Die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris hat ihren Vize vorgestellt. Tim Walz, ein bodenständiger Ex-Lehrer aus dem Mittleren Westen, soll die Stimmen jener holen, denen Harris zu weiblich, zu schwarz und zu elitär ist. Selbst können sich die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner eine Präsidentin gut vorstellen – zweifeln aber, dass es die Mehrheit auch kann.
Tim Walz ist nicht groß, aber kompakt. Graue Haare, bulliges Gesicht. Er trägt eine unauffällige Brille und bei offiziellen Anlässen schlecht sitzende Anzügen, das Hemd unter dem geöffneten Sakko sieht oft zerknittert aus. So stellt man sich einen durchschnittlichen Amerikaner vom Land vor: wohlgenährt, ein wenig zerzaust und so, als fühle er sich in Karohemd und Baseballkappe am wohlsten. Walz wirkt nett und nahbar. Und vor allem: Er ist ein weißer Mann. Er soll bei der US-Wahl im November die Schwächen von Spitzenkandidatin Kamala Harris ausgleichen. Nämlich dass sie eine Frau ist und jamaikanischer bzw. indischer Herkunft noch dazu.
Von "Schwächen" redet offen freilich niemand. Vordergründig herrscht Begeisterung über die Nominierung von Harris. Die Partei stellte sich geeint hinter sie, Spendengelder rauschen herein, erste Umfragen geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Aber irgendwo dahinter lauert Vorsicht. Man merkt das an der Wahl von Walz: Klar, dass ein weißer, möglichst normaler Mann ran muss. Und man merkt es an den sorgenvollen Kommentaren vieler Amerikanerinnen, die eigentlich mit Harris sympathisieren: Ob das Land wirklich schon bereit ist für eine Frau an der Spitze? Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zeigt, dass die Stimmung 2015 positiver war als heute. Damals waren 63 Prozent der Meinung, das Land sei bereit für eine weibliche Staatschefin, im Juli 2024 waren es nur mehr 54 Prozent. Bei registrierten Demokraten ging die Rate von 83 auf 77 Prozent zurück, bei registrierten Republikanern sogar von 44 auf 30. Und immer wieder zeigt sich in Umfragen ein Paradoxon: Selbst können sich die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner eine Präsidentin gut vorstellen – zweifeln aber, dass es die Mehrheit auch kann.
Comicfigur
Vielleicht liegt es daran, dass ein Trauma nachhallt. 2016 versuchte Hillary Clinton, als erste Frau die gläserne Decke zu durchstoßen und US-Präsidentin zu werden. Die perfekte Kandidaten, sollte man meinen. Intelligent, erfahren, fleißig, alles da. Und dann verlor sie ausgerechnet gegen Donald Trump. Man hat sich an seine Erscheinung mittlerweile gewöhnt, aber damals: ein amerikanischer Dieter Bohlen, frisch aus dem Trash-TV importiert, orangehäutig und -haarig, ein Clown eigentlich, eine Comicfigur. Es war eine Schmach für Clinton. Und zeigte, dass offene, rohe Frauenfeindlichkeit Stimmen bringt. "Ich weiß das eine oder andere darüber, wie schwer es für starke, weibliche Kandidatinnen sein kann, sich gegen Sexismus und Doppelmoral in der amerikanischen Politik durchzusetzen", schrieb Clinton kürzlich in der "New York Times". Sie sei als Hexe beschimpft worden, als "böse Frau" und Schlimmeres. Aber sie sei stolz darauf, dass ihre beiden Präsidentschaftskampagnen "es als normal erscheinen ließen, dass eine Frau an der Spitze der Kandidatenliste steht".
Die vielen kleinen Erschwernisse, mit denen Politikerinnen zu kämpfen haben, beschrieb Barack Obama – dem Clinton bei den Vorwahlen 2008 unterlag – anschaulich: "Sie musste dasselbe machen wie ich, nur wie Ginger Rogers rückwärts in Stöckelschuhen. Sie musste früher aufstehen als ich, um sich die Haare machen zu lassen. Sie musste mit all diesen Erwartungen umgehen, die an sie gestellt wurden." Probleme, mit denen sich auch Kamala Harris konfrontiert sieht: Im Internet kursieren Unterstellungen, sie verdanke ihren Aufstieg nur Beziehungen zu einflussreichen Männern, ihre Outfits werden ausführlichen Betrachtungen unterzogen, und man versucht, sich über ihr charismatisches Lachen lustig zu machen.
Erklärung
2008 versuchte Hillary Clinton erstmals, US-Präsidentin zu werden. Sie verlor gegen den Senator von Illinois, Barack Obama, der erster schwarzer US-Präsident wurde.
Und dennoch, trotz des begründeten Verdachts, die Trump-Jahre hätten die Provinzialisierung der USA so weit vorangetrieben, dass keine Umkehr möglich ist, keimt so etwas wie Hoffnung auf: Kann dieser Frau – ausgerechnet dieser Frau, möchte man sagen – das bisher Unmögliche gelingen?
Es gibt ein paar Argumente, die dafür sprechen: In den letzten Jahren haben sich auch in der US-Politik immer mehr Frauen durchgesetzt; in anderen Ländern gehören Staatschefinnen sowieso schon längst zur Normalität. Das Thema Geschlecht spielt nicht mehr eine so große Rolle wie früher. Selbst in einem traditionell männerdominierten Feld wie der Politik bewegen sich Frauen mittlerweile unbefangener. Harris geht auch gelöster mit persönlichen Angriffen um als einst Hillary Clinton, die litt, aber schwieg, wenn sie attackiert wurde.
Und: Unter Amerikas Frauen könnte sich eine stille Wut über den antifeministischen Feldzug der Trump-Regierung aufgebaut haben. Die Aufhebung des Rechts auf Abtreibung zum Beispiel, die von Trump nominierte Höchstrichter 2022 vornahmen, empört viele. Der Abbruch einer Schwangerschaft ist seitdem in 14 Bundesstaaten strikt verboten, selbst nach einer Vergewaltigung oder im Fall einer für die Mutter lebensgefährlichen Schwangerschaft.
Erklärung
1973 legte das US-Höchstgericht in einer umstrittenen Grundsatzentscheidung zum Fall Roe v. Wade ein bundesweites Recht auf Abtreibung fest.
Frauenpower
Nur sechs Prozent der Demokraten, zeigt die YouGov-Umfrage vom Juli, waren der Meinung, dass Kamala Harris mit einer weiblichen Stellvertreterin – etwa Michigans Gouverneurin Gretchen Whitmer – in den Wahlkampf ziehen sollte. Frauenpower ja bitte, aber nicht zu viel davon. Ausgewählt hat sie schließlich Tim Walz, den Mann aus dem Mittleren Westen, der auch so spricht, als wäre er neben dem Hühnerstall groß geworden, den früheren Lehrer und Fußballcoach, der so anheimelnde "Dad-Vibes" ausstrahlt, wie amerikanische Medien bewundernd und nur ein klein wenig spöttisch schreiben.
Er soll die Stimmen jener bringen, denen Harris zu links, zu weiblich und zu elitär ist. Und er erweitert die Normalitätsdebatte, die auch in der amerikanischen Politik eine wichtige Rolle spielt, um eine interessante Facette: Donald Trump war damit erfolgreich, sich als Kämpfer für die "normalen Amerikaner" zu inszenieren. Mit Walz kommt ein sehr normal wirkender Player aufs Spielfeld, der Trump und seine oft exzentrischen Mitstreiter als "weird" bezeichnet, als seltsam, komisch, schräg, vielleicht auch ein wenig verrückt. Die Grenzen verschieben sich. Wer ist jetzt "normal" in diesem Rennen, und was bedeutet "Normalität" überhaupt?
Die Karrierejuristin mit dem makellosen Lebenslauf und der freundliche Kerl aus der Provinz, beide aus einfachen Verhältnissen – können sie gemeinsam verhindern, dass Trump erneut US-Präsident wird? Ersten Umfragen zufolge haben sie zumindest eine reelle Chance. Insofern: Ja, Harris braucht Walz. Aber der Star der Show, das steht völlig außer Frage, ist die weibliche, schwarze, laut lachende Kamala Harris selbst.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 33/2024 erschienen.