Die Kärntner Stadt Villach ist nach der Messerattacke eines islamistisch motivierten syrischen Flüchtlings, der dabei einen Teenager tötete und mehrere Menschen teils schwer verletzte, in Trauer. News sprach mit Moussa Al-Hassan Diaw, dem Gründer der NGO DERAD, die sich vor allem um die Deradikalisierung bereits straffällig gewordener Extremisten bemüht.
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Der Täter von Villach hat sich Polizeiangaben zufolge innerhalb weniger Wochen online radikalisiert. Wie kann man sich das vorstellen – wie läuft so etwas ab?
Wir haben noch viel zu wenige Informationen über den Attentäter. Diese Erklärung, er hätte sich nur online radikalisiert, kommt mir zu rasch. Ich bin mir nicht sicher, ob man hier andere Faktoren ausschließen kann. Wir haben Klienten, die ebenso aus dem Ausland kamen, auch aus Syrien, und sie haben diese Ideen schon in ihrer Heimat in sich aufgenommen. Das heißt nicht, dass sie als Extremisten nach Österreich gekommen sind. Aber diese Ideen waren ihnen nicht fremd, und sie haben sich dann hier in einer bestimmten Situation verstärkt damit auseinandergesetzt. Unserer Erfahrung nach sind solche Täter zudem online vernetzt und pflegen auch analog persönliche Kontakte. Die Annahme, jemand schaut sich wochenlang TikTok an, wird nur dadurch radikalisiert und zum Attentäter, ist mir zu einfach.
Ich habe das Gefühl, dass nach solchen Taten vorschnell Schlüsse gezogen werden. Und ich habe auch das Gefühl, es gibt eine Agenda und die liegt da nun wie ein Filter davor – und diese Agenda ist, etwas gegen TikTok zu unternehmen und eine Überwachung von Messenger-Diensten zu ermöglichen. Das geschieht nicht aus böser Absicht, aber diese Themen haben die Entscheidungsträger im Hinterkopf.
Ihr Fazit: Radikalisierung erfolgt auf komplexere Weise.
Genau. Das muss man endlich verstehen. Wir als DERAD haben hier in der letzten Zeit leider negative Erfahrungen gemacht, weil diejenigen, die in den Ministerien entscheiden, also Beamte, teilweise nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass es Gründe gibt, warum sich ein Mensch von der islamistischen Ideologie angezogen fühlt, aber auch, dass so gut wie immer ein Kontakttreten mit anderen erfolgt, die so denken, denn dort fühlt sich dieser Mensch dann gut aufgehoben und wohl. Das Internet ist im negativen Sinn eine gute Möglichkeit, diese Ideologie zu transportieren. Der Kern des Problems ist aber die Ideologie und nicht eine Internetplattform.
Wer sind die Feindbilder in dieser Ideologie?
Es gibt einen nahen und einen fernen Feind. Der nahe Feind sind alle Muslime, die nicht so denken, wie sie selbst. Diese Extremisten sind der Meinung, um den Ein-Gott-Glauben zu verwirklichen, braucht es ein staatliches politisches System, das sich ausschließlich nach Gottes Gesetzen richtet. Muslime, die das nicht wollen, und das sind 99 Prozent der Muslime, wird auch das Muslim-Sein abgesprochen, deswegen darf und soll man sie bekämpfen, so wie der Attentäter aus Niederösterreich, der nach Mekka geflogen ist und dort einen Messerangriff verübt hat.
Die äußeren Feinde sind alle, die keine Muslime sind. In der Vorstellung dieser Extremisten haben sich die nahen und fernen Feinde miteinander verbündet, um zu verhindern, dass Gottes Gesetz auf Erden innerhalb eines staatlichen Systems verwirklicht wird, das weltumspannend sein sollte. Darüber hinaus gibt es auch hier verschiedene Gruppen, die das selbe Ziel verfolgen, aber politisch unterschiedlich denken und daher andere, ebenso extremistische Gruppierungen auch zum inneren Feind zählen. Die bekämpfen sich dann gegenseitig.
Wie gläubig sind denn solche Attentäter wirklich?
Das ist sehr unterschiedlich. Wir betreuen zum Beispiel eine Klientin, der ging es anfangs nur darum, Schrecken zu verbreiten. Sie hat nur die äußere Form interessiert, nicht aber die Religion. Nach und nach wachsen solche Leute aber hinein in ein Überzeugungsfundament. Umgekehrt gibt es Leute, die gehen auf religiöse Sinnsuche. Manche von ihnen kommen nicht einmal aus einer muslimischen Familie. Aber dann finden sie bei Freunden, die charismatisch sind, attraktive Antworten, suchen im Netz nach mehr und merken nicht, wie rasch sie in einem Strudel ideologischer Vorstellungen drinnen sind, weil sie nicht zwischen Religion und Ideologie unterscheiden können. Sie hätten auch woanders andocken können, Sportfanatiker oder Uhrensammler werden können. Aber sie sind bei dieser Ideologie gelandet und diese Ideologie operiert eben mit Feindbildern, mit dem Wunsch nach einem Systemsturz, wofür es Krieg braucht.


Eine Stadt in Schock und Trauer: In Villach gedenken die Menschen der Opfer des Terroranschlags vom 15. Februar
© Matej Povse/Getty ImagesZuletzt gab es in Deutschland Anschläge von afghanischen Geflüchteten. Sie sind vor den Taliban geflohen und agieren nun als Terroristen. Wie ist das zu erklären?
Da sind wir bei den inneren Feinden. Für Leute, die Anhänger des Islamischen Staates (IS) sind, sind die Taliban keine gute Gruppe. Die Taliban gilt es für sie sogar zu bekämpfen. Ein IS-Anhänger sieht in den Taliban Menschen, die vom Islam abgefallen sind. Es kann also sein, dass jemand aus Afghanistan flieht, hier das Leben genießt, das er aber gleichzeitig aus ideologischen Gründen hasst.
Wie können Menschen, die mit dem Islam nicht vertraut sind, da zwischen einfach nur streng gläubigen Muslimen und zwischen radikalen Extremisten unterscheiden?
Es gibt da ein noch vielschichtigeres Problem, weil sich Teile dieser Feindbildvorstellungen auch bei Mainstream-Muslimen finden. Dazu gehören undifferenzierte anti-amerikanische, antiwestliche, anti-jüdische Einstellungen, aber auch feindselige Haltungen gegenüber dem Christentum. Und wenn nun Lehrer oder Polizeibeamte oder Justizvollzugsbeamte ständig von Menschen mit solchen Einstellungen umgeben sind, wie sollen sie da zwischen Radikalen und Nicht-Radikalen unterscheiden? Es gibt also einerseits ein extremistisches Spektrum und andererseits ein Spektrum an Feindbildern, die mehr oder weniger stark geteilt werden.
Was ich hier für wichtig halte, ist, die Mainstream-Muslime zu erreichen und ihnen zu sagen, all diese Feindbilder haben eigentlich keine Grundlage im Islam, sondern sind extremistisches Gedankengut, das historisch in diesem oder jenem Kontext entstanden ist. Das ist die Aufklärungsarbeit, die man machen kann und muss, sonst würde das Zusammenleben nirgendwo mehr funktionieren.
Politiker formulieren nach einem Attentat wie jenem in Villach einerseits Betroffenheit, andererseits Härte. Der Innenminister möchte nun anlasslos Durchsuchungen bei Syrern und Afghanen durchführen lassen können. Wie zielführend ist das?
Ich habe mit der Zeit gelernt, solche Ansagen als Teil einer politischen Kommunikationsstrategie zu sehen. Die eine, eher linke, Seite verneint, dass es das Problem der extremistischen Ideologie überhaupt gibt. Und es gibt jene, die eher populistisch reagieren und Maßnahmen ankündigen, weil das von ihnen erwartet wird, aber am Ende ändert sich wenig.
Was bräuchte es, um solche Anschläge präventiv zu verhindern?
Man müsste vor allem die Akteure, die Deradikalisierungsarbeit leisten, und ja, damit meine ich uns von DERAD, endlich adäquat unterstützen. Wir haben noch immer das gleiche Zwei-Zimmer-Büro wie vor fünf Jahren. Wir bekommen von der Justiz Klienten angewiesen, die wir betreuen, das aber ehrenamtlich machen müssen. Dafür gibt es keine Bezahlung. Wir haben bis heute keine Lösung, wenn Schulen an uns herantreten. Wir können zwar Workshops anbieten, die bezahlt werden, aber dann fragen die Schulen uns: Können Sie bitte diese Schüler weiterbetreuen? Auch das können wir dann nur ehrenamtlich machen, weil es keine Lösung gibt, wer das bezahlt.
Wie finanziert sich DERAD grundsätzlich?
Wir arbeiten vor allem mit radikalisierten Häftlingen, haben dafür als DERAD allerdings nur einen befristeten Vertrag mit der Justiz, obwohl ein unbefristeter versprochen wurde. Jeder unserer insgesamt 13 Mitarbeiter rechnet seine Stunden in den Gefängnissen direkt mit der Justiz im Nachhinein ab. Das heißt aber: Die Berichte, die auch zu schreiben sind, schreiben wir unbezahlt. Insgesamt haben wir bisher in stärkerer oder schwächerer Intensität seit unserer Gründung 2015 rund 600 Menschen in, aber auch außerhalb von Gefängnissen betreut.


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„Der Kern des Problems ist die Ideologie und nicht eine Internetplattform“
Wie sieht diese Deradikalisierungsarbeit dann konkret aus?
Das ist individuell verschieden, aber was grundsätzlich immer gleich ist: Man versucht, die ideologische Vorstellung, das Überzeugungsfundament, das diese Personen besitzen, aus ihren Köpfen herauszuholen, und ihnen Gegenerzählungen anzubieten. Dieses Überzeugungsfundament rechtfertigt ja auch ihre kriminellen Taten.
Wie kann man erreichen, dass sich Menschen, und dabei besonders Jugendliche, gar nicht radikalisieren?
Man muss sie dort erreichen, wo sie sind – online wie offline. Man muss im Netz auf den diversen Kanälen attraktive Gegennarrative anbieten. Man muss überall andocken, wo Menschen zusammenkommen, in Schulen, in AMS-Kursen etc. Dort kann man Workshops anbieten, in denen es zunächst um Allgemeines wie Demokratie und Pluralismus geht, doch man landet dann immer schnell bei Leuten, die bestimmte Überzeugungen haben, und dann kann man gezielt darauf eingehen. Dabei gibt es aber auch überraschende Momente: Es gibt auch unter den Lehrern und Lehrerinnen immer wieder Personen, die Einstellungen verstärken, die wir eigentlich loswerden wollen. Und es gibt ein weiteres Problem: Es gibt immer noch Entscheidungsträger, die meinen, es reichen sozialarbeiterische Ansätze. Das reicht aber nicht. Man muss gezielt diese Ideologie zerschlagen.
Eine der nun propagierten Lösungen ist ein Verbot von TikTok. Würde das helfen, um islamistische Radikalisierung einzudämmen?
Es würde wohl wenig ändern. Es gibt Russian Television in der EU nicht mehr, aber Hunderte Influencer, die genau diese Inhalte auf ihren Kanälen auf Youtube, Facebook, TikTok, Instagram, aber auch Telegram verbreiten. Man kann immer auf einen anderen Kanal ausweichen.
Und wie bewerten Sie Überwachungstools?
Das Gefühl, man könnte mit solchen Maßnahmen absolute Sicherheit erreichen, ist unrealistisch. Dazu kommt das Problem, dass, wenn Prävention gelingt, man es nicht erfährt. Da gibt es keinen Messwert, wie man gelungene Prävention messen kann.
Bemüht sich die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) um die Bekämpfung von Islamismus? Oder tut sie zu wenig?
Da muss ich zunächst leider sagen: Zwischen DERAD und der IGGÖ gibt es keine Zusammenarbeit. Der damalige Leiter der islamischen Seelsorge hat 2016 eine solche Zusammenarbeit abgelehnt und das ist bis heute so.
Ansonsten: Die IGGÖ ist nur ein organisatorischer Zusammenschluss von an und für sich autonomen Religionsgruppierungen oder -gemeinschaften mit unterschiedlichen Muttersprachen. Jeder ist für sich autark, und da gibt es auch keine Überwachungsmöglichkeit. Am ehesten sorgen dann noch Medienberichte dafür, dass die IGGÖ den Ausschluss von Moschee-Gemeinden, die durch radikale Predigten auffällig geworden sind, beantragt. Zuletzt war das bei einer Moschee im achten Bezirk in Wien der Fall. So ein Ausschluss ist seit einigen Jahren immerhin eine rechtliche Möglichkeit, die die Glaubensgemeinschaft hat. Das ist zumindest ein Signal an die jeweilige Moschee, dass sie dann auf sich alleine gestellt ist.
Wo die IGGÖ auch etwas bewirken könnte, ist über den islamischen Religionsunterricht. Da ziehen aber leider nicht alle an einem Strang, die Glaubensgemeinschaft ist eben durch ihre Struktur auch sehr von Fraktionsdenken geprägt.


© Robert Newald / picturedesk.com
Über Moussa Al-Hassan Diaw
Moussa Al-Hassan Diaw ist islamischer Pädagoge, Islamismusforscher und Experte für Extremismusprävention. 2015 gründete er die NGO „DERAD – Extremismusprävention und Demokratie“, seit 2016 kooperiert er mit dem Justizministerium im Bereich der Extremismusprävention in Justizanstalten.
Seine Forschung beschäftigt sich mit den Themen politische Ideologisierung von Religion, Migration und Identität sowie Antisemitismus. Er ist Mitglied des Radicalisation Awareness Network der Europäischen Kommission. Diaw lebt in Wien.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.09/2025 erschienen.