auf der anderen Seite gibt es auch diejenigen, die meinen, solange sich Israel im Krieg befindet, sollte man sich mit Kritik zurückhalten. Wenn Krieg geführt wird, ist es generell schwierig, gegen die Regierung zu arbeiten. Wir sehen das auch auf der Straße. Es wird noch immer gegen die Regierung protestiert, aber nicht in dem Ausmaß, wie vor dem 7. Oktober.

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Sie haben in einem anderen Interview mal gesagt, dass Sie Anfang/Mitte der 90er Jahre eindeutig an einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geglaubt haben. Nach der Ermordung des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin wurde Benjamin Netanjahu erstmals Ministerpräsident. Wie viel hat das Nichtzustandekommen eines Friedens mit seiner Person zu tun?

Meron Mendel

Das hat in mehrerlei Hinsicht mit Netanjahu zu tun. Zum einen war er Oppositionsführer, während Rabin Ministerpräsident war. Damit ist er auch einer der Hauptverantwortlichen für die Hetze, die damals gegen Rabin stattgefunden hat. Diese hat letztlich dafür gesorgt, dass Rabin ermordet wurde. Einer von denjenigen, die damals auch sehr aktiv waren, war Itamar Ben-Gvir. Damals noch ein junger Mann, war er sehr bekannt für seine Hetze gegen Rabin. So hat er beispielsweise offen zu einem Mord an Rabin aufgerufen. Ich weiß nicht, ob es eine Strategie von Netanjahu war, aber nach und nach ist während seinen Amtszeiten der Friedensprozess komplett zum Stillstand gekommen. Außerdem hat Netanjahu in den vergangenen Jahren die Spaltung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung vorangetrieben. Er war derjenige, der dafür gesorgt hat, dass die Hamas weiterhin Geld von Katar bekommen hat. Sein Kalkül war, dass durch den Konflikt zwischen der Hamas und der palästinensischen Autonomiebehörde kein palästinensischer Staat entstehen kann. Insofern trägt er in mehrerlei Hinsicht die Verantwortung, dass ein Friedensprozess nicht zustande gekommen ist.

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Wie sieht denn die aktuelle innenpolitische Debatte in Israel bezüglich des Krieges aus?

Meron Mendel

Gut, das kommt immer drauf an mit wem man spricht. Insgesamt ist die israelische Bevölkerung sehr erschöpft. Man könnte denken, das würde dazu führen, dass der Widerstand zum Krieg größer wird. Es ist aber eher so, dass die Menschen sich darauf konzentrieren ihren Alltag zu bewältigen. Außerdem hat die Polizeigewalt in Israel zugenommen und deshalb haben viele Menschen Angst, offen gegen den Krieg zu protestieren. Demonstranten werden geschlagen, verhaftet und schikaniert. Es ist aktuell eine schwierige Zeit, um zu demonstrieren. Die Umfragen zeigen allerdings, dass es Unmut in der israelischen Bevölkerung gibt.

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Wie groß ist die Angst vor einem Flächenbrand in der Region innerhalb der israelischen Bevölkerung?

Meron Mendel

Die israelische Bevölkerung ist viel robuster als beispielsweise die in Europa. Sie sind es gewohnt, regelmäßig in Schutzbunker zu gehen oder dass die Zivilbevölkerung angegriffen wird. Das ist eine Normalität für Israelis. Natürlich, seit den beiden Tötungen im Libanon und Teheran ist die Situation nochmal angespannter als sonst. Man kann davon ausgehen, dass der Mossad Hanija in Teheran ermordet hat (Anm: Der Auslandschef der Hamas, Ismail Hanija, wurde im Iran getötet). Eine solche komplizierte Aktion im Iran durchzuführen, gibt den Israelis das Gefühl, handlungsfähig und militärisch stark zu sein. Es gibt natürlich die Sorge vor einem großen regionalen Krieg. Es stellt sich aber auch die Frage nach Alternativen. Seit neun Monaten wird Israel aus dem Norden von der Hisbollah angegriffen, die Huthis aus dem Jemen greifen immer wieder an und Teheran baut eine Drohkulisse auf. Viele Menschen in Israel fragen sich, unabhängig von der Position zur Palästinenserfrage, was das geopolitisch für Israel bedeutet. Ich höre immer wieder, es muss jetzt irgendwann eine Eskalation kommen, damit früher oder später wieder Ruhe einkehrt.

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Das Thema Westjordanland fällt aktuell in deutschsprachigen Medien etwas hinten runter. Wie gestaltet sich das in Israel?

Meron Mendel

Auch in Israel spielt das Westjordanland aktuell keine große Rolle. Das liegt daran, dass die großen Schlachtfelder sich woanders abspielen. Die Pulverfässer rund um die Situationen in Gaza und im Südlibanon liegen klar im Fokus. Im Westjordanland gibt es seit dem 7. Oktober beispielsweise kontinuierliche Siedlergewalt gegen Palästinenser, aber das hat strategisch aktuell keine Priorität.

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Israelische Minister sorgen immer wieder für Aufsehen mit wilden Aussagen. So hat beispielsweise der Finanzminister Bezalel Smotrich darüber gesprochen, dass ein Verhungern von zwei Millionen Palästinensern in Gaza moralisch vertretbar und gerechtfertigt sei. Wie kommen solche Aussagen in Israel an?

Meron Mendel

Gut, es gibt Menschen, die unterstützen solche Aussagen, und dann gibt es Menschen, die diese klar ablehnen. In extremen Situationen bekommen extreme Kräfte einen deutlichen Zulauf. Nach dem 7. Oktober haben extreme Rechte in Israel einen großen Zuspruch erhalten. Man muss solche Aussagen aber auch im politischen Kontext verstehen. Der Profiteur von den Rechten Zuwächsen ist aktuell der nationale Sicherheitsminister Itmar Ben-Gvir. Er ist zur Zeit äußerst populär. Smotrich, ebenfalls ein Rechtsextremist, verliert zum jetzigen Zeitpunkt in den Umfragen und hat Angst, nicht wiedergewählt zu werden. In diesem Konkurrenzverhältnis werden extremistische, menschenfeindliche Äußerungen häufiger, um bei einer potenziellen Wählerschaft zu punkten. Solche Äußerungen sorgen im Ausland berechtigterweise für Entsetzen. Die Israelis verstehen allerdings, dass solche Aussagen keine operative Bedeutung haben.

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Also ist das eher als innenpolitische Profilierung zu verstehen?

Meron Mendel

Genau. Solche schrecklichen Äußerungen sind politisches Kalkül.

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Mit der Einberufung der Ultraorthodoxen hat Netanjahu eine ehemalige rote Linie überschritten. Innerhalb der Bevölkerung gab es schon seit Jahren Unmut, dass diese nicht zum Militär müssen und gleichzeitig finanziell stark vom Staat gefördert werden. Zudem liegt der Anteil an der Gesamtbevölkerung aktuell bei rund 15 Prozent und soll in den nächsten Jahren nochmal deutlich steigen. Wie kam diese Entscheidung an?

Meron Mendel

Das ist vielleicht der einzige Punkt, wo sich große Teile der Bevölkerung einig sind. Gerade in Zeiten, wo viele Israelis unter ihrem Militärdienst zu leiden haben, ist der Unmut über das Privileg der Ultraorthodoxen groß. Für Netanjahu ist das natürlich ein sehr unbequemes Thema, weil die Ultraorthodoxen seine treuesten Koalitionspartner sind.

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Mich hat an der israelische Bevölkerung beeindruckt, dass Menschen, obwohl sie politisch konträre Meinungen haben, immer noch befreundet sein konnten beziehungsweise ein intaktes Familienleben hatten. Bei uns sorgen politisch konträre Meinungen auch des Öfteren zum Bruch mit Freunden oder Familienangehörigen. Ist dieser Austausch noch immer so oder hat sich das inzwischen verändert?

Meron Mendel

Wir sehen, wie in anderen Ländern auch, einen Aufstieg von Rechtspopulisten in Israel. Damit einher gehen auch parallele Realitäten. Man kann das ein bisschen vergleichen mit den Trumpisten in den USA. Ein ähnliches Phänomen erleben wir gerade auch in Israel. Inzwischen gibt es ein Art israelisches Fox News, Channel 14, die nur "die Wahrheit" von Netanjahu wiedergeben. Dadurch driften viele Menschen in Filterblasen ab, wo viele Verschwörungstheorien verbreitet werden. Es ist sehr schwierig mit diesen Menschen zu diskutieren, weil man nicht nur über den Umgang mit der Realität streitet, sondern überhaupt darüber, was die Realität ist. Sowas macht es auch extrem schwierig, mit solchen Leuten Freundschaften weiter zu pflegen.

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Vielen Dank für das Gespräch.

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 © Ali Ghandtschi
Politik Ausland

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