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Die nach einer 180-Grad-Wende pro-russisch gewordene Regierungspartei Georgischer Traum hatte am Donnerstag der Europäischen Union Erpressung und das Schüren von Unruhen vorgeworfen und die Verhandlungen über einen EU-Beitritt bis 2028 ausgesetzt. Das Land im Südkaukasus mit seinen 3,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern hat aber das Ziel eines EU-Beitritts in seiner Verfassung verankert. Meinungsumfragen zufolge unterstützen rund 80 Prozent der Menschen in Georgien eine EU-Mitgliedschaft ihres Landes.
Die Regierung hatte der EU eine "Kaskade von Beleidigungen" vorgeworfen. Zudem wolle die EU eine Revolution organisieren. Finanzielle Zuschüsse der EU an Georgien würden nicht mehr angenommen.
Am Donnerstagabend hatten zahlreiche Menschen in mehreren Städten Georgiens gegen die Entscheidung der Regierung, hinter der der Gründer von Georgischer Traum, der Ex-Premier und Milliardär Bidsina Iwanischwili, steht, protestiert. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Pfefferspray und Tränengas gegen maskierte Demonstranten ein.
Nach Angaben des Innenministeriums vom Freitag wurden 43 Menschen festgenommen. 32 Polizisten seien verletzt worden. Einige Demonstranten hätten versucht, Metallabsperrungen vor dem Parlament niederzureißen. Die Koalition für den Wandel, die größte Oppositionspartei des Landes, erklärte, zwei ihrer Vorsitzenden seien während der Proteste von der Polizei angegriffen und verletzt worden. Für Freitag hat die Opposition zu weiteren Protesten aufgerufen.
Der EU-Botschafter in Georgien, Pawel Herczynski, kritisierte die Gewalt gegen friedliche Demonstranten und nannte die Entscheidung der Regierung in Tiflis sehr bedauerlich. "Was gestern passiert ist, steht klar im Widerspruch zur Politik der vorherigen Regierung Georgiens, ja sogar aller vorherigen Regierungen Georgiens. Es steht auch im Widerspruch zum Willen der überwiegenden Mehrheit der georgischen Bevölkerung."
Die EU selbst hatte Anfang des Jahres erklärt, der Beitrittsantrag Georgiens sei als Reaktion auf neue Gesetze gegen "ausländische Agenten" und LGBTQ-Rechte auf Eis gelegt worden. Diese Gesetze sind Kritikern zufolge drakonisch und von Russland inspiriert und gegen Menschenrechtsgruppen und andere Nichtregierungsorganisationen gerichtet.
Georgischer Traum, der noch lange nachdem er 2012 an die Macht gekommen war eine pro-westliche Politik betrieb, war Ende Oktober aus einer umstrittenen Wahl offiziellen Angaben zufolge zum vierten Mal in Folge als Sieger hervorgegangen. In- und ausländische stellten allerdings Unregelmäßigkeiten fest. Staatspräsidentin Salome Surabischwili, die der Opposition nahesteht, fordert eine internationale Untersuchung der Abstimmung, wie sie auch die EU verlangt.
Kurz vor den Straßenprotesten hatte Regierungschef Irakli Kobachidse nach seiner Bestätigung im Amt durch das von der Opposition boykottierte neue Rumpf-Parlament eine Verzögerung des geplanten EU-Beitritts des Landes konkret angekündigt. "Wir haben beschlossen, die Frage der Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht vor Ende 2028 auf die Tagesordnung zu setzen", sagte der "Traum"-Politiker am Donnerstag.
Er sagte jedoch zu, die Umsetzung der notwendigen Reformen fortzusetzen und sicherzustellen, dass "Georgien bis 2028 besser als jedes andere Kandidatenland darauf vorbereitet sein wird, Beitrittsverhandlungen mit Brüssel aufzunehmen und 2030 Mitglied zu werden".
Bei einem Wien-Besuch im Februar 2019 hatte Kobachidse im Gespräch mit der APA erklärt: "Die euro-atlantische Integration ist eine Priorität." Diese Zielsetzung entspreche in seinem Land dem Willen des Volkes, der Medien, der starken Zivilgesellschaft ebenso wie jenem der Regierung und des Parlaments. Damals amtierte Kobachidse als Parlamentspräsident. In einem Vortrag an der Diplomatischen Akademie bezeichnete er zudem die angestrebte EU- und NATO-Mitgliedschaft als "klares außenpolitisches Ziel". 85 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Assoziierung des Landes mit der Europäischen Union, versicherte der damalige Parlamentschef und frühere Mitarbeiter internationaler Organisationen zum Abschluss zweitägiger Gespräche in Wien. "Wir sind auf der richtigen Spur."
Zwei Oppositionspolitikerinnen des Bündnisses für den Wandel, Elene Choschtaria und Nana Malaschchia, wurden bei den Ausschreitungen in Tiflis verletzt. Choschtaria erlitt einen Armbruch, Malaschchia wurde die Nase gebrochen, wie das Bündnis erklärte. Dem georgischen Ableger des PEN Zentrums zufolge war der bekannte georgische Dichter Swiad Ratiani unter den Festgenommenen.
Der SPÖ-Europaabgeordnete Andreas Schieder erklärte am Freitag zu den Vorgängen in der früheren Sowjetrepublik im Südkaukasus: "Die Menschen in Georgien fühlen sich zurecht von der amtierenden Regierung betrogen. Die Unterstützung für einen EU-Beitritt ist so hoch wie in kaum einem anderen Land und für die georgischen Bürgerinnen und Bürger ist dieser Traum jetzt in weite Ferne gerückt", wurde Schieder in einer Aussendung zitiert. Für die georgische Regierung, "die möglicherweise gar nicht im Amt sein dürfte", schienen die Interessen des russischen Präsidenten Wladimir Putin "leider mehr Gewicht zu besitzen als die Stimmen der eigenen Bevölkerung".