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Warum jeder zweite Mord in Österreich unentdeckt bleibt

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Der Vater von Asiye Sel war der letzte Mieter eines Wohnhauses in Wien, das saniert werden sollte. Zeugen fanden seine Leiche im Stiegenhaus unter Baustellengitter. War es Mord? Ungeklärte Todesfälle sind in Österreich an der Tagesordnung. Der Journalist Thomas Trescher schrieb darüber ein beklemmendes Buch.

Die Akte 1 UT 90/14d liegt vor Asiye Sel auf dem Esstisch. Sie hat sie oft gelesen. Die Gutachten der Sachverständigen, die Ermittlungsberichte der Polizisten, sogar den Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners hat sie immer wieder studiert. "Die Befunde sprechen somit nicht gegen einen Unfall", steht da als Abschlusssatz. Vage ausgedrückt bedeutet es, dass die Mediziner zumindest nicht ausschließen, was Asiye Sel vermutet: Dass ihr Vater Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.

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Ihr Vater, das ist Cafer Ilkay. Zum Todeszeitpunkt ist er 65 Jahre alt. Ein stattlicher Mann. Er wiegt 90 Kilogramm und ist 1,80 Meter groß. Ein Familienmensch. Er hat sechs Kinder, um die er sich lange alleine kümmert. Seine Frau starb schon vor 20 Jahren an Krebs. Ein fleißiger Arbeiter. Er kommt 1973 als Gastarbeiter aus der Türkei nach Wien, baut sich hier sein Leben auf und schuftet 43 Jahre auf dem Bau. Er mietet damals seiner Familie eine kleine Wohnung in der Esterházygasse im sechsten Bezirk. 53 Quadratmeter, Küche, Bad, Kabinett. Hier leben sie zeitweise zu acht. Hier zahlt Cafer Ilkay am Ende seines Lebens eine Miete von 165 Euro. Die kann er sich von seiner Pension leisten. Einen anderen Wohnort will er sich nicht vorstellen. Das Haus wird er nicht mehr lebend verlassen. Warum, wird nie geklärt werden.

Das System ist faul

Experten schätzen, dass jeder zweite Mord in Österreich unentdeckt bleibt. Das ganze System der Todesermittlung sei faul. Das behauptet der Journalist Thomas Trescher in seinem neuen Buch "Totgeschwiegen". Anhand von echten Kriminalfällen beschreibt der 39-Jährige Kapitel für Kapitel das Versagen derjenigen, die für die Mordaufklärung verantwortlich sind: Mediziner, Polizisten, Staatsanwälte. So kommt es in einigen Bundesländern vor, dass der Hausarzt zur Totenschau seines Patienten gerufen wird und selbst nicht viel vom Tod versteht. So wie in einem Fall, den Thomas Trescher beschreibt. Da hatte der Arzt vergessen, in den Mund des Toten zu schauen. Deswegen konnte er nicht sehen, dass auf beiden Seiten die Halsknorpel und das Zungenbein gebrochen waren. Der Arzt gab die Leiche zur Bestattung frei.

Der Journalist beschreibt, wie auch Polizisten Fehler machen. Wie sie es unterlassen, Spuren zu sichern und Zeugen zu befragen. Und wie Staatsanwälte alles glauben, was ihnen die Ermittler sagen. So wie im Fall von Cafer Ilkay.

Wenige Monate vor seinem Tod soll das Mehrparteienhaus saniert werden. Der Eigentümer bietet den Mietern Ersatzwohnungen an. Cafer Ilkay lehnt ab. Er will Baupläne sehen, will wissen, wann er zurück in seine Wohnung könnte, wenn er gehen würde. Will wissen, wie viel Miete er dann zahlen müsste. Seine Fragen bleiben unbeantwortet. Stattdessen fliegt Bauschutt durch seinen Kamin, die Nachbarn ziehen aus, irgendwann reißen sie das WC ab, das am Gang ist und das Cafer Ilkay benutzt. Ihm stellen die Bauarbeiter eine Klomuschel hin. Cafer Ilkays Familie macht sich Sorgen. Sie fleht den Vater an, auszuziehen. Will ihn finanziell unterstützen, macht ihm Zimmer in ihren Wohnungen frei. Cafer Ilkay will aber nicht weg. Außerdem wird er vom Mieterverband bestärkt. Man könne ihn nicht rausschmeißen. Der Druck seiner Familie setzt Cafer Ilkay zu, nicht aber die Baustelle um ihn herum. Er hat fast sein ganzes Leben auf dem Bau verbracht.

Dann kommt der 2. August 2014, ein Samstag. Sein Todestag. Am Nachmittag finden Nachbarn die Leiche. Sie liegt im Eingangsbereich zum Stiegenhaus. Eigentlich ein abgesperrter Bereich. Der Tote liegt auf dem Bauch. Die Hände rechts und links zum Kopf gewinkelt. Unter ihm zwei Lagen Baustahlgitter, über ihm vier Lagen Baustahlgitter. Einer der beiden Zeugen schreibt der Polizei noch am gleichen Abend eine E-Mail: "Auffällig waren die beiden ausgezogenen Schuhe und die daneben liegende Brille " Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, die Obduktion wird angeordnet. Danach verliert Asiye Sel das Vertrauen in den Rechtsstaat.

Aufklärung kostet Zeit und Geld

Warum bleiben so viele Morde unentdeckt? Es scheint, als ob die Lebenden kein Interesse daran haben, die gewaltsam Verstorbenen zu sühnen. Thomas Trescher, Redakteur bei der Rechercheplattform Addendum, verbindet in seinem Buch nüchterne Zahlen und Expertenbefragung mit konkreten Fallbeispielen. So behauptet er, dass sich Österreich lieber mit geringen Mordraten schmückt, als genauer hinzusehen. Offiziell stehe die Republik gut da. In Österreich werde "fast jeder Mörder überführt", sagte der ehemalige Innenminister Herbert Kickl bei der Präsentation der Kriminalstatistik im Mai dieses Jahres. Thomas Trescher hält ihm entgegen, dass das Problem eben nicht so sehr in der Aufklärung liege, sondern einen Mord überhaupt zu erkennen, sei die Schwierigkeit. "Egal mit wem man spricht", sagt Trescher, "alle bescheinigten mir, dass Morde übersehen werden, aber Schuld seien immer die anderen." Und diese Arbeit der Aufklärung koste nicht nur Zeit und Geld, sondern würde oft nicht belohnt, weil sich die Menschen sowieso sicherer fühlen würden mit der Illusion einer niedrigen Mordrate.

Asiye Sel bekommt bereits am Montag um zehn Uhr einen Anruf vom Hauseigentümer. Er sagt so was wie: "Mein herzliches Beileid. Was machen wir jetzt mit der Wohnung? Sie kümmern sich eh, oder?" Kurz drauf überreicht die Polizei ihr die Wohnungsschlüssel, ohne Spuren zu sichern. So bleibt ein blutbehafteter Baseballschläger, der in der Wohnung steht, von den Ermittlern erst mal unentdeckt. Auch der Zeuge, der noch am Abend die E-Mail geschrieben hatte, wird von den Ermittlern nicht einvernommen. Die Arbeiten auf der Baustelle werden nicht gestoppt. Der Hauseigentümer wird nicht befragt. Ob die Baustelle überhaupt allen Sicherheitsmaßnahmen entspricht, wird nicht untersucht. All diese Fragen und noch mehr stellt Asiye Sel in den Tagen und Wochen danach immer wieder der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Zusätzlich nimmt sich die Familie eine Anwältin, die Druck machen soll.

Der perfekte Mord

Der pensionierte Gerichtsmediziner Johann Missliwetz prangert die Zustände schon seit Jahren an. Er sagt, dass einfach zu wenig obduziert wird. Er ist sich sicher, dass es viele Mordopfer gibt, die nur niemand entdeckt. Für verdächtig hält er Vermisstenfälle. Zwölf bis 18 Menschen verschwinden in Österreich pro Jahr spurlos. Missliwetz glaubt darunter Mordopfer, die man gar nicht untersuchen kann, weil sie ja nicht auffindbar sind. Der Gerichtsmediziner hält auch viele Unfälle für Morde. "Immer wenn wir in der Zeitung lesen, dass der Mann vor den Augen seiner Frau beim Bergwandern in die Tiefe stürzte, frage ich mich, ob sie nicht vielleicht etwas nachgeholfen hat", sagt Johann Missliwetz. Das gleiche Bild ergebe sich beim Ertrinken im See. "Der perfekte Mord ist, einen Nichtschwimmer ins Wasser zu schmeißen, wenn einen dabei niemand beobachtet." Denn Schubsen allein hinterlasse keine Spuren.

Und der Befragte wird immer sagen, dass er ein Spitzenschwimmer war, wenn er der Täter ist. Schwierig könnten auch Suizide sein. "Man kann sich selbst erstechen und andere. Beides schaut in der Regel unterschiedlich aus. Aber bei nur einem einzigen Stich kann ich das eigentlich nicht sicher sagen." Auch Pfleger oder Ärzte hätten Möglichkeiten, unentdeckt zu morden. Sie könnten Medikamente überdosieren, falsch dosieren oder überhaupt das falsche geben. Sollte es auffallen, könnten sie immer noch sagen, sie hätten sich bloß vertan. So geschehen in Deutschland. Der Krankenpfleger Niels Högel soll von 2000 bis 2005 an zwei Kliniken Patienten mit verschiedenen Medikamenten zu Tode gespritzt haben. Wegen Mordes an 85 Patientinnen und Patienten hat das Gericht ihn in diesem Sommer zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. In 15 Fällen wurde er vom Mordvorwurf freigesprochen -in dubio pro reo -im Zweifel für den Angeklagten.

Für die Hinterbliebenen ist das ein Schock. Sie quält die Ungewissheit, was ihre Liebsten erleiden mussten. So wie Asiye Sel. Sie will wissen, was passiert ist. Sie und ihre Familie wollen den Tod ihres Vaters verstehen und damit abschließen können.

Doch die Fragen, die die Kinder von Cafer Ilkay immer wieder gestellt haben, können irgendwann nicht mehr beantwortet werden. Vieles lässt sich nach einiger Zeit nicht mehr ermitteln. So ist eine Rekonstruktion der Tat nicht möglich, weil die originalen Baustellengitter weg sind. Nicht alle Arbeiter können befragt werden, weil sie zurück im Ausland sind. Es wird nicht geklärt, wie Cafer Ilkay überhaupt in den abgesperrten Bereich der Baustelle kam. Er hatte dafür keine Schlüssel. Ob die Baustellengitter, die im Gang lagerten, wirklich fixiert oder nur provisorisch angelehnt waren, wurde nicht ermittelt. Ein Bauarbeiter hatte zwar angegeben, dass alles "mit ein wenig Draht" befestigt gewesen war, dieser Draht wurde jedoch nie gefunden. Sicherheitstechnische Mängel werden nie festgestellt, weil die Baustelle erst einige Tage nach dem Tod überprüft wurde. Und der Zeuge, der Cafer Ilkay tot aufgefunden hat, wird überhaupt erst auf Druck neun Monate später befragt. Für die Staatsanwaltschaft spielt seine Aussage -nämlich, dass das Gitter ungesichert war -keine Rolle.

Von der Unfallthese zum Mord

Gerichtsmediziner Johann Missliwetz konnte einen vermeintlichen Unfall als Mord aufdecken. Er erinnert sich an den sogenannten Silvestermord -so bezeichnete ihn später die Boulevardpresse. Ein Mann habe in der Silvesternacht 2009 aus dem Mund blutend an eine Fensterscheibe eines Lokals geklopft. Dann sei er kollabiert. Die Rettung konnte nur noch den Tod feststellen. Die Polizei sei damals davon ausgegangen, dass sich das Opfer aus Dummheit einen Böller in den Mund gesteckt habe, und wollte den Fall zu den Akten legen. Doch Missliwetz kamen die Verletzungen eigenartig vor. Er vermutete einen Schuss in den Mund, fand aber kein Projektil, das seine Vermutung beweisen hätte können. Damals gab es in der Wiener Gerichtsmedizin kein Röntgengerät. Missliwetz musste einen Antrag bei der Staatsanwaltschaft stellen. Doch die Krankenhäuser ließen ihn nicht rein. Aus hygienischen Gründen dürfen dort keine Toten geröntgt werden. Die Veterinärmedizin musste dafür herhalten. Johann Missliwetz fand die Patrone im Zwölffingerdarm und die Polizei schließlich doch den Mörder.

Doch Johann Missliwetz nimmt seine Kollegen in Schutz. "Wenn ein Gerichtsmediziner Mord ruft und es stellt sich raus, dass es keiner war, ist er seinen Ruf los. Dazu kommt, dass immer die Gefahr besteht, dass ein Unschuldiger eingesperrt wird", sagt Missliwetz. Deshalb müsse man sich als Gerichtsmediziner zu "99,5 Prozent" sicher sein.

Die Politik ist am Zug

Die Untersuchungen zum Tod von Cafer Ilkay werden am 9. Juli 2015 eingestellt. "Mangels jeglicher Hinweise auf Fremdverschulden war sohin das diesbezügliche Ermittlungsverfahren einzustellen", schreibt die Staatsanwaltschaft Wien. Asiye Sel und ihre Familie sind wütend und enttäuscht. Sie fühlen sich hilflos und wissen nicht, was sie noch machen können. Sie hoffen, dass irgendwann neue Beweise auftauchen und der Fall dann neu aufgerollt wird.

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Autor Thomas Trescher will mit dem Buch aufzeigen, wo es im System krankt. Er sieht die Politik am Zug und hofft auf Reformen. Besonders gefährdet sieht er die Gerichtsmedizin in Wien. "Dort arbeiten viele Ältere. Wenn die nicht bald nachbesetzt werden, bricht das ganze System komplett zusammen", sagt Thomas Trescher. Er will sich die Kriminalfälle aus seinem Buch in ein paar Jahren wieder anschauen und nachfragen. Vielleicht wird ja in der Zwischenzeit doch noch ein Mord aufgedeckt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 46/2019) erschienen.

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