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WEGA-Chef: "Ich hatte sofort die Anschläge von Paris im Kopf "

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WEGA-Chef: "Ich hatte sofort die Anschläge von Paris im Kopf "
©Bild: Matt Observe
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Es ist der erste Jahrestag des terroristischen Anschlags von Wien. Am 2. November 2020 erschießt Kujtim F. vier Menschen und verletzt Dutzende. Wie genau konnte er gestoppt werden? WEGA-Chef Ernst Albrecht gewährt Einblicke in die Polizeitaktik der Terrornacht.

Können Sie sich erinnern, wie Sie den 2. November 2020 verbracht haben?
Ich hatte einen normalen Arbeitstag, musste vorwiegend administrative Dinge erledigen und hatte am Abend Dienstschluss. Eigentlich wollte ich pünktlich nach Hause. Ich war schon umgezogen, unterhielt mich aber noch.

Wie haben Sie von der Schießerei erfahren?
Ein Kollege kam in die Dienstführung und teilte mit, dass gerade ein Einsatz vergeben wurde, bei dem von Schüssen im ersten Bezirk die Rede war. Daraufhin schalteten wir unsere Funkgeräte auf.

Wann war Ihnen klar, um welche Situation es sich handelt?
Am Anfang noch nicht. In Wien ist es üblich, dass mehrmals am Tag Menschen anrufen, weil sie vermeintlich Schüsse gehört haben. Das sind oftmals nur Knallkörper, ein Auspuff oder eine Schreckschusspistole. Deshalb bin ich nicht sofort losgesprungen. Aber die Stimme des Kollegen am Funk war aufgeregt, und er bestätigte, dass in der Stadt jemand mit Schusswaffe unterwegs ist. Kurze Zeit später schrie ein anderer Kollege in das Funkgerät, dass einer unserer Männer angeschossen wurde. Das war das Go für uns.

Sie sind dann zum Einsatzort gefahren?
Ich bin schnell rüber in mein Büro, hab mich umgezogen und bin mit zwei Kollegen hin. Noch während der Fahrt kam der Funkspruch, dass der Täter am Boden ist. Es hieß: Schusswaffengebrauch durch WEGA-Beamten.

Die Priorität lag darauf, weitere mögliche Täter zu finden

Wohin sind Sie zuerst?
Ich bin sofort zum Tatort hin und habe mich mit den Kollegen unterhalten, die in den Schusswaffengebrauch involviert waren. Der Täter trug eine Sprengstoffattrappe am Gürtel. Deshalb mussten wir weiträumig absperren. Das Ganze in einem Szenario, wo sich die Funksprüche überschlugen mit Alarmierungen über mögliche weitere Täter, laufend kamen Notrufe rein von verletzten Personen. Dann die permanente Beschallung durch die Blaulichtsirenen. Das war sehr hektisch, das hat das konzentrierte Arbeiten erschwert.

Welche Entscheidungen mussten Sie vor Ort treffen?
Grundsätzlich ist meine Aufgabe, Struktur in so eine Situation zu bringen. Das heißt, ich organisiere die Einsatzkräfte vor Ort. Aber das war in der ersten sogenannten Chaosphase nicht möglich. Wir hatten keinen Überblick. Laufend kamen neue Notrufe ein. Die Lage war nicht vorbei mit dem am Boden liegenden Täter. Alle mussten alles machen. Die Priorität lag darauf, weitere mögliche Täter zu finden.

Die gab es aber nicht.
Das wussten wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Zeugen und Verletzte gaben an, dass noch ein Täter mit einer schwarzen Jacke davongelaufen ist. Im Nachhinein war klar, dass das selbst ein Passant war, der in seiner Panik weglief. Über Funk kamen immer wieder neue Alarmierungen. Einmal hieß es, bewaffneter Mann auf dem Weg zur Feuerwehr, dann Geiselnahme, dann weitere Schüsse. Diese Einsatzlagen sind eskaliert. Es hat gedauert, bis wir die Situation so unter Kontrolle hatten, wie die Theorie es vorschreibt.

Wie ist der Einsatz, bevor Sie da waren, abgelaufen?
Das Konzept der Polizei in solchen Situationen ist, den Täter zu stressen. Dadurch, dass die Polizei den Täter konfrontiert und ihn verfolgt, wird sie für ihn zum Störfaktor. So haben wir gute Chancen, den Täter aus seiner Bahn zu schmeißen. Das ist für die Polizistinnen und Polizisten sehr gefährlich, weil sie als Köder fungieren. Sie lenken die Aufmerksamkeit des Täters auf sich. Die Streifenpolizisten, die damals Dienst hatten, haben ein hohes Maß an Opferbereitschaft gebracht. Die haben sich der lebensgefährlichsten Situation von allen beteiligten Polizisten gestellt. Sich mit einer Pistole einem Militärgewehr entgegenzustellen, sich als Köder anzubieten, damit anderen Menschen nichts passiert, das ist für mich der Heilige Gral des Polizeidienstes.

Wie geht es dem Streifenpolizisten, der beim Einsatz angeschossen wurde?
Ich habe gehört, dass es ihm wieder verhältnismäßig gut geht. Er hatte aber sehr schwere Verletzungen.

Wann wussten Sie, dass das ein Terroranschlag war?
Ich war beim Täter, als er tot am Boden lag. Von seiner Physiognomie her, von der ganzen Außenwirkung erinnerte er an einen Islamisten. Da hatte ich eine Vorahnung. Außerdem schied das Thema Amok mehr und mehr aus, nachdem es hieß, dass es weitere Täter geben könnte. Denn dass mehrere Täter Amok laufen, ist eher untypisch. Maximal zwei, aber auch dann muss man von einer Verbindung sprechen, die eher eine andere Motivlage hat. Ich hatte sofort die Anschläge von Paris im Kopf.

Sie haben erzählt, dass Sie noch in der Kaserne waren, als Sie hörten, dass ein Kollege angeschossen wurde. Hat das einen Unterschied für Sie gemacht, dass es ein Kollege war?
Nein, das war eine wichtige Erstinformation, dass jemand definitiv angeschossen wurde. Bis dahin wussten wir von keiner verletzten Person. Es hat also den Unterschied gemacht, weil in dem Moment klar war, dass es ernst ist, dass es sich um eine scharfe Waffe handelt. Das hatte weniger mit dem Status des Kollegen zu tun als mit dem Umstand, dass eine Person niedergeschossen wurde.

Es gab die Passanten, die den Polizisten in Deckung gezogen haben. War das Zivilcourage oder eher ein Risiko für die Polizei?
Das kann beides sein. Es kommt darauf an, wie es wahrgenommen wird. Aber egal, ob man Polizist ist oder eine Zivilperson, man muss sich erst mal bedanken. Wenn man selber nicht mehr in der Lage ist, sich in Deckung zu bewegen, und es hilft einem jemand dabei, dann darf man das nicht negativ belegen. Noch dazu war das ja ein Risiko für die Zivilpersonen. Aber ein verletzter Polizist, der plötzlich von zwei Menschen weggezogen wird, der begreift unter Umständen nicht sofort, dass er gerettet wird. Das sind ja alles nur Sekunden.

Sich als Köder anzubieten, damit anderen Menschen nichts passiert, das ist für mich der Heilige Gral des Polizeidienstes

Der Täter wurde von einem WEGA-Polizisten erschossen. Musste er getötet werden?
Nein. Wenn es durch eine reine Schussabgabe gelingt, einen Täter dazu zu bringen, keine Menschen mehr zu gefährden, dann gibt es keinen Bedarf, ihn zu töten. Im Gegenteil. Das ist sogar das Gebot für Polizistinnen und Polizisten. Den finalen Rettungsschuss wie in Deutschland gibt es bei uns nicht. Es geht nur darum, dass der Täter nicht mehr gefährden kann. Wenn es damit endet, dass er am Ende noch lebt, um so besser.

Wohin zielen Polizisten?
Jedenfalls nicht dorthin, wo es im Film und Fernsehen gezeigt wird. Den legeren Oberschenkeltreffer, wo der Täter schreiend zu Boden geht, das wird weder geschult noch macht es Sinn. Wenn Schütze und Täter in Bewegung sind, sinkt auch die Trefferquote. Arme, Beine und Kopf bewegen sich viel. Dementsprechend sucht man sich das größte Ziel aus. Das ist der Oberkörper. Der bleibt relativ statisch. Speziell in Notwehrsituationen. Es kommt aber auch darauf an, was man überhaupt vom Täter sieht. Wenn ich nur einen anderen Körperteil sehe, dann kann ich nicht warten, bis ich ihn im Bauch treffe.

Wie geht es dem WEGA-Polizisten, der den tödlichen Schuss abgegeben hat?
Ich kenne den Kollegen seit etwa 20 Jahren und glaube, zu wissen, dass er offen und reflektiert damit umgeht. Er ist niemand, der sich hinstellt und prahlt. Im Gegenteil, er hätte sich das lieber erspart. Denn wie nach jedem Schusswaffengebrauch gab es danach polizeiliche Ermittlungen, bei dem der Betroffene stundenlang einvernommen wurde. Es gab einen Lokalaugenschein. Das muss man sich so vorstellen, dass der Kollege zum Tatort zurückkehrt. Mit dabei sind der Staatsanwalt, der Haftrichter, der Gerichtsmediziner, der Schießsachverständige, der eigene V0rgesetzte. Alle mit ernstem Gesicht. Dann muss der Kollege Fragen beantworten: Wo standen Sie? Wo war der Täter? Wie oft haben Sie geschossen? Und so weiter. Jede Antwort wird von den Sachverständigen zerlegt. Das ist belastend. Aber um auf den Kollegen zurückzukommen: Ich glaube, es geht ihm jetzt den Umständen entsprechend gut. Er ist ein Profi.

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Ernst Albrecht rät dazu, in solchen Situationen nicht den Helden zu spielen. Besser weglaufen! © Matt Observe

Was ist das Schlimmste für einen Polizisten, der im Einsatz getötet hat?
Gott sei Dank musste ich nie selbst jemanden töten. Aber ich weiß aus vielen Gesprächen mit Kollegen, was die Belastungsreaktionen sein können. Die kognitive Verarbeitung passiert erst langsam. Solange so ein Ereignis nicht verarbeitet wird, können oftmals Gerüche oder Geräusche sogenannte Flahsbacks erzeugen, also dass das Ereignis immer wieder abgerufen wird. Schlafstörungen, das Gefühl der sozialen Isolation. Alles das kann passieren. Wichtig ist, dass der Betroffene weiß, dass es das gibt. Damit er weiß, dass er ganz normal ist.

Welche Auswirkungen hatte der Einsatz auf Ihre Truppe?
Wir sind bei einer Spezialeinheit. Bei uns ist es erwartbar, dass wir in Situationen kommen, wo das notwendig wird. Was bei uns im Haus sehr ausgeprägt ist, ist der Teamgedanke. Insofern hat es etwas mit der Truppe gemacht, also dass alle noch ein Stück näher zusammen gerückt sind.

An diesem Abend wurde viel in sozialen Medien gepostet. Auch von seriösen Journalistinnen und Journalisten. Dabei sind Fehler passiert. Was würden Sie sich in so einer Situation von Medienleuten wünschen?
Sie sollen nur das schreiben, was sie auch wirklich wissen. Jeder will seinen Senf dazugeben, aber das tut uns nicht gut. Das erleben wir im Polizeibereich genau so. Informationen werden im eigenen Freundesoder Familienbereich weitergegeben, ohne dass der Kollege wirklich weiß, was los ist. Und plötzlich bekommen wir Rückfragen von der Pressestelle. Das erschwert den Einsatz. Das Posten der Videos von der Seitenstettengasse, das war nicht gut, weil wir damit so viele Fehleinsätze hatten. Denn so waren die Menschen dort viel sensibler und damit in ihrer Wahrnehmung verändert. Der Mann, der im schwarzen Outfit eine Straße entlangging, wurde plötzlich als Terrorist wahrgenommen. Solche Sachen haben die Zahl der Fehleinsätze explodieren lassen. Fehleinsätze fressen nicht vorhandene Zeit und Personal, das im schlimmsten Fall dann woanders fehlen könnte.

Gott sei Dank musste ich noch nie jemanden erschießen

Sie haben einen Sohn, der bei der Berufsrettung arbeitet und an diesem Abend als Notfallsanitäter im Dienst war. Hatten Sie Zeit, mit ihm Kontakt aufzunehmen, um zu fragen, wie es ihm geht?
Ich wusste zwar, dass er Nachtdienst hatte, aber in so einem Einsatz ist der Gedanke an die eigene Familie weg. Ich war so fokussiert, da ist kein Platz für die emotionale Seite. Kollegen haben mir später mitgeteilt, dass mein Sohn eine Schwerverletzte vor Ort erstversorgt und dann abtransportiert hat. Da wusste ich, dass er in meiner Nähe war. Erst um elf Uhr haben wir kurz Nachrichten ausgetauscht, und dann wusste ich, dass alles gut ist.

Wie sollten sich Menschen verhalten, wenn es zu einer ähnlichen Gefahrensituation kommt?
Zivilcourage ist großartig, aber in so einer Situation ist es besser, wegzulaufen. Prinzipiell nicht den Helden spielen. Natürlich kann man von niemandem verlangen, der in akuter Lebensgefahr ist, dass er sich nicht wehrt, aber diese Filmund Fernsehhelden sind unrealistisch. Es ist besser, in Deckung zu gehen. In einen Bereich zu kommen, den ich vielleicht sogar versperren kann. Wichtig ist vielleicht, wenn es möglich ist, die Polizei dahingehend unterstützen, dass man Informationen sammelt. Vielleicht aus einer Position heraus, aus der man sich etwas einprägt. Wie schaut der Täter aus? Es gab ja auch eine Upload-Plattform für Videos. Das war hilfreich. Auch wenn ich das Filmen in solchen Situationen nicht mag, aber das war natürlich ein Vorteil.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 43/2021.

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