News Logo
ABO

Kein Ende des Krieges in Sicht

Subressort
Aktualisiert
Lesezeit
12 min
Ukraine - Kein Ende des Krieges in Sicht
©Bild: imago images/ZUMA Wire
  1. home
  2. Aktuell
  3. News
Die russische Invasion der Ukraine hat vor vier Monaten begonnen. Für News analysiert Tom Cooper, Militärluftfahrtanalytiker und -historiker, die bisherigen Ereignisse und erklärt, welche Wendungen der Krieg noch nehmen könnte.

Laut jüngsten Berichten bremst sich der russische Angriff zunehmend ein, ein großer Durchbruch ist kaum noch möglich. Weshalb?
In den ersten vier bis fünf Wochen des Kriegs haben die besten russischen Truppen einen verrückten Ansturm auf Kiew durchgeführt. Das Ganze wurde von Putin selbst und von Waleri Gerassimow geplant. Die beiden waren der Überzeugung, sie bräuchten nur einmarschieren, dann werden die Ukrainer schon aufgeben, Präsident Selenskyj wird davonlaufen oder gefangen werden. Diese Illusionen waren völlig falsch, wie auch die westlichen Geheimdienste mit ihren Einschätzungen falsch lagen, das ganze Land werde sich rasch ergeben.

Es war schon zu Beginn ein Desaster für die Russen?
Im Norden und Osten haben die Russen ihre besten Einheiten verwendet und in der Theorie schienen die Ziele für die russische Armee erreichbar. Doch bis auf die Luftlandetruppen waren diese Einheiten nur Potemkinsche Dörfer, sie kannten nur Paraden, hatten wenig Training und kaum Erfahrung. Zudem waren die Kommunikationssysteme veraltet und haben in der Ukraine nicht funktioniert beziehungsweise konnten die Ukrainer mitlesen. Außerdem gab es massiven Widerstand, wie ihn sich Putin in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt hätte. Es gab daher katastrophale Niederlagen dieser Einheiten mit Verlusten bei Waffen und Soldaten von 50 Prozent und mehr, manchmal sogar von bis zu 90 Prozent.

Im Süden lief es anders?
Im Süden der Ukraine konnten die Russen durch Inkompetenz und falsche Erwartungen der dortigen ukrainischen Truppen in zwei Tagen Cherson einnehmen, erst in Mykolajiw und dann bei Wosnesensk sind sie auf massiven Widerstand gestoßen. Gleichzeitig folgte im Osten die zweite große Niederlage der Russen in Charkiw.

Was bedeutet das für den weiteren Verlauf?
Die russische Armee hat die besten Truppen verloren und soll nun mit den zweit- und drittbesten sowie mit Separatisten irgendwelche Erfolge erzielen. Sogar die Einnahme von Mariupol hat lange gedauert, weil die Verteidiger ausgesprochen effektiv gekämpft haben. Russland sind fast keine Eliteeinheiten geblieben, höchstens noch die 76. Luftlandedivision und Teile der ersten Gardepanzerarmee. Die Ukrainer bewegen sich schnell, das sind meist kleine Trupps von acht bis zehn Soldaten mit einer Panzerabwehrlenkwaffe, einem Scharfschützengewehr und einem schweren Gewehr für Angriffe auf leicht gepanzerte Fahrzeuge - die fahren in ihren SUVs herum, beschießen die Panzerkolonne und verschwinden wieder. Dann greift der nächste ukrainische Trupp an, und durch diesen Horror müssen die russischen Panzerbataillone, zum Beispiel, 300 Kilometer lang von Sumy Richtung Kiew durchfahren.

Keine guten Aussichten für die russische Armee, oder?
Derzeit versuchen sie, mit Einheiten des zweiten Ranges noch irgendwas in Donbass zu erzielen. Das Minimalziel für Putin wäre es, ganz Luhansk und Donbass einzunehmen. Ich nenne es Plan H, weil Plan A bis Plan G schon mal nicht funktioniert haben.

Was bedeutet das für Putin?
Er regiert durch Erpressung, das beherrscht er als ehemaliger Geheimdienstchef. Er hat kein politisches Programm, nur seine TV-Auftritte. Und durch den Krieg erzielt er PR-Punkte. Historisch gesehen wurden Kriege und Konflikte ja oft bei politischen Krisen angezettelt, das ist nichts Neues. Für Putin bedeutet aber selbst diese Situation noch mehr Gelegenheiten für Erpressungen - vor allem des Westens -, was er mit größtem Vergnügen ausnutzt.

Er braucht aber Erfolge für seine PR-Auftritte.
Aus Putins Sichtweise ist es nur wichtig, irgendeinen Sieg erklären zu können - egal, ob es einen echten Erfolg gegeben hat. In Syrien hat er dreimal erklärt, dass der Krieg vorbei ist und die russischen Truppen nach Hause gehen können. Er kann auch jederzeit diesen Krieg in der Ukraine stoppen - ist auch der Einzige, der so was kann -, macht er aber nicht, weil er noch gar nichts erreichen konnte.

Ein Ende des Kriegs ist also nicht in Sicht?
Ich rechne nicht damit, dafür müsste es eine vernichtende Niederlage der russischen Armee geben. Und dafür müsste man noch weitaus mehr Waffen an die Ukraine liefern. Sonst gibt es keine Chance, diesen Krieg zu beenden. Die Ukraine ist wirtschaftlich und militärisch erschöpft, keine Frage, jedoch kann es für die Ukrainer kein Kriegsende geben ohne - zumindest - einen russischen Rückzug hinter die Linien, die vor dem 24. Februar bestanden haben. Bedenken Sie, für die Ukraine läuft dieser Krieg schon seit 2014, nicht erst seit vier Monaten: Sie haben es satt, von Putin nach Lust und Laune erpresst, drangsaliert und ermordet zu werden.

Es gab Berichte über Feuer und andere Vorfälle in russischen Fabriken. War das Sabotage?
Ja. Es gibt einen Widerstand gegen Putin innerhalb des Inlandsgeheimdiensts FSB. Diese Leute wissen, wie weit die Korruption in Russland geht und wie sehr es dem Land schadet. Zum Beispiel wurde Material für Panzer im Westen verscherbelt und die Panzer sind deshalb nicht ausreichend geschützt. Doch nicht mal Putin traut sich, diese FSB-Leute zu verfolgen, es gibt höchstens Hausarrest. Angesicht der Anzahl der spontanen Brände ist es sicher, dass jemand aktiv vorgeht, nur der Westen reagiert nicht darauf. Selbst die CIA schickt keine Leute nach Russland, die Aktivitäten westlicher Geheimdienste beschränken sich heute auf das Beobachten sozialer Medien oder elektronische Aufklärungsmethoden, man hat kaum noch Leute vor Ort. Dazu ist in den vergangenen 30 Jahren die Expertise über Russland verloren gegangen, weil es niemanden interessiert hat. Es fehlt das Verständnis, wie die Russen denken.

Von Zeit zu Zeit behauptet Russland, Waffenlieferungen aus dem Westen seien zerstört worden.
Das ist größtenteils Wunschdenken. Wenn das wirklich geschehen würde, wären gar keine Waffen in der Ukraine angekommen, so wenig, wie der Westen liefert. Allerdings hatten Informanten der Russen in den ersten beiden Monaten kleine Sender verwendet, um wichtige Bereiche zu markieren. Doch das hat nachgelassen, weil die Russen so gut wie alle ihre Marschflugkörper verschossen haben, mit denen sie tief in die Ukraine schießen können. Sie können diese Waffen nicht nachproduzieren. Es fehlen unter anderem Bestandteile, die sie aus dem Westen importieren müssten.

Weshalb spielen russische und ukrainische Luftwaffe bisher kaum eine Rolle?
Die russische Luftwaffe wurde so aufgebaut, dass sie als fliegende Artillerie dient. Sie kann nicht tiefer im feindlichen Territorium agieren. Sie haben keine Lenkwaffen und können nicht mehr als Ziele zehn bis 15 Kilometer nahe der Front treffen. Aber auch die ukrainische Luftwaffe macht es nicht besser, man braucht ihnen gar keine Flugzeuge zu geben. Der Grund ist einfach: zu wenig realistische Schulung und wenig Ahnung über moderne Taktiken. Beide Luftwaffen setzen vor allem ungelenkte Raketen ein, die von Piloten buchstäblich irgendwo in Richtung des Gegners abgefeuert werden. Der Gegner muss sich höchstens ducken, aber eher stolpert jemand darüber, als dass jemand getroffen wird. Dieser ganze Einsatz der Luftwaffen beider Seiten in diesem Krieg ist eine sinnlose Vernichtung von Millionen - an Rubel und Hryvnia.

Die ukrainische Artillerie soll bis zum Sommer massiv aufgerüstet werden. Könnte das nicht zu spät sein, um Zivilisten zu retten?
Im August hätte die Ukraine mit 400 bis 500 Artilleriestücken die mächtigste Artillerie im europäischen Maßstab, aber für russische Verhältnisse ist das gar nichts. Und die Zeit drängt: Je schneller und je mehr Waffen sie bekommen, desto besser. Jeder Tag, den es länger dauert, gibt es mehr Tote und Verletzte.

Könnte die Nahrungsmittelknappheit zu rascheren Waffenlieferungen führen?
Der Westen hat keine Probleme damit, das betrifft vor allem afrikanische und asiatische Länder. Just deshalb nutzen beide -der Westen und Putin - die Situation für eine Propagandaschlacht aus.

Welche Rolle spielen die Gruppe Wagner und die tschetschenischen Truppen?
Zusammen mit der Nationalgarde Rosgvardia ist die Gruppe Wagner de facto die Zukunft der russischen Streitkräfte - zumindest solange Putin an der Macht bleibt. Rosgvardia ist so etwas wie eine superloyale Wache für Putins Regime, Wagner sind die Macher - also jene, die selbst dort erfolgreich sind, wo reguläre Streitkräfte versagt haben. Nach allen Verlusten der Eliteeinheiten muss man nach der Stelle im Frontverlauf in der Ukraine suchen, wo sich Wagner-Verbände befinden, um zu erkennen, wo die Russen als Nächstes angreifen werden. Zu den Tschetschenen: An der Seite Putins gibt es nur eine tschetschenische Gruppe, die von Kadyrov. Die ist offiziell der Rosgvardia unterstellt. Wenn sie auch besser ausgerüstet ist als die meisten Einheiten der regulären Streitkräfte, hat sie geringe Kampfkraft. Bisher diente sie vor allem Propagandazwecken wie auch zur Sicherung der Verbindungen hinter dem Frontverlauf. Das heißt, eigentlich spielt sie gar keine Rolle im Kampfgeschehen.

Wie real ist die Gefahr eines Angriffs mit Nuklearwaffen?
Da gibt es verschiedene Ebenen: Putin will regieren, dazu braucht er ein Land und Leute - das kann er nicht haben, wenn er einen Nuklearkrieg auslöst. Zweitens gibt es eine komplizierte Befehlskette in Russland, Putin kann nicht einfach auf den Knopf drücken. Zu Sowjetzeiten gab es zweimal den Befehl zur Auslösung, zweimal wurde der aber in der Befehlskette unterbrochen - das ist im Westen kaum bewusst. Putin weiß das als ehemaliger Geheimdienstchef sehr wohl. Die bisherigen Drohungen mit Nuklearwaffen waren Bluffs, die Truppen sind stets in den Kasernen geblieben. Typisch Putin eben.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 24/2022.

Über die Autoren

Logo
Monatsabo ab 20,63€
Ähnliche Artikel
2048ALMAITVEUNZZNSWI314112341311241241412414124141241TIER