Am 11. Jänner 2025 wurde Alice Weidel in Deutschland zur Kanzlerkandidatin der AfD gekürt. Die Politikerin hat sich längst auch mit deren rechtsextremen Exponenten arrangiert. Privat lebt sie mit ihrer Regenbogenfamilie in der Schweiz, wo sie Kraft tankt und Bäume umarmt. Unterwegs mit einer Grenzgängerin. Von Margrit Sprecher
Eigentlich könnte ich jetzt Skiferien machen“, meinte Alice Weidel im Dezember in der Zürcher „Kronenhalle“, ihrem Lieblingslokal. Wenige Wochen vor dem Wahltermin am 23. Februar war ihre Agenda leer, weder Interviews noch Debatten standen an, niemand wollte etwas von der Kanzlerkandidatin der AfD, Deutschlands zweitgrößter Partei, wissen. Selbst manche Umfrageinstitute unterschlugen ihren Namen. Zu groß die Befürchtung, das könnte sie hoffähig machen. Alice Weidel trug wie immer ihre Uniform, einen perfekt sitzenden Hosenanzug, jetzt assortiert mit einem weißen Rollkragenpulli, der sich auch bestens hochklappen und als Halbmaske verwenden ließ. Doch es erkannte sie ohnehin niemand im Lokal, außer dem Kellner. „Gschnetzlets mit Rösti, wie immer?“, fragte er.
Man sah ihr den Frust über das Totschweigen in Deutschland nicht an. Da war keine Zornesfalte überpudert, und die Augen blickten hell und zuversichtlich. Auch ohne mediale Unterstützung lief alles prima. Jeder fünfte Deutsche wählt bereits die AfD, sie selbst liegt laut dem ZDF-Politbarometer vom 30. Januar 2025 mit nur 13 Prozent Zustimmung hinter Friedrich Merz mit 30 Prozent. Die Partei gilt als „in Teilen gesichert rechtsextrem“, wie die Formel der Medien lautet. „Jede Ausgrenzung ist ein Bumerang“, stellt Weidel fest. Denn in den Augen unzufriedener Bürger beweise der Boykott, dass das Politestablishment nach 16 Jahren lähmender Merkel-Einmütigkeit und drei Jahren „Ampel-Pfusch“ jeglichen Neuanfang nach Kräften verhindern wolle.
Hitler, der Kommunist
Doch aus Weidels Skiferien wurde nichts. Ende des Jahres 2024 empfahl Elon Musk, reichster Mann der Welt und Donald Trumps First Buddy, Deutschland die AfD als einzig mögliche Rettung. Am 9. Januar legte er auf seiner Internetplattform X nach: Alice Weidel durfte mit ihm über die Pläne der AfD sprechen. Das Gespräch geriet zum teilweise geschichtsrevisionistischen Geplauder über deutsche Bürokratie, Hitlers kommunistische Seite oder Atomkraftwerke, zum verbalen Schulterklopfen. Weidels Leute, eben noch frustriert vom Ausschluss aus dem Parteienwettbewerb und von ihrer eigenen Untätigkeit, frohlockten: Endlich hat uns jemand lieb! Ihre Chefin Weidel blieb cooler. Ihr Plan war aufgegangen. Schon vor einem Jahr hatte sie Musks Aufstieg in den Trump-Olymp vorausgesehen und ihm das ins Englische übersetzte AfD-Programm geschickt. Nach der ersten Schockstarre flutete eine Woge der Empörung Deutschland. Einmischung eines Wirtschaftsbosses in den deutschen Wahlkampf! Werbung für die Rattenfängerpartei AfD! Untergang der Demokratie! „Ist das Tor zur Hölle nun geöffnet?“, fragte die FAZ.
Ähnlich aufgeregt hatten die Medien schon letzten Herbst über das Fernsehduell zwischen der AfD-Co-Chefin Weidel und der Bündnis-Sahra-Wagenknecht-Gründerin berichtet. Ein Skandal, dass Welt TV Weidel eine Plattform zur Verbreitung ihrer populistischen Lügen geboten hatte. Freilich wirkte die Sendung vor allem als ein geradezu diabolisch frauenfeindlicher Akt. Ohne eigenes Zutun konnte die männliche Konkurrenz zuschauen, wie sich die beiden umstrittensten deutschen Politikerinnen zerlegten. Schon optisch ein Genuss. Sahra Wagenknecht zeigte ihre perfekten Beine und ihr Mondschein-zartes Ohrgehänge. Alice Weidel trug Perlen und Poschettli. Sahra schlang ihr dunkles Haar zu einer eleganten Banane. Alice zurrte ihr Blondhaar zum frechen Knötchen.
Ungenierte Ich-AG
Die Ressentiments der Männer sind nachvollziehbar. Beide Frauen sind den meisten männlichen Politikern in Sachen IQ, Ausbildung und Rhetorik überlegen. Beide machten ohne das politische Establishment Karriere. Beide krempelten Deutschland aus dem Stand heraus um. Beide stehen so ungeniert zu ihrer Ich-AG, wie sich das schon lange kein Mann mehr getraut. Eine von ihnen, so die Hoffnung, bliebe auf der Strecke, und mit der anderen würde man schon irgendwie fertig.
Auf der Strecke blieb, wie die Medien schrieben, das kleinere Übel Weidel. Zu knallhart ihr Auftreten, zu skandalös ihr Personal, zu dumpf und unflätig ihre Wähler, die sich auf der Straße die Wut aus dem Leib brüllen. Weidel wunderte die sichtliche Genugtuung über ihre Niederlage nicht: „In den letzten zehn Jahren hatte ich fast nur negative Interviews.“ Im Fernsehen wurde sie mit Suggestivfragen gleich aus der Fassung gebracht, durfte sie kaum je ausreden. So wie im „ZDF-Sommerinterview“ und in der „Rundschau“ des Schweizer Fernsehens. Zwar hieß es dort: „Gefährliche Hass-Rednerin einer Skandalpartei oder furchtlose Lichtgestalt?“ Doch die Augen der Moderatorin flackerten vor mühsam gebändigter Entrüstung, und so war von Lichtgestalt kaum je die Rede. Ebenso viel obrigkeitlichen Schutz erfuhr die deutsche Satiresendung „Extra 3“. Sie durfte Alice Weidel straffrei „Nazischlampe“ nennen.
Unzimperliche Sprache
Nun bedient sich auch Alice Weidel einer ziemlich unzimperlichen Sprache. Kritik, die andere verschweigen oder vorsichtig andeuten, spitzt sie genussvoll zu. 2016 löste sie damit ihren ersten großen Shitstorm aus. Auf dem Höhepunkt des Hypes um die Willkommenskultur bezeichnete sie Kanzlerin Angela Merkel für „selbstverständlich mitschuldig“ an der Vergewaltigung und Ermordung deutscher Frauen durch junge Migranten. Diese Aussage kostete Talk-Meisterin Sandra Maischberger beinah den Job. Inzwischen gehört das Merkel-Bashing zum Mainstream. Aber nicht nur der nötige Migrationsstopp hat es inzwischen in die Medien und Absichtserklärungen honoriger Parteien geschafft. Auch andere Forderungen, für die Weidel Prügel bezogen hatte, werden inzwischen gefahrlos diskutiert: Wiedereinführung der Atomkraft und Kampf gegen die erstickende Bürokratie.
Heute hat Alice Weidel ihr Repertoire mit neuen Aufreger-Themen bestückt. Selenskij bezeichnet sie als „Redner im Tarnanzug, der nur noch als Kriegs- und Bettelpräsident im Amt ist“. Politische Korrektheit gehört für sie „auf den Müllhaufen der Geschichte“. „Die kumulierte Dummheit“ der „Fridays for Future“-Bewegung findet sie beängstigend und dass Amerika seine Waffen in Deutschland stationiert und ohne deutsche Erlaubnis abfeuern darf, schlicht unglaublich.
„Mutter aller Sünden“ freilich bleibt für sie Angela Merkels Migrationspolitik. Denn importiert worden sei „ein marodierender, grapschender und Messer stechender Mob, an den wir uns gewöhnen sollten“. Im Wahljahr 2017 googelte sie jeden Morgen als Erstes „Mann und Messer“. Fast jeden Tag, sagt sie, sei sie fündig geworden.
„Ich ließ mir nichts sagen“
Extra stellen musste Alice Weidel ihren Wecker nicht, sie ist Frühaufsteherin. War es schon immer. Denn ihre Mutter pflegte, „fixfertig angezogen und geschminkt“, Alice schon um sechs Uhr früh aus dem Bett zu holen. „Der Leistungsgedanke war immer da.“ Arbeitslose hatten nach Meinung der Weidels ihr Schicksal häufig selbst verschuldet, der Bundestag war eine „Geldverschwendungsmaschine“, der Lehrkörper eine faule Bande in Birkenstöcken. „Lauter Alt-68er“, sagt Weidel. „Sie mochten mich ebenso wenig wie ich sie. Aber ich ließ mir natürlich auch nichts sagen.“ Um sie zu ärgern, fuhr sie im Mercedes ihres Vaters ins Gymnasium.
Tatsächlich war Alice Weidel, geboren am 6. Februar 1979 im westfälischen Gütersloh, schon Wutbürgerin, bevor es dieses Wort noch gab. Den Grundstein dazu gelegt hatte Vater Gerhard. Er stammte, wie die AfD-Scharfmacher Björn Höcke und Beatrix von Storch, aus einer Vertriebenen-Familie und kann bis heute den Verlust seiner schlesischen Heimat nicht verwinden. Ein Skandal für ihn auch, dass die Alliierten im Zweiten Weltkrieg die deutschen Städte in Schutt und Asche legten und im Winter 1948 Deutschland beinah aushungerten.
Es war ganz in seinem Sinne, dass Tochter Alice 2023 die Einladung der russischen Botschaft zum Jahrestag des Siegs über Nazi-Deutschland ausschlug. Die „Niederlage meiner Heimat mit einer ehemaligen Besatzungsmacht zu feiern“, war nicht ihr Ding. Zudem passten solche Gedenkfeiern, sagt sie und benutzt einen Ausdruck der Rechtsextremen, „ganz zum Schuldkult der Deutschen“.
Gerhard Weidel verdiente als Vertreter für Möbel genügend Geld. Seine Frau arbeitete nicht. Auch Ferien in der Schweiz und eine hochkarätige Ausbildung für den Nachwuchs waren drin. Die drei Weidel-Kinder machten insgesamt fünf Studienabschlüsse, der Sohn an der ETH Zürich und der Hochschule St. Gallen. „Heute“, sagt Alice Weidel, „kann sich die Mittelschicht, zu der wir gehörten, all dies nicht mehr leisten. Heute arbeitet der Bürger die Hälfte seiner Zeit für die Steuern.“
Eigentlich wollte sie Ärztin werden. Doch der Vater war dagegen. „Ein ganzes Leben um kranke Menschen herum“, gab er zu bedenken. Zudem störte den Fachmann für Schöner-Wohnen das Ambiente: „Oben Halogen, unten Linoleum.“ Also studierte sie Betriebs- und Volkswirtschaft, und dies in Bayreuth, „wo man ohnehin nichts anderes tun konnte“. Da ihr der Unterricht zu träge war, brachte sie sich das Doppelstudium selbst bei. „An die Uni ging ich nur für die Übungen.“ Sie schloss als eine der Jahrgangsbesten ab und doktorierte magna cum laude über das chinesische Rentensystem.
Ähnlich hochtourig verlief ihr Berufsleben. Nach einem Jahr Japan und fünf Jahren China als Stipendiatin arbeitete sie bei der Credit Suisse in Singapur und bei der Allianz Global Investors Europe in Frankfurt. Sie verschaffte sich Einblick in die Welt der Investmentbanken bei Goldmann Sachs und jettete für eine international tätige Start-up-Beratungsfirma um die Welt. Mit 36 Jahren hatte sie eine Karriere hingelegt, die auch für einen Spitzenjob bei der Weltbank gereicht hätte. Stattdessen gründete sie ein eigenes Beratungsbüro und heuerte bei der AfD an.
Grund für den Parteieintritt war ein Streit mit ihrer Schweizer Lebenspartnerin Sarah gewesen. Einmal mehr hatte Alice bei einer Einladung niemanden sonst zu Wort kommen lassen, einmal mehr hatte sie mit ihren Klagen über die EU ins Monologische abgehoben. Für Sarah war das einmal zu viel gewesen. „Statt alle mit deinen Tiraden zu langweilen, mach doch selbst was in der Politik!“, schimpfte sie nach dem Weggang der Gäste. Alice wollte nicht nur ihre Beziehung retten. Sie sah auch ein: „Was man nicht ändert, das akzeptiert man.“ 2013 trat sie in die frisch gegründete AfD ein, damals noch eine Wirtschaftspartei.
Den beiden Parteigründern, dem liberal-konservativen Professor Bernd Lucke und Alexander Gauland, kam ihr Fachwissen gelegen. Sie konnte verunsicherte Bürger mit Zahlen statt mit Stammtischparolen vom nötigen Austritt Deutschlands aus der EU überzeugen. Ihre These: Mit der Abschaffung der D-Mark, einer der härtesten Währungen der Welt, habe Deutschland das Kommando über den Markt verloren. Nun stehe dem Land der wirtschaftliche Super-GAU bevor.
Als drei Jahre nach der Parteigründung immer mehr Rassisten, Nazi-Verharmloser und Hetzer die AfD unterwanderten, warf Lucke enttäuscht hin. Alexander Gauland dagegen schien der wilde Haufen von Protest- und Wutbürgern gerade recht zu kommen. Hauptsache: Es gärte in der Basis. Die AfD versank in Streit und Intrigen, politische Meuchelmorde waren an der Tagesordnung. „Unsere Leute sind ja nicht nur gegen das Establishment in der Regierung“, verteidigt Weidel das Chaos. „Sie kritisieren auch die da oben in den eigenen Reihen.“
Bald gehörte sie selbst zu denen da oben und musste, wie sie sagt, „viele Kröten schlucken“. Manche Parteigenossen fanden Testosteron wichtiger als Intelligenz. Andere, die schon in Auslandferien Heimatverrat sahen, misstrauten einer Frau, die auf drei Erdteilen gelebt hatte und Mandarin sprach. Am meisten zu reden gab ihre sexuelle Ausrichtung. Die AfD will gleichgeschlechtliche Ehen verbieten, und ihre Parteivorsitzende lebt in einer eingetragenen Partnerschaft mit einer Frau. „Wo Kinder sind, ist Familie“, grenzt sich Weidel von der Parteidoktrin ab. Alice und Sarah haben gemeinsam zwei Buben.
Kühl kontrollierte Blondine
Bei Alice Weidels erstem Auftritt als AfD-Abgeordnete des Bundeslandes Baden-Württemberg im Bundestag 2017 rieben sich die Vertreter der Regierungsparteien die Augen: Da hatte sich offenbar jemand im Platz geirrt. Mitten in den hitzig aufgeladenen Reihen der AfD saß eine elegante, kühl kontrollierte Blondine; am Rednerpult fixierte sie den Saal aus blanken Augen wie eine Lehrerin eine hoffnungslose Klasse.
Inzwischen befolgt der Bundestag bei ihren Reden ein eingespieltes Ritual. Kaum stemmt sie beide Hände gegen die Kanten des Rednerpults, bearbeiten Bundeskanzler Olaf Scholz und die Regierungsspitzen geradezu hektisch ihre Handys. Andere Abgeordnete drehen sich grimassierend zu ihren Nachbarn um, lassen sich mit verschränkten Armen und gequälter Miene in ihre Sessel zurückfallen. In der Budgetdebatte 2025 letzten September unterhielten sich die Politiker hinter ihrem Rücken so laut, bis sie sich umdrehte: „Bitte etwas leiser sprechen.“ Die hämischen Lachsalven im Saal quittierte sie mit der Bemerkung: „Sie benehmen sich wie ein Kindergarten.“ Frenetischen Applaus bekam sie nur von ihren Parteigenossen. Deren Anblick war freilich auch keine rechte Freude. Manche fläzten sich in ihren Sesseln, dass die Gürtel krachten, anderen stand die Rauflust im Gesicht. Kein Wunder, spricht Alice Weidel lieber zu ihren Unterlagen als zu diesem Publikum, egal ob es links oder rechts sitzt.
Falsch, rügen Verhaltensexperten: Bei so wenig Blickkontakt springe kein Funke rüber. Falsch auch, dass sie jedes Wort im gleich wichtigen und dringlichen Ton vortrage, wie lauter fett gedruckte Kernsätze: Das ermüde die Zuhörer. Doch für Weidel sind tatsächlich alle Probleme gleich dringlich. Denn Deutschland steht am Abgrund: die Arbeitslosenzahl auf neuen Höhen. Die Wirtschaft wegen Bürokratie und der teuersten Energiepreise der Welt am Boden. Eine Regierung, die Schulden auf Schulden türmt. Dafür erlaubt sie „Kiffen für alle“ und „Geschlechtswechsel ein Mal pro Jahr“. Währenddessen verfallen im ganzen Land Schulen und Brücken, die Züge sind chronisch verspätet, die Polizeireviere unterbelegt und die Amtsstuben doppelt geführt.


Machtspiele. Mitgründer und AfD-Ehrenvorsitzender Alexander Gauland hatte Alice Weidel immer klein gehalten.
© Liesa Johannssen / REUTERS / picturedesk.comLanges Sündenregister
Alice Weidels eigenes Sündenregister haben die Gegner längst ausgewertet. Es reicht vom schwarzen Putzenlassen durch eine syrische Asylwerberin bis zu ihrer Behauptung, die AfD bekomme keinerlei Großspenden und sei deshalb auf die 25 oder 30 Euro besorgter Bürger angewiesen. Dabei liefen gleichzeitig die gestückelten 130.000 Euro des Zürcher Pharmazieunternehmens PWS auf dem Parteikonto ein. „Damals“, sagt Weidel, „hat mein Stuhl erheblich gewackelt.“
Andere Versuche, Alice Weidel kaltzustellen, waren nicht so erfolgreich. Der Auftrag eines Unbekannten, ihre Doktorarbeit nach geklauten Zitaten zu durchforsten, erzielte zu wenig Treffer. Jüngst versuchte es die Welt am Sonntag mit der Nazi-Keule. Weidels Großvater Hans, so das Blatt, war SS-Militärrichter in Warschau gewesen. Zwar beteuert Weidel, nichts davon gewusst zu haben. Doch die Leserschaft, so wohl die Hoffnung, wird schon die richtigen Schlüsse ziehen: Irgendwas Völkisches wird auch ihr im Blute liegen.
Migranten waren für die Wirtschaftsfrau Weidel lange kein Thema gewesen. Noch weniger war dies Rassismus. Ihre Partnerin Sarah stammt aus Sri Lanka, mit drei Monaten war sie von einem Schweizer Pfarrerehepaar adoptiert worden. Inzwischen freilich hat Alice Weidel dazugelernt: Mit Massenmigration bekommt man von den eigenen Leuten wie vom Publikum mehr Applaus als mit Dexit und Steuerfragen. Heute schleudert die einstige Elite-Studentin auf einem bayrischen Volksfest den Satz ins Publikum: „Ich lasse mir mein Schnitzel nicht nehmen!“ Gemeint war das Schweinsschnitzel. Denn ist die Rede von Islamisten, rutscht ihr das Lächeln weg. „Unser Umgang mit islamischen Hasspredigern ist naiv.“
Angepasste Scharfmacherin
Sie hat sich den Scharfmachern angepasst, Wortschöpfungen wie „Remigration“ benutzt sie inzwischen auch selbst. Noch 2017 hatte sie Björn Höckes Parteiausschluss unterstützt, seine Nähe zur Neonazi-Szene schade der Partei. Sie fügte sich opportunistisch. Sein Netzwerk erwies sich als zu stark; als bester Redner weit und breit riss er die Säle zu Jubelstürmen hin. Heute gibt sie ein edleres Motiv für ihren damaligen Rückzieher an: Fairness. Ihr großes Vorbild, die englische Premierministerin Margaret Thatcher, sei nicht an ihrer harten Politik gescheitert, sagt sie. „Zu Fall gebracht haben sie ihre eigenen Leute, weil sie sie nicht genügend geschützt hatte.“
Inzwischen kommt sie die Treue zu Höcke und Co. teuer zu stehen. Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen verweigerte die Zusammenarbeit im EU-Parlament mit einer Partei, in der Leute mit Neonazis sympathisieren. In TV-Sendungen wird ihr Höcke so lange vorgehalten, bis sie sich entnervt als nicht für dessen Wortwahl zuständig erklärt oder gar das Studio verlässt. „Er ist konservativ, ich bin liberal“, beendet sie Diskussionen.
Aber es ist ja nicht nur Höcke. In ihrer Truppe tummeln sich viele Leute, die vom Verfassungsschutz beobachtet und als rechtsextremistisch verdächtigt oder eingeschätzt werden. „Manche sind im persönlichen Gespräch ganz normal“, sagt Alice Weidel. „Doch kaum stehen sie vor einem Publikum, heben sie ab und sagen Dinge, für die ich nachher geradestehen soll.“ Das ist nicht nur lästig. Damit durchkreuzen sie auch ihre Politik, die, vorderhand wenigstens, auf Mitspielen und Anpassen angelegt ist. „Mit Krawall kommt man nicht weiter.“


Zweierlei Maß. Ihre Partei Iehnt gleichgeschlechtliche Ehen ab, die Parteichefin lebt jedoch in einer solchen Partnerschaft.
© MICHAEL BUHOLZER / Keystone / picturedesk.comEin letzter Fußtritt
Selbst der Parteigründer Alexander Gauland hatte sich seinen Kick mit provozierenden Auftritten geholt. Letzten Herbst verabschiedete er sich von der Partei, und dies mit einem letzten Fußtritt für die ungeliebte und von ihm klein gehaltene Alice Weidel: Die AfD brauche keine Kanzlerin. Denn ihren Erfolg verdanke sie nicht der eigenen Leistung, sondern der Schwäche der anderen Parteien. Seit seinem Weggang ist Alice Weidel aufgeblüht. Dazu beigetragen hat auch das Glanzresultat, mit dem sie im Herbst 2024 als Kanzlerkandidatin nominiert wurde. Inzwischen haben auch die Machos in der Partei eingesehen: Eine Alice Weidel macht die Partei diverser und weiblicher, so wie das der Zeitgeist will.
Alice Weidel hat das muffige AfD-Bühnenbild bereits durch eine Lichtshow mit viel Schwarz-Gold ersetzt. Auch sich selbst verpasste sie ein Rebranding. Bisher hatte sie nie ihre sexuelle Ausrichtung vor sich hergetragen; schwule Politiker, die mit ihrem Privatleben hausierten, bedachte sie mit ätzendem Spott. Jetzt zeigt ein Clip auf TikTok sie und Partnerin Sarah im Auto beim vergnügten Sitz-Dance. Als Start-up-Spezialistin weiß sie um die Wichtigkeit des von den anderen Parteien verschmähten Teenie-Kanals. Es sind blutjunge Menschen, die jetzt in Scharen der AfD beitreten, für sie die einzige Garantin für eine weniger düstere Zukunft.
„Sarah, ich liebe dich“
Eine neue Alice Weidel erlebte letzten November auch der „Efficiency Club“ im Zürcher Kongresshaus. Begleitet von zwei Security-Männern war sie durch den Personaleingang gekommen. Doch einmal auf der Bühne, fühlte sie sich wie zu Hause. Entspannt ihre Miene, locker ihre Antworten, einmal gar stupste sie Moderator Reto Brennwald kumpelhaft in die Seite. Schließlich rief sie spontan ins Publikum, wo sie ihre Freundin wusste: „Sarah, ich liebe dich!“ Und erklärte den Zuhörern: „Ich habe eine wunderbare Frau. Sie hält mir den Rücken frei. Wir sind seit 15 Jahren zusammen.“
Verdient hat ihre Partnerin Sarah Bossard diese Liebeserklärung alleweil. Erst verlor sie in ihrem Wohnort Biel ihren gesamten links-grünen Freundeskreis, als dieser Weidel im TV gegen Mindestlohn, Erbschaftssteuer und Krankenversicherung für Asylwerber wettern hörte. Dann nahm die Unterhaltungsbranche sie in Sippenhaft und bestrafte die Fernseh- und Filmproduzentin („Die göttliche Ordnung“) mit einem Auftragsstopp. Auf dem Spielplatz wurde ihr älterer Bub von seinem besten Freund geschnitten, auf der Straße riefen Kinder Alice Weidel „Scheiß-Weidel, Scheiß-AfD, Scheiß-Nazi“ nach. Noch immer klopft Alice Weidels Herz, wenn sie daran denkt, wie sie, ihren Sechsjährigen an der Hand, den Rufen zu entkommen suchte.


Und jetzt? „Mit neutralen Medien hätte ich die CDU schon längst überholt“, sagt Alice Weidel.
© Sebastian Kahnert / dpa / picturedesk.comSupersensible High-Performerin
2018 flüchtete die Familie nach Einsiedeln, dorthin, wo die Kirche noch mitten im Dorf steht und die Menschen, so hoffte sie, „normal“ sind. Sie sind es tatsächlich. Im woken Biel, einer Stadt mit einer der höchsten Sozialhilfequoten der Schweiz, war eine Familie mit zwei Müttern nichts Besonderes gewesen. Im normalen Einsiedeln hatte man so etwas noch nie gesehen. „Ich nahm mir anfangs viel Zeit, um uns überall vorzustellen“, sagt Weidel. Das Paar ist nicht durch eine anonyme Samenbank zu ihren beiden Buben bekommen, es kennt die Väter.
Weidel, die die Absätze knallen lässt und weiß, wie man in die Kamera schaut, auf dem Land? Passt schon. „Hier kann ich Kraft tanken, in Berlin bekomme ich extrem viel ab.“ Denn als High-Performerin erledigt sie alles „mit zweihundert Prozent“, wie sie sagt. „Immer bin ich am Rennen.“ Einladungen lehnt sie konsequent ab, TV schaut sie nie, und wenn doch einmal, hat sie danach der vertanen Zeit wegen ein schlechtes Gewissen. Am meisten Kraft kosten die psychischen Herausforderungen. Ein Parteigenosse sagt ihr ins Gesicht: „Die besten Frauen sind Mütter.“ Nach einer verlorenen Abstimmung darf sie sich, „auf dem Podium und den ganzen Saal vor sich“, nichts anmerken lassen. Dabei sei sie, sagt sie, „supersensibel“ und „extrem nah am Wasser gebaut“.
In Einsiedeln steigt sie frühmorgens auf den Großen Mythen, um den Sonnenaufgang zu erleben, im nahen Wald umarmt sie Bäume. Sie besitzt einen Apparat, der Wasser ionisiert, und duscht kalt, um die Endorphin-Ausschüttung anzukurbeln. „Die verhinderte Medizinerin“, lächelt sie.
Größte Kraftquelle ist freilich Partnerin Sarah. „Sie ist unglaublich stark und in sich gefestigt“, sagt Alice Weidel. Sarahs Gesicht leuchtet von innen, jeden Sonntag geht sie in die Freikirche. „Ich hatte halt gute Vorbilder“, erklärt sie ihren Glauben. Alice dagegen ist aus der katholischen Kirche ausgetreten. Als der Priester vergessen hatte, sie zur Firmung aufzubieten, hatte sich der Austritt fast von selbst ergeben.
Heimatland Schweiz
Auch politisch fühlt sich Alice Weidel in der Schweiz ganz zu Hause. Tatsächlich unterscheiden sich die Forderungen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) kaum von jenen der AfD. Ja, auf manchem Gebiet ist die Schweiz der AfD sogar voraus. Hier herrscht bereits ein Burka- und Minarettverbot, und Rechtsaußen-Politiker dürfen mitregieren. Ihre Einbindung, so der Gedanke dahinter, wirkt sich sowohl zähmend wie entlarvend aus, und längst nicht alle populistischen Forderungen bestehen den Realitätstest.
Für Markus Somm, Co-Moderator am Zürcher Symposium des Efficiency Club, grenzt denn auch die Haltung Deutschlands gegenüber der AfD an „Hysterie“. Das AfD-Parteiprogramm fand er „hervorragend“, zu bemängeln hatte er lediglich die Forderung nach einer „Verengung“ der Holocaust-Gedenkkultur. „Streichen Sie diesen Unsinn!“, forderte er den Gast Weidel auf. Ebenso unsinnig sind für ihn die von der AfD angestrebten besseren Beziehungen zu Putin und der Abzug der amerikanischen Truppen aus Deutschland. Die CDU werde diese Punkte niemals akzeptieren, und mit ihr müsse sich die AfD arrangieren. „Sonst werden Sie nie in die Regierung kommen!“
Das freilich waren nicht die Themen, deretwegen Alice Weidel die Einladung zum Symposium angenommen hatte. Reden wollte sie über ihr Fachgebiet: „Ich bin froh, es hier mit Leuten zu tun zu haben, die etwas von Wirtschaft verstehen. Diese Gelegenheit hat man nicht oft, vor allem nicht in meinem Heimatland.“ Dann sprach sie von den Abstiegsängsten der deutschen Mittelschicht, deren ganze Hoffnung die AfD sei. Den Arbeitsplatz hätten sie verloren, weil sich das Produzieren in Deutschland nicht mehr lohne. Das Vermögen, das Freiheit bedeutete, sei zerronnen, der Lebensplan zerstört. Das seien die Leute, denen ihre ganze Kraft gehöre.
Doch dann war es in Zürich halt wie überall. Die 1.300 Wirtschaftsfachleute, die je 1.200 Franken Eintritt bezahlt hatten, hörten zwar aufmerksam zu. Am lautesten freilich klatschten sie bei Weidels Warnung vor der unkontrollierten Migration in zu kurzer Zeit. In der Pause rief einer begeistert: „Diese Frau sollte in unseren Bundesrat!“ Und zückte, als Beweis seiner Zitierbereitschaft, die Visitenkarte.
Weidels Kampfansage
Doch Alice Weidel hat größere Pläne. Vor einer Woche fuhr sie mit ihrem Range Rover ins Einsiedler Skigebiet und parkierte die „Kiste“, wie sie sie nannte, vor einem Bergrestaurant. Hier könne man, sagte sie, besser reden. „Zu Hause toben die Buben herum, und vor dem Haus spionieren Leute.“ Anders als in der „Kronenhalle“ erkannten sie die Gäste sofort, für das Wirtepaar war ihr Besuch eine Ehre.
Bei Kaffee und Mineralwasser, den Blick fest auf die hehren schneegleissenden Gipfel vor dem Panoramafenster gerichtet, erklärte sie ihr Ziel: die AfD zur stärksten Partei Deutschlands zu machen. „Mit neutralen Medien hätte ich die CDU schon längst überholt.“ Zu mut- und zahnlos seien deren Konzepte, zu deutlich Friedrich Merz’ alleiniges Interesse am Machterhalt. „Das schaffe ich nicht bis zum 23. Februar“, sagte sie. „Aber das schaffe ich bis zur nächsten Bundestagswahl.“
So, wie sie dasitzt, gespannt wie ein Bogen, ist ihr alles zuzutrauen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.07/2025 erschienen.