Tirols Landeshauptmann Anton Mattle erklärt im Sommerinterview, warum er im Herbst einen Asylkodex einführen will. Wie sehr sich Zuwanderer seiner Meinung nach an die österreichische Kultur anpassen müssen. Und unter welchen Bedingungen es zu einer schwarz-roten Koalition im Bund kommen könnte.
Sie wollen in Tirol demnächst einen Asylkodex einführen. Was ist das, und was wollen Sie damit bezwecken?
Es braucht ein Instrument, das Migrantinnen und Migranten das Gefühl gibt, sich zu etwas zu verpflichten. Eine Unterschrift hat nach wie vor einen hohen moralischen Stellenwert, egal, in welchem Kulturkreis. Diese Unterschrift bedeutet die Verpflichtung, Deutschkurse zu besuchen, die Verpflichtung, sich mit dem Kulturkreis, in dem man hier lebt, auseinanderzusetzen und Integration anzustreben. Wichtig ist auch, dass Tätigkeiten im Bereich der Gemeinnützigkeit vorgesehen sind. Wir werden in unseren Kodex auch jene Dinge einbauen, die wir jetzt schon pflegen: eine Onboarding-Stelle, das direkte Vermitteln von Arbeitskräften hin zu Arbeitgebern.
Der Kodex soll einstweilen ohne Sanktionen auskommen. Sie wollen die Leute bei der Ehre packen?
Das ist der erste Schritt. Wir werden sehen, wie es funktioniert. Eines muss ganz klar sein: Österreich – Tirol in dem Fall – leistet vieles, gibt vieles, wir erwarten aber auch, dass etwas zurückkommt.
Vergangenen Frühling wurde heftig über Leitkultur diskutiert. Die ÖVP hat das in Sozialen Medien mit einem Maibaum-Foto bebildert, Generalsekretär Stocker meinte damals, Blasmusik sei "etwas Verbindendes". Wie viel Maibaum, Blasmusik und Schnitzel ist für gelungene Integration notwendig?
Es ist sehr gut, dass wir diese Traditionen in Österreich pflegen. In den Tiroler Musikkapellen und Schützenkompanienfinden sich Migranten wie Einheimische. Das eine schließt ja das andere überhaupt nicht aus. Vielleicht hat man hier einfach zu plakative Beispiele gewählt. Denn, was bedeutet es, in einem neuen Kulturkreis anzudocken? Natürlich muss man sich mit unserer Kultur auseinandersetzen, dann findet man vielleicht auch schneller einen Weg in die Integration. Darüber hinaus sei gesagt, dass die österreichische Gesellschaft durchaus eine bunte ist. Aber im Endeffekt zählt das große Ganze. Und dort muss eine Staatsgemeinschaft mit allen Bürgerinnen und Bürgern auch zusammenstehen.
Welche Werte sind für gelungene Integration wichtig?
Dass verstanden wird, dass Frau und Mann in der österreichischen Gesellschaft den gleichen Stellenwert haben. Das ist eine ganz große Herausforderung und für viele unserer Migranten völlig fremd. Das zweite Thema, das man auch verstehen muss, wenn man in Österreich ist: Man erreicht etwas, wenn man leistungsbereit ist. Diese Leistungsbereitschaft verlange ich von all unseren Migranten. Man kommt an und empfängt Unterstützung. Aber dann geht es auch ums Zurückgeben. Deutschkenntnisse sind natürlich eine Grundvoraussetzung.
Wenn jemand Deutsch spricht, Frauen respektiert und fleißig ist, dann darf er sich auch anders anziehen und anders essen?
Zu unseren Straßenbildern gehören mittlerweile auch Menschen, die nicht so gekleidet sind wie wir. Aber sich unserer österreichischen Kultur anzunähern, das ist ein zentraler Punkt.
In den letzten Wochen wurde über die Höhe der Mindestsicherung in Wien diskutiert. In Tirol würde eine neunköpfige Familie unter gewissen Umständen ähnlich viel bekommen. Sehen Sie Bedarf, diese Leistung zu senken?
Ich würde einen Fokus darauf legen, die Menschen verstärkt mit Sachleistungen zu unterstützen und beim Bargeld zurückhaltender zu sein. Aber: Die Lebenshaltungskosten in Tirol sind höher als in anderen Bundesländern, vor allem in Innsbruck. Das müsste man im Fall einer bundeseinheitlichen Regelung berücksichtigen. Eine Senkung ist in Tirol derzeit nicht geplant. Aber man muss sich das im Detail anschauen.
Der Bürgermeister von Wien schlägt vor, die Zuständigkeit für Menschen im arbeitsfähigen Alter ans AMS zu übergeben, eine Kindermindestsicherung und eine Residenzpflicht einzuführen. Was sagen Sie dazu?
Mir wäre es wichtig, dass man Familie gesamthaft sieht. Also Familie bei der Sozialhilfe auseinanderzureißen, das erachte ich nicht als einen besonders wertvollen Weg. Residenzpflicht, das ist schon etwas, das für mich einen Charme hat.
Das entspricht nicht der Linie Ihrer Partei.
Das ist meine persönliche Beurteilung.
Sie scheren öfter aus der Parteilinie aus, in Ihrer sehr deutlichen Ablehnung der FPÖ zum Beispiel. Stehen Sie für eine etwas andere Volkspartei?
Generell brauchen Parteien, auch die Volkspartei, eine gewisse Bandbreite. Und es ist vielleicht auch die Schule des Lebens, die man durchmacht, die dazu führt, dass man Ecken und Kanten hat. Parteien brauchen diese Ecken und Kanten, sei es beim Thema Leistung oder beim Thema Eigentum. Und das artikuliere ich vielleicht da und dort etwas stärker als andere.
Anton Mattle
Mattle wuchs in Galtür auf und war von 1992 bis 2002 Bürgermeister der 780-Einwohner-Gemeinde. 2013 wurde der gelernte Elektrotechniker Vizepräsident des Tiroler Landtags, 2021 Wirtschaftslandesrat. 2022 stellte ihn der damalige Tiroler Landeshauptmann Günther Platter als seinen Wunschnachfolger vor. Bei der Landtagswahl im Herbst 2022 trat Mattle als Spitzenkandidat der Tiroler ÖVP an und kam auf rund 35 %. Seitdem ist er Landeshauptmann und koaliert mit der SPÖ.
Ein Comeback von Schwarz innerhalb der ÖVP, zurück zu alten Werten?
Das mit den Werten ist mir schon ein ganz großes Anliegen. Wenn es um die Farbenspiele gegangen ist, haben die Tiroler ja nie mitgemacht. Ich darf aber vielleicht noch einmal ganz speziell betonen, dass ich sehr stark hinter Karl Nehammer stehe.
Sie sind auch ein Befürworter der Großen Koalition. In Tirol gibt es bereits eine, Sie wünschen sich auch eine im Bund. Warum wäre das gut für Österreich?
Ich erlebe in der täglichen Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, dass wir bei den großen gesellschaftlichen Themen ganz viele Gemeinsamkeiten haben. Es hat bisher keine Konflikte gegeben, das ist ein gutes Signal. Die Menschen sehnen sich auch danach, dass nicht gestritten wird. Und wir haben das große Glück, dass wir alle innerhalb der Tiroler Landesregierung einen sehr pragmatischen Zugang haben. In diesem Pragmatismus liegen viele Lösungen. Das hilft uns im täglichen Geschäft.
Nicht streiten und pragmatisch sein, das ist ein eher kleiner gemeinsamer Nenner. Gibt es darüber hinaus noch irgendwelche Inhalte und Werte, die Sie verbinden?
Ein verbindendes Element ist auch, dass sowohl Georg Dornauer als auch ich aus der Kommunalpolitik kommen. Und wir beide gelernt haben, über sehr viele Jahre ganz nahe bei den Bürgerinnen und Bürgern zu sein. Das gelingt uns auch jetzt in der täglichen politischen Arbeit. Wir gehen gerne hinaus aus unseren Büroräumen und sind mit der Bevölkerung in Kontakt.
Der Tiroler NEOS-Chef hat zuletzt kritisiert, die Tiroler Koalition sei ein "Backflash in die Vergangenheit".
Das ist die Aussage eines Oppositionspolitikers. Ich bin etwas überrascht von Dominik Oberhofer, weil er sonst einen positiven Zugang zur Volkspartei und zu meiner Person findet. Die Volkspartei in Tirol ist sehr modern. Wir haben in den letzten 20 Monaten unwahrscheinlich viele Veränderungen vorgenommen und auf unserer Liste zur Nationalratswahl junge, äußerst engagierte Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt. Ein ganz klarer Schritt in die Zukunft.
Die Tiroler FPÖ wiederum findet, Sie sind "extrem weit nach links" gerückt.
Das kommt von einer Partei, die extrem weit rechts steht, deren Bundesparteivorsitzender noch nie einen verbindenden Satz zur Gesellschaft gesagt hat, sondern es zulässt, dass seine Leute sich mit Identitären treffen. Aus dieser Brille heraus verstehe ich es. Aber alle Ränder, ob links oder rechts, sind nicht mein Betätigungsfeld. Mein politisches Betätigungsfeld liegt in der Mitte.
Wenn Sie im Bund mit der SPÖ koalieren, dann müssten Sie, so wie es jetzt ausschaut, mit Andreas Babler zusammenarbeiten. Bablers Ansichten unterscheiden sich allerdings sehr von Ihren. Wie soll sich das ausgehen?
Eine Koalition mit den Sozialdemokraten, so wie wir sie in Tirol haben, das wäre eine gute Sache. Auf Bundesebene ist ganz wesentlich nachzuarbeiten. Da geht es schon auch darum, dass auch unser etwaiger zukünftiger Koalitionspartner Themen wie Leistung und Eigentum als ganz wichtige Themen für die Gesellschaft anerkennt. Ideologisch getriebene Forderungen wie eine 32-Stunden-Woche, das geht definitiv nicht.
Beim Thema Transit ist Ihnen Ihr Tiroler Koalitionspartner Georg Dornauer kürzlich in den Rücken gefallen. Er hat nun auch angedeutet, man könnte das umstrittene Nachtfahrverbot aufheben.
Tatsächlich ist so, dass Tirol – und in weiterer Folge auch Österreich – ganz großen Druck bekommt, dieses Nachtfahrverbot aufzuheben. Aber das werden wir nicht, weil es hier ganz klassisch um Gesundheit geht. Und die muss immer, egal, auf welcher politischen Ebene, zuerst kommen, dann erst kommt Mobilität. Es ist sehr klar im Regierungsprogramm festgeschrieben, dass wir an diesen Notmaßnahmen festhalten.
Man wirft Ihnen Sturheit vor.
Nein, Konsequenz.
Italien hat Ende Juli die angekündigte Klage gegen Österreich eingebracht. Was passiert jetzt?
Wenn sich europäische Staaten klagen, ist das dramatisch. Man behauptet, wir hätten den Verhandlungstisch verlassen. Und ich widerlege das. Wir haben ihn nicht verlassen, wir haben immer geliefert und bleiben gesprächsbereit. Auf die Klage sind wir gut vorbereitet. Und wir sind sehr dankbar dafür, dass Wien in diesem Fall zu 100 Prozent hinter den Tirolern steht.
Das ist überraschend. Tirol lobt Wien, ein ÖVPler die grüne Verkehrsministerin?
Die Bundesregierung in Summe. Es braucht eine Ministerin, aber es braucht auch einen Bundeskanzler.
Der Bürgermeister von Wien schlägt vor, die Zuständigkeit für Menschen im arbeitsfähigen Alter ans AMS zu übergeben, eine Kindermindestsicherung und eine Residenzpflicht einzuführen. Was sagen Sie dazu?
Mir wäre es wichtig, dass man Familie gesamthaft sieht. Also Familie bei der Sozialhilfe auseinanderzureißen, das erachte ich nicht als einen besonders wertvollen Weg. Residenzpflicht, das ist schon etwas, das für mich einen Charme hat.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 34/2024 erschienen.