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Martin Walser, der Letzte der Nachkriegsweltliteratur

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Heinz Sichrovsky
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Die moralisierende Krawallsucht des Feuilletons hat dem letzten Großen der Generation Böll, Grass und Lenz übel zugesetzt. Die persönlichen Erinnerungen betreffen einen Mann, den man nicht brechen konnte

Der arme Grillparzer, dem es unter Tränen die Rede verschlug; der dreist anbiedernde Dichterling Zacharias Werner; der hitzig verglühende Schiller; der junge Eckermann, mit angehaltenem Atem Protokoll über Halbverstandenes führend: Zum Thema "Wallfahrt nach Weimar" wurden einst germanistische Konvolute veröffentlicht.

Rückte unsereins zwei Jahrhunderte später in Überlingen am deutschen Bodenseeufer ein, so schien die Goethe-Zeit einen Abglanz ihrer selbst dorthin gerettet zu haben. Stets schickte Martin Walser, dem der Goethe'sche Habitus nicht ungelegen kam, die unerschütterliche Ehefrau Käthe zum Empfang vor, die Mutter der Töchter Franziska, Johanna, Alissa und Theresia, die allesamt starke Stimmen in der Kunst erhoben. Als er, getrieben vom nie stillbaren Lebensdurst, vor einigen Jahren dieses Kraftzentrum aufgab, um in München mit einer viel jüngeren Schriftstellerin zu leben: Da kam er wenig später geschlagen und am Ende seiner Kräfte zurück und schrieb doch jedes Jahr ein Buch. Am Ende waren es keine Romane mehr, sondern zusehends weltentrückte Skizzen und Träume. Erreichen konnte ich ihn damals nicht mehr, und dann kam Corona, und Anfragende wurden mit wenig Hoffnung auf die Zeit nachher verwiesen. Aber nicht zu schreiben, das wäre der Tod gewesen. Und ist nicht der 2018 bei Rowohlt erschienene Interviewband "Ich würde heute ungern sterben" betitelt?

Unter den Gesprächspartnern der Jahre 1978 bis 2016 bin, eine Ehre, mit Datum Juli 2003 auch ich zu finden: ein Jahr, nachdem feuilletonistische Schlägerbanden über Walser hergefallen waren. Vom Mainzer Faschingsnarren bis zum Großkabarettisten bediente sich damals jeder am gut imitierbaren Idiom des Kritikers Marcel Reich-Ranicki. Aber mehr hatte Walser nicht gebraucht, als den Widersacher im Roman "Tod eines Kritikers" habituell und idiomatisch zu karikieren! Reich-Ranicki hatte ihn, wie auch den augenhohen Zeitgenossen Grass, strategisch zur Weißglut getrieben: Stets wehklagte er, die beiden Verfasser nachkriegszeitlicher Weltliteratur hätten nichts ausreichend Adäquates hinterhergeschickt. Walser bot den unveröffentlichten Roman der FAZ zum Abdruck an, und dort nahm man unredlich die Gelegenheit zum Krawall wahr. Der Text sei antisemitisch, blökte alsbald das halbe deutsche Feuilleton hinterher. Walsers Verleger Siegfried Unseld lag im Sterben, und seine Frau und Nachfolgerin Ulla Berkewicz hatte noch nicht die Souveränität, den böswilligen Unfug kategorisch zurückzuweisen. Der Roman erschien mit Veränderungen, und Walser ging von Suhrkamp zu Rowohlt. Im News-Gespräch drohte er damals mit donnerndem Echo, auf die andere, die österreichische Seite des Bodensees übersiedeln zu wollen (es kam nie dazu).

Als wir ein Jahr später wieder mit einander sprachen, erschien gerade die Liebesgeschichte "Meßmers Reisen", und Walser zitierte als finalen Kommentar zur Lage aus dem Werk: "Du mußt dir eine Blöße geben, besser noch zwei Blößen. Dann erfährst du, wie die Leute zu dir stehen."

Das Feuilleton hatte nicht zum ersten Mal an ihm versagt: 1998 hatte er sich anlässlich der Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche gegen den inflationären, also bagatellisierenden Umgang mit dem Holocaust verwahrt. Wie da das Geblök der Selbstgewissen gleich losbrach! So wie zeitgleich gegen Peter Handke, der die Ex-cathedra-Verfügungen der Nato zum Jugoslawien-Krieg frevelnd in Frage stellte (was ihm noch 21 Jahre später aus Frankfurter Würstel- bzw. Zürcher Geschnetzeltenkreisen schwer verübelt wurde). Zwei Jahre nach dem Multiorganversagen an Walsers Reich-Ranicki-Roman donnerten dann Bierfürze wider den Nobelpreis für Elfriede Jelinek, heute die einflussreichste Person des europäischen Theaters.

Jetzt merke ich mit Schrecken, dass der Platz verbraucht ist, ohne dass ich Walsers Werk auch nur annähernd würdigen hätte können. Kein geringes Versäumnis in Zeiten abgeschaffter Leselisten für die Deutsch-Matura. Mantra-artig bewegt ihn der schwache, in seinem Ego bedrängte Mann, der sich in die trügerischen Gewissheiten des deutschen Wirtschaftswunders gerettet zu haben meint und untergeht. Ist es unbillig, wenn ich Sie bitte, Walsers unüberblickbarem Werk eine Chance zu geben? Nicht nur dem "Fliehenden Pferd", mit dem er sich 1977/78 als prägende literarische Gestalt der Bundesrepublik neben Böll, Grass und Lenz in die Weltliteratur eingetragen hat. Übersehen Sie zumindest nicht "Ein springender Brunnen" (1998), "Angstblüte" (2006) und "Ein liebender Mann"(2008). Er rechnet da das Begehren des greisen Goethe nach der 19-jährigen Ulrike von Levetzow auf die eigenen Seelenstürme hoch, und zum Vollverständnis der Analogien muss man möglicherweise in Überlingen am Bodensee gewesen sein.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz  news.at

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