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Tatsächlich wurde in der jüngsten Umfrage kurz nach der Europawahl im Juni sogar ein massiver Anstieg der EU-Befürwortung verbucht. 76 Prozent der Befragten sprachen sich für die EU-Mitgliedschaft aus und lediglich 17 Prozent für einen Austritt. Dies sei eine Reaktion auf den FPÖ-Sieg gewesen, "weil die Leute geschockt waren". Diese Werte seien zwar mit Vorsicht zu genießen, doch im Durchschnitt der vergangenen 30 Jahre habe die Austrittsbefürwortung 21,9 Prozent betragen - und war somit deutlich geringer als die Nein-Stimmen beim Beitrittsreferendum im Juni 1994 (33,4 Prozent). Seit dem EU-Beitritt am 1. Jänner 1995 stellte die Gesellschaft in 71 Befragungen die "Gretchenfrage", ob Österreich in der EU bleiben oder austreten soll. Bei den Austrittsbefürwortern wurde der Wert des Referendums kein einziges Mal erreicht, meist lag er deutlich darunter.
Schmidt warnte aber davor, die mehrheitliche Unterstützung der EU-Mitgliedschaft als Selbstverständlichkeit anzusehen. "Auch wenn das Thema Öxit nicht offensiv gespielt wird: Weg ist es noch lange nicht", sagte er. So habe es in der Vergangenheit deutliche Schwankungen gegeben. Außerdem weise die Befürwortung der EU-Mitgliedschaft ein starkes Stadt-Land- und West-Ost-Gefälle auf. Weil Österreich im Zentrum des Kontinents liege und eine exportorientierte kleine Volkswirtschaft habe, halte er das tatsächliche Austrittsrisiko "nicht für groß. Es sei denn ein anderes Land beginnt damit und es kommt zu einer Kettenreaktion." Freilich sei nach dem britischen EU-Austritt das Gegenteil der Fall gewesen. "Die Zustimmung ist in die Höhe gegangen." Im Dezember 2019 sei mit lediglich neun Prozent der bisher niedrigste Wert der Austrittsbefürworter verbucht worden.
Seitdem sei die EU wieder "stark Projektionsfläche für alles, was nicht funktioniert" geworden, kritisierte Schmidt auch die Kanzlerpartei ÖVP. Sie habe einen "Anti-EU-Diskurs" betrieben, indem sie die Union als Bürokratiemonster dargestellt, die Impfstoffbeschaffung oder den Stillstand in der Migrationspolitik kritisiert habe. Der damalige Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) habe die FPÖ "rhetorisch überholt" und ihr "keinen Platz gelassen". Innenpolitisch habe ihm das Stimmen und außenpolitisch ein Alleinstellungsmerkmal verschafft, doch war das "auf Kosten der EU-Stimmung in Österreich".
Bei weicheren Fragestellungen wie etwa zum Thema Migration, Schengen, Mercosur oder dem Green Deal sei die Unzufriedenheit der Österreicher viel höher als bei der Frage nach der Mitgliedschaft, betonte Schmidt. Das Schüren dieser Unzufriedenheit falle den österreichischen Politikern etwa beim Thema EU-Erweiterung auf den Kopf. Obwohl die Politiker für sie werben, werde sie von zwei Drittel der Bürger abgelehnt. Angesichts der europakritischen Töne der Regierung würden sich die Menschen nämlich sagen: "Wenn das Werkl nicht funktioniert, warum sollten wir es erweitern?"
Bemerkenswert ist, dass der Tiefpunkt der EU-Zustimmung nicht in schweren politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Krisenzeiten verbucht wurde, sondern während der innenpolitischen Turbulenzen nach dem Bruch der Großen Koalition im Juli 2008. Damals waren 59 Prozent für die EU-Mitgliedschaft und 33 Prozent für einen Austritt. Schmidt erinnerte an die damalige Diskussion über den Vertrag von Lissabon, gegen den die einflussreiche Kronen Zeitung eine Kampagne führte - was Bundeskanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ) und den designierten SPÖ-Chef Werner Faymann dazu bewog, in einem Leserbrief an Krone-Herausgeber Hans Dichand eine Volksabstimmung über künftige EU-Vertragsänderungen zu versprechen.
Die damaligen Vorgänge hätten gezeigt, "dass die Innenpolitik immer vorgeht und keine Rücksicht nimmt auf europäische Verluste", sagte Schmidt. Den österreichischen Politikern sei dann auch egal, wer als EU-Kommissar in Brüssel sitzt. "Die werden dann zum wirklichen Bauernopfer", sagte er in Anspielung auf die Aussage des steirischen Landeshauptmanns Christopher Drexler (ÖVP) nach seinem Wahldebakel am Sonntag.
Von der künftigen Bundesregierung erwartet sich der ÖGfE-Generalsekretär eine klarere europapolitische Positionierung und mehr Dialog mit den Bürgern. So sollte jeder neue Minister in seinen ersten 100 Tagen eine Bundesländertour machen und dabei auch über Europapolitik sprechen, um die Diskussion "zu versachlichen". Schmidt wünscht sich, dass zwei bis drei Projekte definiert werden, die man als Priorität für Europa ansieht. Als Beispiel nannte er den transnationalen Ausbau der Bahnnetze, der breiten Gesellschaftsschichten zugute käme. Zudem brauche es institutionelle Reformen, um die EU fit für die Erweiterung zu machen. "Man kann ruhig ein bisschen visionärer formulieren und Pflöcke einschlagen", empfahl Schmidt den Verhandlern von ÖVP, SPÖ und NEOS.
Grundsätzlich spricht sich Schmidt dafür aus, dass Österreich sich stärker um Allianzen innerhalb der EU bemüht. Die in der Vergangenheit gepflegten Ad-hoc-Allianzen etwa mit den "Frugalen" während der Budgetverhandlungen, im Rahmen der "Freunde des Westbalkan" oder auch die Slavkov-Gruppe mit Tschechien und der Slowakei seien zwar "nicht schlecht" gewesen, doch sollte sich Österreich genauer anschauen, wo seine "natürlichen Verbündeten" innerhalb der Europäischen Union seien.
Der 30. Jahrestag des gemeinsamen EU-Beitritts könnte so ein Anlass sein, "sich enger abzustimmen mit Schweden und Finnland", schlug Schmidt vor. Mit Irland könnte Österreich überlegen, "was Neutrale machen können, um einen Beitrag zu leisten". Schwieriger sieht Schmidt eine Kooperation mit einigen mittelosteuropäischen Staaten. Tschechien etwa würde Österreich "überhaupt nicht brauchen" und sei "sehr selbstbewusst". Im Fall von Rumänien und Bulgarien habe die Schengen-Blockade "schon einigen Schaden angerichtet". Andere Länder wie etwa die Slowakei fühlten sich von Österreich ignoriert, berichtete Schmidt.
(Das Interview führte Stefan Vospernik/APA)