Aufkündigung der NATO-Sicherheitsdoktrin, Kuschelkurs mit Putin, Erpressung der Ukraine – die USA sind für Europa kein verlässlicher Partner mehr. Davon sind auch die neutralen Staaten Schweiz und Österreich betroffen. Doch für den Ernstfall sind beide Länder nur bedingt gerüstet. Von Christian Neuhold
Die gute Nachricht zuerst: Österreich und die Schweiz könnten sich gegen einen möglichen Angriff Russlands durchaus verteidigen. Die schlechte Nachricht: Das wird im Alleingang nicht besonders lange funktionieren. Die Neutralität ist dabei für beide Staaten kein Schutz. Michael Zinkanell, Direktor des AIES (Austria Institute für Europa- und Sicherheitspolitik): „Die Neutralität wird beide Länder in der neuen internationalen Sicherheitslage nicht mehr beschützen. Außerdem signalisiert Russland klar, dass es Österreich nicht als neutral wahrnimmt“.
Aufrüstung wird zur Überlebensfrage
Beide Länder haben spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine die umfangreichen Lücken in den eigenen militärischen Fähigkeiten erkannt. Die Ausgangsbasis ist dabei aber höchst unterschiedlich. Die Schweiz hat jahrelang mehr in Sicherheit und Verteidigung investiert als Österreich. Konkret gibt die Schweiz zwischen vier und knapp sechs Milliarden Euro jährlich für ihr Militär aus. In Österreich waren es viele Jahre nur um die zwei Milliarden Euro. Erst 2024 wurde das Verteidigungsbudget im Zuge des „Aufbauplans 2032+“ auf vier Milliarden Euro aufgestockt und einige seit längerer Zeit fällige Anschaffungen in die Wege geleitet, etwa der Kauf der Leonardo-Trainingsflugzeuge als Ersatz der 60 Jahre alten Saab 105-Maschinen oder die Aufstockung der gepanzerten Mannschaftsfahrzeuge.
Brigadier Roland Vartok, Generaldirektor für Verteidigungspolitik im Verteidigungsministerium: „In den letzten Jahren ist das Verteidigungsbudget sukzessive auf 1,5 Prozent des BIPs erhöht worden. Diese Höhe wird bis 2028 auch beibehalten. Das ist die Basis, mit der wir die Rückstände, die sich bei der Beschaffung modernen Geräts aufgestaut haben, halbwegs aufholen können.“ Und aufzuholen gibt es im Vergleich zur Schweiz so einiges. So besitzen die Eidgenossen 134 moderne Leopard-Kampfpanzer, 804 Radschützenpanzer Piranha, 243 M113-Schützenpanzer und 186 Schützenpanzer 2000. In Österreichs Kasernen sind hingegen 58 Leopard-Kampfpanzer, 112 Ulan-Schützenpanzer und 64 Pandur-Mannschaftstransporter einsatzbereit. In beiden Ländern handelt es sich bei den Beständen von gepanzerten Fahrzeugen um Größenordnungen, die in einem Konflikt wie dem Krieg Russlands gegen die Ukraine auch nur im Ansatz ausreichen.
Eurofighter in Sparversion
Noch deutlicher ist der Unterschied bei den Luftstreitkräften. Die Schweiz verfügt über 30 moderne F-18 Hornet-Kampfflugzeuge und 14 ältere F-5 Tiger-Jets. Österreich verteidigt seinen Luftraum derzeit mit 15 Eurofighter Typhoon in militärischer Sparausrüstung. Die Ende 2024 gekauften Leonardo-Übungsjets werden erst in den nächsten Jahren schrittweise ausgeliefert und in Dienst gestellt.
Enorm sind die Lücken beider Länder bei der Luftabwehr, vor allem gegen Angriffe mit Drohnen oder Raketen, wie sie derzeit die Basis der russischen Angriffe auf die Ukraine darstellen. „Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass diese Art der Angriffe gegen kritische Infrastruktur und die Zivilbevölkerung Teil zukünftiger Kriegsführung ist“, sagt Michael Zinkanell. Daher beteiligen sich beide Staaten trotz ihrer Neutralität am europäischen Luftverteidigungsprogramm Sky Shield, was für Brigadier Roland Vartok vor allem Kosten- und Zeitgründe hat: „Ohne die Teilnahme an Sky Shield und dem damit verbundenen gemeinsamen Einkauf der Komponenten wären die Kosten für die Anschaffungen für eine effektive Luftraumverteidigung für Österreich ungleich höher. Abgesehen davon, dass ein kleines Land wie Österreich wesentlich länger auf komplexe Systeme wie die Patriot-Raketenabwehr warten müsste.“


Hybride Kriegsführung
Illusionen über den Schutz der beiden Staaten durch deren Neutralität gibt man sich weder in der Schweiz noch in Österreich hin. Vartok: „Wir haben durch die hybride Kriegsführung im Ukrainekonflikt Sicherheitsbedrohungen, die auch heute schon einen neutralen Staat wie Österreich direkt bedrohen und die nur im Verbund mit anderen Staaten zu lösen sind.“ Gemeint sind vor allem Cyberattacken auf das europäische Stromnetz, die auch die Versorgung hierzulande gefährden können.
Sowohl die Schweiz als auch Österreich investieren daher einen erklecklichen Teil ihrer Verteidigungsbudgets in den Aufbau schlagkräftiger Cyber-Einheiten, die derartige Attacken auf die kritische Infrastruktur beider Länder abwehren können. Allein, es fehlt derzeit in beiden Ländern an entsprechend gut ausgebildetem Personal. Das heißt: Ausreichend finanzielle Mittel, um entsprechendes Personal zu gewinnen und zu behalten, sind gefragt. „Die Konkurrenz aus der Wirtschaft ist groß“, sagt Vartok
Zusatzausgaben unvermeidbar
1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungsausgaben reichen in Österreich gerade aus, um die größten Lücken in der Beschaffung zu füllen und den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten. Für die Anschaffung von Großgerät – etwa Nachfolger für die Eurofighter oder Patriot-Luftabwehrsysteme – wäre noch ein zusätzliches Sonderbudget notwendig. Vorgesehen ist das im „Aufbauplan 2032+“ des Bundesheeres. „Nur wenn dieser Plan umgesetzt wird, sind wir in der Lage, Österreich verteidigungsfähig zu machen und 2032 zumindest Raumschutzoperationen durchzuführen und beispielsweise die Transversalen durch unser Land wirksam zu schützen“, betont Vartok.
Neutralität vs. Verantwortung
Einen weiteren wichtigen Unterschied gibt es zwischen der Schweiz und Österreich in Sachen Einstellung zur Landesverteidigung. Während diese in der Schweiz von mehr als zwei Drittel der Bevölkerung befürwortet wird und 2024 insgesamt 147.000 Soldatinnen und Soldaten einsatzfähig waren, lag die Zahl der einsatzbereiten Kräfte in Österreich bei nur 64.000. Hinzu kommt, dass sich die Bevölkerung in Österreich dem Ernst der internationalen Sicherheitslage nur teilweise bewusst ist. Zinkanell: „Laut einer aktuellen Studie der Universität Innsbruck gehen zwar 70 Prozent der Österreicher davon aus, dass uns andere EU-Staaten verteidigen würden, nur 14 Prozent sind allerdings bereit, andere EU-Staaten im Angriffsfall zu verteidigen.“
Womit die Aufgabe der neuen Bundesregierung bei einer umfassenden Aufklärung der österreichischen Bevölkerung hinsichtlich der aktuellen Bedrohungslage in Europa mindestens so mühsam wird wie die Beschaffung der für das Bundesheer notwendigen Mittel. Ein Vorteil: Im Vertrauensindex in Österreich liegt das Bundesheer bei der Bevölkerung inzwischen an erster Stelle. Darauf sollte man aufbauen können.


2.000 Drohnen
Die Ukraine ist laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI erstmals der weltweit größte Waffenimporteur. Die Rüstungseinfuhren stiegen demnach um fast das Hundertfache und machen nun 8,8 Prozent der globalen Waffenimporte aus, gefolgt von Indien (8,3 Prozent), Katar und Saudiarabien (je 6,8 Prozent).
Seit Beginn des Krieges 2022 lieferten mindestens 35 Staaten Waffen an die Ukraine, meist als Militärhilfen. Die größten Lieferanten waren die USA (45 Prozent), Deutschland (12 Prozent) und Polen (11 Prozent) .
64 Prozent der Waffenkäufe europäischer NATO-Staaten stammen aus den USA – ein Plus von 52 Prozent im Vergleich zu den Jahren 2015–2019.
Der Schutz Europas vor möglichen Aggressionen Russlands ohne Unterstützung der USA würde laut einer Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und des Brüsseler Instituts Bruegel die EU-Staaten
250 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Notwendig wären demnach etwa 50 zusätzliche Brigaden mit 300.000 Soldaten, 1.400 Kampfpanzer, 2.000 Schützenpanzer und 2.000 Langstreckendrohnen – mehr als die aktuellen Bestände Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Großbritanniens zusammen.
Interview mit Michael Zinkanell


Direktor AIES Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik
© AIESNeutralität alleine wird weder die Schweiz noch Österreich vor einer Aggression schützen
Was bedeutet die De-facto-Aufkündigung der seit 75 Jahren bestehenden NATO-Sicherheitsdoktrin durch US-Präsident Trump für die neutralen Staaten Österreich und Schweiz?
Die USA werden sich nicht komplett aus der NATO zurückziehen, aber die Verantwortung der USA, für die konventionelle Sicherheit der NATO-Staaten einzustehen, ist gesunken. Diese Veränderung bedeutet, dass Russland weiter austesten wird, wie schnell und fähig die europäischen Staaten ihre Sicherheit verteidigen können und wollen. Dem können sich auch die neutralen Länder Österreich und Schweiz nicht entziehen, denn hybride Angriffe richten sich selbstverständlich auch gegen diese Staaten. Auch konventionell ist eine militärische Konfrontation mit Russland in den nächsten Jahren wahrscheinlicher geworden. Die Neutralität alleine wird keinen der beiden Staaten schützen.
Wer ist besser auf die neue Sicherheitslage in Europa vorbereitet, die Schweiz oder Österreich?
Die Schweiz, und das in mehrfacher Hinsicht. Einerseits hat die Schweiz jahrelang mehr in Sicherheit und Verteidigung investiert und verfügt daher über umfangreichere militärische Fähigkeiten. Innerhalb der letzten Jahre gab die Schweiz zwischen vier und knapp sechs Milliarden Euro jährlich für ihr Militär aus, in Österreich waren es zwischen zwei und vier Milliarden pro Jahr. Erst 2024 wurde im Zuge des „Aufbauplans 2032+“ das Jahresbudget für das österreichische Bundesheer auf über vier Milliarden Euro aufgestockt. Hinzu kommt, dass die Schweiz eine wesentlich bessere Basis betreffend Material und Ausbildungsstand der Miliz hat, von der Geografie ganz zu schweigen. Sollte es tatsächlich zu einer militärischen Eskalation in Europa kommen, mangelt es andererseits in Österreich auch am Rückhalt der Bevölkerung, obwohl wir laut Artikel 42(7) des EU-Vertrages zu einer Beistandsleistung innerhalb der Europäischen Union im Falle eines Angriffs auf eines der Mitgliedsländer verpflichtet sind. Laut einer aktuellen Studie der Universität Innsbruck gehen zwar
70 Prozent der Österreicher davon aus, dass uns andere EU-Staaten verteidigen würden, nur 14 Prozent sind allerdings bereit, andere EU-Staaten im Angriffsfall zu verteidigen. Somit bedarf es einer umfassenderen Aufklärung der österreichischen Bevölkerung hinsichtlich der rechtlichen Beistandsverpflichtungen sowie der aktuellen Bedrohungslage in Europa.
Die Schweiz kann sich also erfolgreich wehren, Österreich nicht?
Weder die Schweiz noch Österreich könnten alleine gegen eine Aggression aus Russland bestehen. Die Neutralität wird beide Länder in der neuen internationalen Sicherheitslage nicht mehr beschützen. Außerdem signalisiert Russland klar, dass es Österreich nicht als neutral wahrnimmt. Österreich und die Schweiz haben seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine die umfangreichen Lücken in den eigenen militärischen Fähigkeiten erkannt. Beide Staaten nehmen etwa am Sky Shield Programm teil, weil es klar ist, dass der Luftraum über Zentraleuropa nur gemeinsam wirksam gesichert werden kann und Anschaffungen gemeinsam günstiger sind. Gerade gegen Angriffe mit Drohnen oder Raketen haben beide Länder wenig entgegenzusetzen. Der Krieg in der Ukraine zeigt aber, dass diese Art der Angriffe gegen kritische Infrastruktur und die zivile Bevölkerung Teil zukünftiger Kriegsführung ist.
Kriege werden heute nicht mehr nur auf Schlachtfeldern geführt, sondern auch im digitalen Raum. Die hybride Kriegsführung gegen kritische Infrastruktur ist ein wesentlicher Teil des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine. Verfügen Österreich und die Schweiz über ausreichende Ressourcen, um hier bestehen zu können?
Die Europäische Union befindet sich laut dem aktuellsten Risikobild des Verteidigungsministeriums bereits in einer hybriden Auseinandersetzung mit Russland. Noch können wir unsere kritische Infrastruktur schützen, wenn wir ins Baltikum blicken, sehen wir aber, wie schwierig das für Einzelstaaten wird, wenn sich die Intensität der Attacken steigert. Es wäre naiv zu behaupten, dass solche Aggressionen von einem Land Europas alleine gestemmt werden können. Dazu kommen massive Desinformationskampagnen, mit denen bereits seit Jahren auch in Europa in Wahlkämpfe eingegriffen wird. Dieses Problem lässt sich nicht mit Geld alleine lösen, sondern bedarf gesamteuropäischer Anstrengungen.
Ist ein sicherheitspolitischer Alleingang Österreichs sinnvoll?
Militärisch gesehen ist Österreich innerhalb der EU eines der schwächsten Glieder. Das erhöht die Verletzlichkeit unserer Sicherheit. Mit Halbherzigkeit werden wir die Sicherheit Österreichs nicht garantieren können. Österreich war lange Jahre einer der größten Profiteure der Friedensdividende. Jedoch müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass wir unseren Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten werden müssen. Der „Aufbauplan 2032+“ des Verteidigungsministeriums ist ein erster wichtiger Schritt, das Bundesheer wieder einsatzfähig zu machen, dem aber weitere folgen müssen. Gezielte Investitionen kommen auch der heimischen Wirtschaft zugute, um unsere eigene Rüstungsindustrie in Form von Hidden Champions und Zulieferunternehmen zu stärken. Es ist hoch an der Zeit, dass Österreich die Verteidigung und Sicherheit des Landes komplett von der Parteipolitik entkoppelt. Es geht um den Schutz der österreichischen Bevölkerung und Sicherstellung der Souveränität, dies kann jedoch nur in Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern sichergestellt werden.


Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 11/2025.