Die woke Party ist vorbei, die Realpolitik feiert ihr Comeback auf der Weltbühne. Der Salto mortale rückwärts vom 21. ins 19. Jahrhundert ist nichts für schwache Nerven.
Derzeit passieren in der Welt viele Dinge, die die meisten von uns vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätten (es folgt jetzt keine Ministerliste). Viele Beobachter mit ideengeschichtlichem Hintergrund sagen, dass es sich um eine Art Salto rückwärts vom 21. ins 19. Jahrhundert handelt, sowohl was das Wertegefüge im Bereich der individuellen Ethik- und Moralkonzepte betrifft als auch im Hinblick auf die großen Linien der internationalen Politik.
Die Argumente für diese These reichen von der Wiederkehr der Religion, der Re-Mystifizierung der Welt über den Versuch der Rückabwicklung allen Fortschritts in den Geschlechterbeziehungen bis zur Rehabilitierung der Realpolitik auf der Weltbühne. Insgesamt also ein reaktionäres Geschehen, man redet wieder von Kriegstüchtigkeit und Patriotismus, von der Macht der Disruption und von Helden aller Art.
Feministische Außenpolitik steht nicht ganz oben auf der globalen Agenda, im Weißen Haus finden keine Achtsamkeitsseminare mehr statt, und der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln kommt nicht mehr nur in Clausewitz-Seminaren zur Sprache. Sogar die Lektüre von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, noch vor wenigen Jahren ein untrüglicher Hinweis auf die ideologische Verderbtheit des Lesers, ginge heute als empirische Studie zur Lage in den Schützengräben des Donbas durch.
Der Krieg ist zurück
Die klammheimliche Freude über diese Entwicklung kann man vielen Menschen ansehen, die sich so lange von der zweiten Aufklärung und den eingeschränkten Möglichkeiten des menschenverachtenden Selbstausdrucks eingeengt fühlten. Darüber, wie es so weit kommen konnte, gibt es unterschiedliche Theorien. Manche meinen, es zeige sich einfach, dass der Mensch im Grunde böse sei und jeder Versuch, ihn durch zivilisatorische Dressur zu nobilitieren, zum Scheitern verurteilt ist. Wenn er kann, tötet und mordet, vergewaltigt und betrügt er, buckelt vor den Stärkeren und tritt den Besiegten nach.
Andere sagen, das sei jetzt nur ein backswing: Die Sieger der einige Jahrzehnte dauernden Olympiade des betreuten Denkens hätten es einfach übertrieben mit dem Feiern, und der Rückfall ins Düstere sei jetzt nichts anderes als der ideologische Kater nach der woken Party. Die, so viel scheint sicher, ist fürs Erste vorbei. Ist das alles aber wirklich so? Sind wir zurück im 19. Jahrhundert, ist die Welt und der Mensch mit ihr von heute auf morgen reaktionär geworden?
Tektonische Verschiebungen in der kulturellen Erdkruste ereignen sich selten plötzlich – wenn, dann kommt es zu ideologischen Erdbeben und popkulturellen Vulkanausbrüchen, wie man sie zuletzt Ende der 60er-Jahre erlebt hat –, der Rest der zivilisatorischen Entwicklung geht eher langsam vonstatten. Ideelle Veränderungen kulminieren gelegentlich in unerwarteten Ereignissen, unerwartete Ereignisse triggern ideelle Verwerfungen, mal mäandert der globale Mahlstrom in die eine, mal in die andere Richtung.
Richtet man den Blick zurück auf die vergangenen fünf Jahre, so wird man nicht umhinkommen, zwei Ereignisse in den Blick zu nehmen, die zusammengenommen die Kraft hatten, viele der langsam ins Wanken gekommenen Sicherheiten nach dem „Ende der Geschichte“ 1989 endgültig zu Fall zu bringen: Die Pandemie hat gezeigt, wie leicht auch massive Grundrechtseingriffe den Staaten nach wie vor fallen, und der Überfall Russlands auf die Ukraine hat den Krieg zurückgebracht.
Vor allem der Ukraine-Krieg hat die Grenzen des inzwischen über den Gedanken einer regelbasierten internationalen Politik hinaus zum Standard erhobenen politischen Moralismus gnadenlos aufgezeigt und das Prinzip der Realpolitik mit erschütternder Macht reetabliert. Realpolitik wird dort zur Notwendigkeit, wo sich die moral- und regelbasierten Wunschvorstellungen nicht realisieren lassen. Natürlich müsste ein „gerechter“ Friede in der Ukraine die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes beinhalten, also zumindest die offiziellen Grenzen vor dem 24. Februar 2022, wenn nicht sogar vor der Annexion der Krim im Jahr 2014. Allerdings ist das nicht möglich, denn die Rückeroberung der von Russland eroberten Gebiete im Osten des Landes ist militärisch illusorisch, und zwar spätestens seit Herbst 2023.
Die Grundvoraussetzung für alles, was eine ukrainische Zukunft bedeuten kann, ist also die Tatsache, dass es keinen gerechten Frieden geben wird. Und auch keinen NATO-Beitritt. Und auch keinen EU-Beitritt, obwohl die nun schon in ihrer zweiten Amtszeit überforderte Kommissionspräsidentin einen solchen in Aussicht gestellt hat, und zwar noch vor 2030.
Die Stärke des Rechts ist die Zuflucht der Schwachen
Es dürfe nicht sein, dass sich Aggression lohne und das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ablöse, tönte es jetzt drei Jahre lang aus Brüssel und fast allen europäischen Hauptstädten, bis Jänner dieses Jahres auch aus Washington. Es dürfte vielleicht nicht sein, aber es ist so: Aggression lohnt sich, das Recht des Stärkeren hat die Stärke des Rechts abgelöst. Die Stärke des Rechts ist die Zuflucht der Schwachen. Wer ohne diese Zuflucht überlebensfähig sein will, muss sich vielleicht beizeiten darum kümmern, zu den Starken zu gehören.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.11/2025 erschienen.