Es ist kurz vor sieben Uhr, als Murats Mutter die Wohnung verlässt und zum ersten von mehreren Putzjobs an diesem Tag aufbricht. Der Vater ist von der Nachtschicht noch nicht zurück, also macht sich der Achtjährige allein auf - in Richtung Schule. Es ist kalt an diesem Märzmorgen. Der kleine Bub wirkt verlassen, wie er dort ohne Haube und mit großem Rucksack zwischen den Häuserschluchten in Wien-Brigittenau steht, von zu Hause erzählt und wartet, bis seine Volksschule endlich ihre Tore öffnet.
Nur langsam gesellen sich weitere Kinder zu ihm. Männer mit Tschick im Mund lassen Kinder aus verqualmten Autos springen, Mütter mit Kopftuch oder Hidschab und mehreren Kleinkindern im Schlepptau streichen ihren Sprösslingen noch einmal über den Kopf, bevor sie vom Schulgebäude verschluckt werden.
382 Schüler werden in der Schmetterlingsvolksschule im 20. Wiener Bezirk unterrichtet. Wie Murat kommen die meisten aus sozial benachteiligten Familien. Wie Murat haben fast alle Migrationshintergrund. Nur 16 der 382 Schüler sprechen von Haus aus Deutsch. Jeder Dritte versteht so wenig Deutsch, dass er dem Unterricht nicht folgen kann. Insgesamt 31 verschiedene Landessprachen treffen in der Schmetterlingsschule aufeinander. Eine Herausforderung für Direktorin Ilse Riesinger und ihr Team.
Die Schmetterlingsschule mit ihrem hohen Anteil an nicht-deutschsprachigen Kindern ist in Wien bei Weitem kein Einzelfall. Jede zehnte Volksschule hat einen über 90-prozentigen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund.
In Wien spricht jedes zweite Kind zu Hause eine andere Sprache als Deutsch. Die Bundeshauptstadt ist damit österreichweit absoluter Spitzenreiter. In Vorarlberg liegt der Prozentsatz bei 25 und in Salzburg bei 21 Prozent. In Oberösterreich, Tirol, Niederösterreich, in der Steiermark und im Burgenland sind es deutlich weniger als 20 Prozent, und in Kärnten sprechen nur 13 von 100 Kindern zu Hause nicht Deutsch.
Das Sprachproblem allein wäre vielleicht noch bewältigbar. Zu einer bildungsund integrationspolitischen Sackgasse wird es in Wien aber vor allem durch die Tatsache, dass Migrationshintergrund oft mit geringem Bildungsniveau der Eltern und schwierigen sozialen Verhältnissen zusammentrifft. "Das Risiko eines Kindes, die Minimalstandards nicht zu erreichen, hängt im Wesentlichen von zwei Parametern ab: dem Bildungshintergrund der Eltern und dem Migrationshintergrund", sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel. Dieses Risiko erhöhe sich massiv, wenn es in der Klasse viele andere Kinder mit demselben Risiko gibt.
Keine andere Wahl
Von den Eltern, die ihre Sprösslinge an jenem Märzmorgen in der Schmetterlingsschule abgeben, spricht kaum jemand Deutsch. Auf die Frage, weshalb sie ihre Kinder ausgerechnet in diese Schule schicken, zucken viele mit den Schultern oder bedeuten, dass sie in der Nähe wohnen. "Viele Familien hier leben in Substandardwohnungen oder bei Verwandten. Sobald sie etwas Besseres finden, ziehen sie weiter", erzählt Direktorin Riesinger. Auch Flüchtlinge würden ihre Bleibe und damit die Schule immer wieder wechseln.
56 Schüler wurden seit September abgemeldet. 28 neue, sogenannte Seiteneinsteiger, kamen dazu. Für den Klassenverband und die Lehrerinnen, die sich laufend auf neue Schüler einstellen müssen, ist diese Fluktuation eine Herausforderung. So wie für die Schüler selbst, von denen manche noch nie eine Schule besucht haben.
Riesinger ist eine quirlige, herzliche Frau, die den 20. Bezirk mit seinen Herausforderungen genau kennt. Schon bevor sie vor zwölf Jahren die Leitung der Schmetterlingsschule übernahm, war sie als Lehrerin in Brigittenau tätig. Und sie möchte nirgendwo anders sein. Sie ist eine jener Menschen, die die Realität weder verklärt, noch verdammt, sondern einfach anpackt. Ihren Schützlingen nicht nur Lesen und Schreiben beizubringen, sondern auch grundlegende Lebenskompetenzen wie Rücksichtnahme, Toleranz, Ordnung oder Geborgenheit zu vermitteln, das ist ihr ein Herzensanliegen.
Eine besondere Herausforderung dabei ist natürlich die Sprache. Jene Kinder, die kein Deutsch sprechen, werden zunächst in Kleingruppen in eigenen Sprachförderkursen so lange unterrichtet, bis sie der Unterrichtssprache einigermaßen folgen können. "Der Großteil der Kinder lernt schnell", sagt Riesinger. "Mir geht dann immer das Herz auf, wenn ich beobachte, wie türkische, tschetschenische und arabische Schüler zusammensitzen und sich miteinander auf Deutsch unterhalten. Dann weiß ich, wir haben viel richtig gemacht." Die Regel sei das allerdings nicht. Meist kommunizieren die Kinder in einem Mix aus sämtlichen Sprachen, die sie kennen - einer Art Fantasiesprache. Forderungen einzelner Politiker, dass auf Pausenhöfen nur Deutsch gesprochen werden soll, entlocken Riesinger ein herzliches Lachen.
Die Angst der Mittelschicht
Realistischer wäre das, wenn die Migrantenkinder an Schulen wie der Schmetterlingsschule nicht nur unter sich bleiben würden. "Eine gute Durchmischung ist das A und O", sagt Ilse Riesinger. Schuld daran, dass das lediglich ein frommer Wunsch bleibt, ist freilich auch die österreichische Mittelschicht. Und die freie Schulwahl. Viele sogenannte Brennpunktschulen befinden sich in Gegenden, in denen junge Eltern gerne wohnen. Niedrige Mieten, hippe Bars und Multikulti-Milieu ziehen Jungakademiker an. So wie die Gegend um den Wiener Augarten, in dessen Nähe sich die Schmetterlingsschule befindet.
Viele Akademikereltern, erzählt Riesinger, sehen sich ihre Volksschule beim Tag der offenen Tür an und seien vor allem von der Mehrstufenklasse begeistert. Wenn sie aber hören, wie hoch der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund ist, entscheiden sich nur die wenigsten für die Schmetterlingsschule. Die meisten kommen nicht wieder.
Valerie M. kennt dieses Dilemma. Auch sie lebt mit ihrer bildungsaffinen Familie in einem Problembezirk. Ihren vollen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, denn noch hat sie keinen Schulplatz für ihre fünfjährige Tochter. Schon drei Jahre vor dem Schulstart begann sie, sich nach einer geeigneten Schule für ihr Kind umzusehen. Ihr Anspruch: "Ich möchte mein Kind nicht in einer Eliteblase parken. Sie soll den Anschluss an die reale Welt nicht verlieren. Andererseits möchte ich ihr natürlich auch ein gutes Fortkommen ermöglichen." Und dazu gehöre eben auch, dass ein Großteil der Schüler der Unterrichtssprache folgen kann, damit gewisse Bildungsstandards vermittelt werden können. "Viele Schulen in unserer Umgebung musste ich da leider ausschließen."
So wie Valerie denken viele: Wenn, wie im Fall der Schmetterlingsschule, mehr als ein Drittel der Kinder kein Deutsch sprechen, wenn Kinder wie Murat dem Unterricht kaum folgen können, weil zu Hause niemand ist, der sich um einen geregelten Tagesablauf, geschweige denn, um Hausaufgaben kümmert, wenn Kinder aggressiv sind, weil sie es nicht anders kennen oder traumatische Erlebnisse hinter sich haben, dann ist auch für die aufgeschlossensten Eltern eine Schmerzgrenze erreicht. Valerie hat zwar kein gutes Gefühl beim Gedanken, am Auseinanderdriften der Gesellschaft mitzuwirken, trotzdem hat sie ihr Kind sicherheitshalber in einer Privatschule auf die Warteliste setzen lassen. Gleichzeitig versucht sie, einen Platz in einer öffentlichen Schule mit Montessori-Schwerpunkt und "gutem Ruf" zu ergattern.
Run auf Privatschulen
Und damit befindet sie sich in guter Gesellschaft. Laut Bildungsbericht 2015 beantragen vor allem höher gebildete Eltern bedeutend häufiger einen Wechsel der Schule als Eltern mit weniger hohen Abschlüssen. Und vor allem Privatschulen werden häufig "von oberen Einkommens- und Bildungsschichten sowie von deutschsprachigen Familien gewählt". Während österreichweit nur jeder zehnte Schüler eine Privatschule besucht, ist es in Wien fast jeder fünfte. Und es wären vermutlich noch mehr, gäbe es mehr Angebote.
Die Wartelisten in vielen Volksschulen sind lang. Teilweise melden Mütter sicherheitshalber bereits ihre Neugeborenen in Privatschulen an. In Schulen wie der Lutherschule in Wien-Währing. Obwohl zwischen der Schmetterlingsschule und der Lutherschule nur 2,8 Kilometer Luftlinie liegen, trennen sie Welten. Die Lutherschule ist eine kleine, familiäre Traditionsschule, geführt von der Diakonie.
Eine eigene Welt
Verschleierte Frauen, wie sie das Bild vor der Schmetterlingsschule prägen, sucht man hier vergebens. Stattdessen werden adrett gekleidete Kinder mit Gitarren-und Geigenkoffern am Rücken von ihren Eltern mit Tretrollern, Fahrrädern oder SUVs vorgefahren. Das Schulgebäude, das an eine Miniaturausgabe von Harry Potters Hogwarts erinnert, strahlt eine in der Großstadt selten gewordene anheimelnde Wärme aus. Kindergarten und Hort samt Musikschule sind ins Schulgebäude integriert. Fragt man Eltern, warum sie ausgerechnet diese Schule ausgesucht haben, nennen die meisten zwei Gründe: Es ist eine liebevolle, behütete Schule, in der die Kinder kaum Aggressivität ausgesetzt sind. Und es wird überwiegend Deutsch gesprochen.
Das ist vor allem den Eltern mit Migrationshintergrund wichtig, die dafür auch ein zusätzliches Schulgeld von 160 Euro (ohne Mittagessen und Hort) in Kauf nehmen. Die meisten Migrantenkinder an der Lutherschule kommen aus dem EU-Ausland oder aus Russland. Acht der insgesamt 160 Schüler sind Flüchtlingskinder, deren Schulplatz von der Diakonie finanziert wird und die der Direktorin, Renate Heschl, besonders am Herz liegen.
Heschl, eine warmherzige, aufgeschlossene Frau, leitet die Schule seit zwölf Jahren und kennt alle ihre Schützlinge. Jeden von ihnen hat sie aus der großen Anzahl an Bewerbern persönlich ausgewählt. Sie kennt auch die Familien ihrer Schüler, die zum Teil bereits in dritter Generation die Lutherschule besuchen. Qualität statt Quantität und eine gute Atmosphäre sind der Direktorin besonders wichtig. Und sie sind offenbar ein Nährboden für guten schulischen Erfolg. 95 Prozent der Kinder an der Lutherschule wechseln nach den vier Volksschuljahren in eine AHS. In der Schmetterlingsschule ist es nicht einmal jeder Zehnte.
Quotenregelung?
Das liegt allerdings weder daran, dass die Kinder in der Privatschule per se klüger sind, noch daran, dass Privatschulen per se besser sind. Es liegt an ungünstigen Gruppenkonstellationen - an der Segregation, die bereits im Alter von sechs Jahren stattfindet. Die hat für die weitere Schullaufbahn fatale Konsequenzen. Rund 75.000 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren haben laut einer Arbeiterkammerstudie ihre Ausbildung vorzeitig abgebrochen. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind mit bis zu 26 Prozent besonders häufig betroffen, gefolgt von Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern und mit arbeitslosen Eltern (jeweils rund 18 Prozent). Nur knapp fünf Prozent dieser "Early School Leavers" sind ohne Migrationshintergrund.
Der Bildungsbericht 2015 empfiehlt für eine ausgewogenere Zusammensetzung der Schülerschaft, Strategien zur Beschickung einzelner Standorte zu entwickeln. Von der Idee, Kinder auf ihrem Schulweg quer durch Wien zu schicken, hält Heinrich Himmer, Wiens neuer Stadtschulratspräsident, wenig. Wie auch von der Forderung der FPÖ, die Anzahl der Kinder mit einer anderen Umgangssprache als Deutsch auf 30 Prozent zu begrenzen. Das gehe nicht nur an der Tatsache vorbei, dass in Wien mehr als 50 Prozent der Kinder eine andere Erstsprache haben, sondern würde wieder zu einer Selektion führen, die Menschen auf wenige Kennzahlen reduziere. "Schulen bilden nun mal gesellschaftliche Realitäten ab und die richten sich auch danach, was um die Schule herum passiert und wo wir unsere Wohnungen beziehen."
Um soziale Missstände an Schulen zumindest zu verbessern, brauche es zusätzliche Mittel für sogenannte Brennpunktschulen und mehr Geld für Sprachförderung, Sozialarbeiter, Psychologen, aber auch für Elternarbeit. Und es brauche einen Ausbau und einen leichteren Zugang zu Ganztagsschulen. Derzeit bekommen nur Kinder einen Platz in einer Ganztagsschule, wenn beide Eltern arbeiten. Himmer will dieses Angebot ausbauen, gerade für jene, die es brauchen. Jene, die Hilfe bei den Hausaufgaben benötigen, für die ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung keine Selbstverständlichkeit ist und die Sprachprobleme haben, weil zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird. Kinder wie Murat, der auch an diesem Märztag, wie immer, nach dem Ende der Halbtagsschule nach Hause geht. Allein.