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Wolfgang M. Schmitt: "Wir wissen und reden viel zu wenig über Wirtschaft"

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Wolfgang M. Schmitt

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"Wohlstand für alle" wünscht sich Wolfgang M. Schmitt in seinem gleichnamigen Podcast. Doch (wie) wäre das möglich? Und was haben Influencer mit all dem zu tun? Das erklärt der Moderator und Autor im Interview.

Herr Schmitt, wir würden gerne mit Ihnen über die Themen „Influencer“ und „Geld“ sprechen: Wie hängen die zusammen?
Wolfgang M. Schmitt: Influencer sind nicht einfach Menschen mit einer großen Reichweite in den sozialen Medien, sie sind in erster Linie Personen, die auf YouTube, TikTok oder Instagram durch Werbung für Produkte aller Art Geld verdienen und das dann gern „Content“ nennen, um die monetären Absichten zu verschleiern. Der Begriff Influencer stammt aus dem Marketing und dort ist er auch gut aufgehoben.

Man glaubt, die Welt durch Online-Shopping verändern zu können. „Bla bla bla“, würde wohl Greta dazu sagen.

Sie haben gemeinsam mit Ole Nymoen das Buch „Influencer – Die Ideologie der Werbekörper“ verfasst. Was steckt hinter dem Phänomen der Influencer?
Influencer sind eine neue Ausprägung des Konsumkapitalismus. Die Nachfrage schwächelt, die Influencer „inspirieren“, wie sie es selbst nennen, ihre Millionen Follower zum Kauf von Produkten, die sie eigentlich nicht brauchen, von denen aber behauptet wird, dass sie einen glücklich, schön oder gar zu einem besseren Menschen machen. Letzteres ist bei den sogenannten Sinnfluencern zu erleben: Da wird plötzlich für mehr oder weniger nachhaltige Produkte geworben. Man glaubt, die Welt durch Online-Shopping verändern zu können. „Bla bla bla“, würde wohl Greta dazu sagen.

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Sie verstehen Influencer-Marketing als ökonomische Notwendigkeit im Spätkapitalismus. Können Sie das erläutern?
Der Kapitalismus befindet sich im Westen seit den 1970er-Jahren in einer Dauerkrise. Wir haben einen hohen Sättigungsgrad erreicht, zugleich aber stagnieren auch die Löhne, sodass die Nachfrage nicht erheblich wachsen kann. Unternehmen haben immer größere Schwierigkeiten, noch weiter zu wachsen. Generell sind die westlichen Wachstumsraten bescheiden. Die Influencer helfen Unternehmen dabei, dass sich die getätigten Investitionen lohnen. Mit Marx gesprochen, dass sie aus Geld mehr Geld machen können, indem sie Waren an die Frau und an den Mann bringen.
Influencern gelingt das so gut, weil sie eine freundschaftliche, beinahe intime Ansprache wählen und so ihren Followern suggerieren, dass sie ihnen ganz nah sind. Die Follower möchten deshalb ihre Idole nachahmen, was bedeutet: sie wollen dieselben Produkte kaufen. Die Manipulation ist hier wesentlich größer als bei klassischer Werbung. Wenn wir Daniel Craig in einem Spot sehen, vermittelt er uns nicht das Gefühl, er sei so wie wir. Den Influencern ist etwas Unglaubliches gelungen: Sie sorgen dafür, dass sich Menschen plötzlich gerne und freiwillig Werbung ansehen.

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Wie lange wird es das Phänomen Influencer noch geben und was kommt danach?
Das Phänomen werden wir so schnell nicht mehr los, im Gegenteil: Es wird noch größer. Inzwischen werden durch Influencer-Marketing nicht nur Beauty-Produkte oder Fitness-Drinks beworben, sondern auch Bausparverträge, Aktienfonds und Versicherungen. Ob es ein Danach gibt, weiß ich nicht: Möglicherweise wird das Influencer-Marketing so ubiquitär sein, dass wir die Absurdität gar nicht mehr bemerken. Das klingt jetzt sehr pessimistisch, aber denken wir nur an die allgegenwärtigen Logos in der Mode: Wer hätte vor 100 Jahren gedacht, dass einmal Käufer von Kleidung zugleich gratis als Litfaßsäulen für Modekonzerne fungieren?

In dem Buch heißt es „In der Abstiegsgesellschaft scheinen noch einmal Aufstiegsträume wahr zu werden." Was verstehen Sie unter Abstiegsgesellschaft und lässt sich dieser Abstieg noch aufhalten?
Die Ungleichheit wächst. Ökonomen wie Thomas Piketty oder Branko Milanović haben das in Studien detailliert nachgewiesen. Zwar schaffen heute mehr Menschen im Westen als früher den Bildungsaufstieg, doch dieser führt nicht mehr zu einem finanziellen Aufstieg. Bestens ausgebildet, mehrsprachig und mit Auslandserfahrung können sich junge Menschen in Städten die Mieten kaum leisten. Wer nicht erbt, denkt mit Anfang 20 schon an die Altersarmut. Der Soziologe Oliver Nachtwey spricht von der „Abstiegsgesellschaft“.

„Lebe deinen Traum“, rufen sie ihren Followern zu, die jedoch nicht mehr länger träumen können, da gleich die Frühschicht beginnt.

Ole Nymoen und ich konnten sehen, wie diese Thematik von Influencern nie explizit aufgegriffen wird. Denn die Influencer stehen für die Ausnahme, die sie jedoch perfiderweise zur Regel erklären. „Jeder kann es schaffen, denn ich habe es auch geschafft“, sagen uns die Posts. „Lebe deinen Traum“, rufen sie ihren Followern zu, die jedoch nicht mehr länger träumen können, da gleich die Frühschicht beginnt. Die systemische Ungleichheit wird auf das Individuum abgewälzt. Viele Follower schlucken diese bittere Pille, was sich in Deutschland auch daran zeigt, dass die FDP – die keine Vermögens- oder Erbschaftssteuer, keine finanziellen Erleichterungen für Studenten, keine Entlastung für Menschen mit niedrigen Einkommen, kein soziales Bauen und Wohnen will – bei den Erstwählern jüngst 23 Prozent erreichte. Eigentlich müsste die FDP jedem Influencer als Dankeschön eine Rolex schenken.

Kommen wir zu ihrem Podcast „Wohlstand für alle“. Wie kommt ein Literaturwissenschaftler auf die Idee einen Podcast rund um Geld, Wirtschaft und Finanzen zu machen?
Literatur und Ökonomie hängen eng miteinander zusammen. Nehmen wir nur Klassiker wie „Die Buddenbrooks“, „Robinson Crusoe“, „Faust II“ – immer spielt Geld eine wichtige Rolle. Und auch Schriftsteller müssen von etwas leben. Wenn man etwa die Briefwechsel von Thomas Bernhard oder Peter Handke mit ihrem Verleger Siegfried Unseld liest, ist man zunächst verwundert: Es geht selten um Literatur, sondern meist um Vorschüsse, Tantiemen und Rechnungen.

Wen wollen Sie mit Ihrem Podcast ansprechen?
Alle, die sich für Wirtschaft interessieren und alle, die noch nicht wissen, wie interessant Wirtschaft sein kann. Das ist der Vorteil am Netz. Viele unserer Hörerinnen und Hörer schreiben uns, dass sie nur mal eine Folge eher aus Versehen angeklickt haben, dann jedoch nicht mehr aufhören konnten.

Wenn in einer (positiven) Kritik zu Ihrem Podcast zu lesen ist: „Nymoen und Schmitt betreiben damit eine neuartige Form der Audio-Volkshochschule“, freut Sie das oder fühlen Sie sich damit doch etwas abgewertet?
Das ist völlig in Ordnung. Wenngleich Ole und ich vielleicht ein bisschen unterhaltsamer sind. Mit Volkshochschulen verbindet uns, dass es keine Einstiegshürde gibt. In der Podcast-Welt sind Zertifikate und Titel unerheblich.

Am Ende weiß kaum einer an der Wahlurne, was die einzelnen Parteien wirtschaftlich wollen und wie sich das im eigenen Portemonnaie auswirken wird.

Setzen wir uns gesamtgesellschaftlich eigentlich ausreichend mit den Themen Geld und Wirtschaft auseinander? Wenn nein, warum nicht? Das Thema betrifft doch alle.
Wir wissen und reden viel zu wenig über Wirtschaft. Eigentlich müsste es uns alle angehen, aber weder gibt es von Seiten der meisten Wirtschaftswissenschaftler und Politiker das Ansinnen, Menschen aufzuklären, noch sind viele Menschen zu systematischem und abstraktem Denken bereit. Das können wir bei jedem Wahlkampf erleben: Wir konzentrieren uns auf unsinnige Personaldebatten, schmutzige Skandale oder alberne Petitessen. Am Ende weiß kaum einer an der Wahlurne, was die einzelnen Parteien wirtschaftlich wollen und wie sich das im eigenen Portemonnaie auswirken wird. Mit unserem Podcast wollen wir das ändern.

In einer Folge sagen Sie, dass wir immer so tun, als seien wirtschaftliche Prozesse und Gegebenheiten natürlich, als sei zum Beispiel eine 40-Stunden-Woche ein "Naturgesetz.“ Warum ist das so, warum agieren wir so?
Konservative Ökonomen und Politiker versuchen Menschengemachtes zu naturalisieren. Wir können das auch beim Klimawandel erleben, der erst seit einigen Jahren von einer breiten Mehrheit als menschengemacht angesehen wird. Indem man versucht, etwas als „natürlich“ zu deklarieren, sagt man: Wir können es nicht ändern. So wurde schon in feudalen Zeiten Armut gerechtfertigt. Auch wird heute gern so getan, als sei der Kapitalismus schon immer die herrschende Ordnung gewesen, dabei ist er ein neues, bloß 300, 400 Jahre altes Phänomen. Und die 40-Stunden-Woche ist ein Kind des 20. Jahrhunderts.

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Immer wieder ziehen sie Karl Marx und sein Hauptwerk „Das Kapital“ zu Rate. Gibt es auch Dinge, die mit den marxistischen Perspektiven nicht zu erklären sind?
Ja, einige sogar. Marx kann uns wenig über die aktuelle Geldpolitik der Zentralbanken sagen, dieses moderne Geld ist erst 50 Jahre alt. Marx konnte auch die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften, die von Aktivsten, Gewerkschaften und Revolutionären erkämpft wurden, nicht voraussehen. Dennoch ist Marx hochaktuell, um Ausbeutung zu verstehen, um Kapitalinteressen zu analysieren und die dramatischen Zustände im globalen Süden einzuordnen.

Ihr Podcast nennt sich „Wohlstand für alle“. Wie, denken Sie, ist das möglich bzw. wie könnte man dem tatsächlich so nahe wie möglich kommen?
Der Titel meint nicht, alle können oder sollen Millionär werden. Aber tatsächlich könnten im reichen Westen alle Bürger ein Leben ohne Existenzangst, ohne Kinderarmut, ohne Repressionen für Sozialhilfeempfänger führen. Problemlos könnten wir uns eine bessere Infrastruktur, Bildung, mehr Klimaschutz und soziales Wohnen leisten. Geld ist vorhanden: Der Staat kann – wie Japan und die USA zeigen – viel mehr Schulden für sinnvolle Investitionen aufnehmen. Und er kann Vermögen und Erbschaften stärker besteuern. Eine Erbengesellschaft ist keine Leistungsgesellschaft.

Können Wirtschaftswachstum und Klimaschutz Hand in Hand gehen?
Momentan sicherlich noch nicht. Die industrielle Produktion ist entscheidend für das Wirtschaftswachstum, weshalb die Regierungen zwar recht problemlos einen Lockdown für Friseure und Restaurants verhängen konnten, die Schornsteine der Fabriken aber weiter rauchten. Mit einem reinen Dienstleistungssektor, der klimaneutral sein könnte, wäre kein dauerhaftes Wachstum möglich. Ein Friseur kann vielleicht drei Kunden die Haare schneiden, das ist nicht skalierbar. Während in der Produktion durch Rationalisierung und Technisierung Produktionszuwächse und damit Wachstum möglich ist. Dennoch bietet der Klimaschutz sehr viele neue Märkte. Nehmen wir nur klimaneutrales Bauen: Das Handwerk hat jetzt schon goldenen Boden, wenn künftig aber klimaneutrales Wohnen gewünscht und gefördert wird, werden sich viele Firmen vor Aufträgen nicht retten können. Oder denken wir an Solar- und Windenergie. Das sind enorme Wachstumsmärkte.

Wir sollten den Kapitalismus nicht so sehr hassen, dass wir seine Errungenschaften – ein gewisser Grad an individueller Freiheit, Selbstverwirklichung und Kreativität – gleich mit über Bord werfen.

Was stört Sie am aktuellen Wirtschaftssystem?
Vor allem zwei Dinge, erstens: Seine Kurzsichtigkeit. Wir könnten längst nahezu klimaneutral produzieren, wenn wir vor 30 Jahren die große Transformation begonnen und auf kurzfristige Gewinne verzichtet hätten. Zweitens: Der Kapitalismus tendiert zu Monopolstrukturen und zu wachsender Ungleichheit. Ohne härtere Regulierungen wird unsere Gesellschaft immer kälter. Ich warne aber vor einem billigen Anti-Kapitalismus. Es gibt einen schönen Satz der Schauspielerin Zsa Zsa Gabor, die immerhin achtmal verheiratet war: „Ich habe nie einen Mann so sehr gehasst, dass ich ihm seine Diamanten zurückgegeben hätte.“ Das gilt auch für eine kluge Kritik: Wir sollten den Kapitalismus nicht so sehr hassen, dass wir seine Errungenschaften – ein gewisser Grad an individueller Freiheit, Selbstverwirklichung und Kreativität – gleich mit über Bord werfen.

Was macht Geld mit Menschen?
Im besten Falle freie Individuen. Geld ermöglicht uns, den Ort oder die Familie zu verlassen, wenn wir uns nicht wohlfühlen und irgendwo neu zu beginnen. Geld gewährleistet eine reibungslose Interaktion in der modernen Welt. Wenn aber jemand nur noch Geld um des Geldes Willen anhäuft, haben wir es mit einem armen Menschen zu tun. Ich muss immer an den Eisenbahnmogul Morton aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ denken: Er ist todkrank und hat nur noch wenige Wochen zu leben. Anstatt nun aber einmal etwas Schönes zu erleben, hinauszutreten in die Weite der Landschaft, kämpft er verbittert und verlassen darum, noch ein paar weitere Meilen Schienen zu verlegen, um seinen Profit zu steigern.

Leider kleiden und verhalten sich die Menschen in der Öffentlichkeit immer öfter so, als säßen sie in ihrem Wohnzimmer.

Kleider machen Leute…Sie sind bekannt dafür, dass sie fast ausschließlich Anzüge tragen. Was wollen Sie damit ausdrücken?
Ich finde Anzüge sehr praktisch. Man ist immer korrekt gekleidet. Noch wichtiger aber ist: Wir sind heute mehr Menschen denn je, hinzu kommt die Urbanisierung – das heißt, viele Menschen auf wenig Raum. Damit das funktionieren kann, sollten wir einander nicht belästigen, sondern Diskretion wahren. Leider aber kleiden und verhalten sich die Menschen in der Öffentlichkeit immer öfter so, als säßen sie in ihrem Wohnzimmer.

Wofür geben Sie gerne Geld aus?
Für Museums-, Theater und Opernbesuche, für Bücher, Anzüge und Parfums.

Besitzen Sie eigentlich Aktien?
Nein, das unterscheidet mich von Marx. Er handelte eine Weile mit Aktien.

Sind Sie eher ein optimistischer oder ein pessimistischer Mensch?
Sagen wir: melancholisch.

© privat

Steckbrief

Wolfgang M. Schmitt

geboren
30.11.1986
Beruf
Filmkritiker, Webvideoproduzent, Podcast-Moderator und Autor

Wolfgang M. Schmitt ist - gemeinsam mit Ole Noymoen - Moderator des Podcasts "Wohlstand für alle", worin sich die beiden "locker, unkonventionell und unorthodox sowie mit der Lust an der Erkenntnis" dem Thema Wirtschaft widmen. Gemeinsam haben die beiden auch das Buch "Influencer - Die Ideologie der Werbekörper" verfasst. Schmitt widmet sich in einem weiteren Podcast mit dem Titel "Salon" den "neuen Zwanzigern". Bekannt wurde der studierte Literaturwissenschaftler mit seiner Reihe "Die Filmanalyse" auf YouTube.

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