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Verliebt in einen Fremden

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Dr. Monika Wogrolly

©News/Matt Observe
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Was es schon immer gab, hat dank TikTok einen Namen bekommen: Mit dem Begriff „Delusionship“ wird die Liebe zu einem vollkommen fremden Menschen bezeichnet. Der oft von seinem Glück gar nichts weiß

Und genau darum geht es bei Delusionship-Beziehungen: Sie spielen sich zumeist nur als Kopfkino ab. Bei Irene allerdings schon auf oscarverdächtigem Niveau: Sie deutet wirklich alles im Hinblick auf mögliche Zeichen der Liebe. Es geht um einen unbekannten, namenlosen Mann, der ihr vor – jetzt halten Sie sich fest – viereinhalb Jahren über den Weg lief. Irenes Wunschdenken zufolge hatten sich beide damals Knall auf Fall in einander verliebt. Irenes Hollywood inspirierter Fantasie gehen die dramatischen Wendungen in diesem Drehbuch der Illusionen nicht aus. Es folgt als klassischste Deckbehauptung:

Das Schüchternheitsargument

Warum sie der Traummann, der ihr immer wieder zufällig begegne, nicht anspreche, geschweige denn um ihre Hand anhalte, erklärt sie damit, dass er wie sie an Schüchternheit leide. Er wolle zwar, könne aber nicht. Und verschiebe die Kontaktaufnahme von einem zum anderen Mal. Was Irene als Beweis des perfekten Matches deutet und wartet. Doch nichts passiert. Für Irene jedoch genug, um an dieser Liebe festzuhalten. Als Schokolade vor ihrer Tür liegt, ist sie nach ihrem Dafürhalten hundertprozentig von ihm, bis, ja bis Irenes Nachbarin sie aufklärt, dass dies ihr Dankeschön gewesen sei, nachdem sie in ihrer Abwesenheit bei ihr die Blumen gegossen hat. Aber es gibt noch genug andere Liebesbotschaften des schüchternen Verehrers. Anonyme Anrufe oder eine Internet Partnerannonce, die nur er aufgegeben haben kann, um ihr eine verschlüsselte Botschaft zu senden und die ein Test war, ob sie ihm die Treue hält. Ich kann gar nicht alles aufzählen, womit Irene ihre Delusionship-Partnerschaft mit dem fremden Mann endlos nährt.

Dahinter stecken oft folgende Motive oder auch – je nach Ausprägung und Leidensdruck – schon krankheitswertige Symptome:

  • Bindungsangst: Den Betroffenen ist es lieber, nur in ihrer Fantasie verpartnert zu sein, als das Risiko des Verlassenwerdens in einer realen Partnerschaft einzugehen.

  • Konfliktfreiheit: Mit einem fiktiven Partner, der gar nicht da ist, kann es nicht zu Streitereien und Meinungsverschiedenheiten kommen

  • Wunscherfüllung: Egal, wie lang die Delusionship-Beziehung andauert, der Traumpartner entspricht stets den Erwartungen.

  • Selbstzweifel: Nagende Selbstzweifel, die in einer wirklichen Beziehung belastend wirken würden, spielen in einer Delusionship-Beziehung keine Rolle. Sie verschwinden, wenn sich Betroffene beharrlich in die Fantasieliebe hineinsteigern.

Wie Irenes Beispiel zeigt, sind Betroffene äußerst kreativ darin, sich eine Traumwelt steter Erwartung vorzugaukeln, in der sie kurz vor der Wunscherfüllung stehen und somit die Liebe zu einem Fremden nicht aufgeben müssen. Der Realitätscheck bleibt aus beziehungsweise wird alles, was gegen die Liebesillusion spricht, vorsorglich ausgeblendet. Sobald aus Liebesfantasien paranoide Wahnvorstellungen oder eine Obsession mit Eifersuchtsattacken und Stalking-Allüren entstehen, ist dies nicht mehr im grünen Bereich harmloser Tagträumereien. Füllt die Liebesillusion schließlich das Alltagsleben aus und geht jeder Realitätsbezug flöten, sollte in jedem Fall eine Psychotherapie begonnen werden. Denn wahre Liebe ist keinesfalls nur im Kopf.

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