Der demokratische Diskurs, wie wir ihn kannten, wird gerade abgefackelt. Als Brandbeschleuniger dient die Haltungssucht der öffentlich-rechtlichen Medien, die durch haltungsfromme Wissenschaftlerinnen unterstützt wird.
Unter den sogenannten Geisteswissenschaften ist diejenige, welche mir am meisten Schwierigkeiten in Bezug auf den Anschein ihrer Wissenschaftlichkeit bereitet, vermutlich die Politikwissenschaft (die Kommunikationswissenschaft ist entgegen weit verbreiteter Vorstellungen in dieser Hinsicht kein Problem, denn ich kenne niemanden, der sie für eine Wissenschaft hält). Besonders stark äußert sich dieses Unbehagen üblicherweise nach Wahlen im Allgemeinen, aber im Besonderen dann, wenn im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Politikwissenschafterinnen das Ergebnis erklären, so wie jüngst im ORF Andrea Römmele.
Ich erfahre vom ORF-Interviewer, dass es sich bei Frau Römmele um eine Professorin der Berliner Hertie School handelt, einer der großen NGO-Kaderschmieden der Bundesrepublik. Was ich nicht erfahre, ist das, was ich mir in einer Schnellrecherche im Anschluss an die Sendung zusammensuche, weil ich glaube, mich verhört zu haben. Als der ORF-Interviewer zu Frau Professor Römmele sagt, er danke ihr für ihre Analyse und verabschiede sich von ihr und sende Grüße nach Berlin, glaubte ich nämlich gehört zu haben, dass er sich von ihr verabschiede und Grüße in die SPD-Zentrale nach Berlin sende.
Konnte das sein?
Natürlich nicht. Wie kam ich dann darauf? Vielleicht, weil sie Sätze sagte wie den, dass die SPD sich nach diesem desaströsen Wahlergebnis eigentlich gern in der Opposition inhaltlich und personell regenerieren wolle, aber aus staatspolitischer Verantwortung bereit sei, mit der CDU/CSU eine Koalitionsregierung zu bilden. Nachdem ich inzwischen auch schon ein paar Jahrzehnte auf der Welt bin, dreieinhalb davon in der Beobachtung österreichischer und internationaler Politik verbracht, aber noch nie wahrgenommen habe, dass eine Partei nach einer Niederlage den Wunsch hatte, sich inhaltlich und personell in der Opposition zu regenerieren, wurde ich stutzig und klaubte mir in der Dauerausstellung des Weltgeistes im Internet ein paar Informationen zusammen.
Frau Professor Römmele, entnehme ich einigen Einträgen, war Teil des Wahlkampfteams sowohl von Gerhard Schröder als auch von Hillary Clinton, und die Kernthese ihres aktuellen Buchs („Demokratie neu denken“) lautet, ihren eigenen Angaben zufolge, dass zur Bewältigung der Szenarien unserer Welt von morgen ein „Umdenken (…) vonnöten“ sei: „Weg von der Maximierung des Privaten, hin zu einem Denken für das Kollektiv; weg von Zukunftsangst zu Zukunftsmut.“ Nun ist es ganz bestimmt nicht verboten, sich im Wahlkampfteam von Gerhard Schröder und Hillary Clinton zu engagieren, Gerhard Schröder und Hillary Clinton konnten außerdem jede wissenschaftliche Unterstützung gebrauchen, die sie bekommen konnten. Es ist auch bestimmt nicht verboten, das Kollektiv über das Individuum zu setzen, das tun praktisch alle, sowohl die linken Identitätspolitiker als auch die Herrenreiter des Völkischen. Deshalb mag ich ja beide nicht.
Sowohl die linken Identitätspolitiker als auch die Herrenreiter des Völkischen setzen das Kollektiv über das Individuum. Deshalb mag ich ja beide nicht
Soll also jeder Kollektivist sein, der will, meine Präferenz für den Individualismus ist ja gottlob auch nicht verboten. Bloß wenn mir idiosynkratischer Quatsch wie dieser als neutrale politikwissenschaftliche Analyse präsentiert wird, die es mir erleichtern soll, zu verstehen, was da in Deutschland gerade passiert ist, werde ich eher grantig. Dazu trägt auch bei, dass die Frau Professor auf die Frage des ORF-Interviewers, ob es denn nicht undemokratisch sei, wenn die AfD von der Regierung ausgeschlossen werde, obwohl sie 20 Prozent der Stimmen gewonnen und die größten Zuwächse zu verzeichnen habe, sagt: Das sei natürlich nicht undemokratisch, ganz im Gegenteil, CDU/CSU und SPD hätten miteinander eine Mehrheit, genau das sei Demokratie.
Wer hätte das je bezweifelt? Vermutlich nicht einmal AfD-Chefin Alice Weidel, auf deren Aussage sich der ORF-Interviewer in seiner Frage bezog. Denn naturgemäß ist jede Parlamentsmehrheit, die sich nach einer demokratischen Wahl findet, eine demokratische Mehrheit. Bloß geht es eigentlich um etwas anders, nämlich: Wenn ich einer demokratisch legitimierten Partei prinzipiell und von vornherein mitteile, dass man mit ihr niemals und unter keinen Umständen eine Koalition bilden könnte, weil sie nämlich eigentlich gar nicht demokratisch sei, haben wir vielleicht doch ein demokratiepolitisches Problem, und sei es nur dasjenige, dass man, wenn man eine Partei tatsächlich für undemokratisch hält, eigentlich doch versuchen müsste, ihr die demokratische Zulassung zu entziehen, wenn man glaubwürdig bleiben will.
Unnötig zu sagen, dass Frau Professor Römmele im Standard für ihre klaren und knappen Einschätzungen abgelobt wurde, man schätzt dort bekanntlich die Haltung mindestens so sehr wie die Wissenschaft, und wenn sich die beiden verbinden, umso besser. Man wird wohl früher oder später nicht umhinkommen zu bemerken, dass einer der effizientesten Brandbeschleuniger bei der Abfackelung des demokratischen Diskurses, wie wir ihn kannten, die Haltungssucht der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten und ihrer privaten Adoranten ist. Man kann Konsumenten immer eine Weile an der Nase herumführen, aber selten auf Dauer.
Was meinen Sie? Schreiben Sie mir: redaktion@news.at
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 9/2025 erschienen.