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30 Jahre nach Tschernobyl -Kann es wieder passieren?

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Tschernobyl 1986
©Bild: Igor Kostin/Sygma/Corbis
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1. Juni 1986: Fotograf Igor Kostin hat die Ruinen des Reaktors 4 vom Dach des 3. Reaktors aus aufgenommen. © Igor Kostin/Sygma/Corbis

Ein neuer Super-GAU?

Damals wusste Igor Kostin, so wie viele andere Menschen, nicht viel über die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung. Auf seinen Dokumentationstouren nach der Katastrophe verstrahlte er sich selbst und musste sich in ärztliche Behandlung begeben. Er verstarb 2015 im Alter von 78 Jahren in Kiew, wo er zusammen mit seiner Frau lebte.

"Ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Mich hat der Reporterinstinkt getrieben. Ich öffnete das Bullauge und machte Fotos. Das durfte man nicht, aber das habe ich damals nicht verstanden", sagte der Fotograf 2011 in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". Seine eindrucksvollen Fotografien gemahnen daran, was passieren kann.

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1. Mai 1986: Ein Polizist regelt den Verkehr nahe des Dorfes Kopatchi, rund 7 Kilometer vom AKW Tschernobyl entfernt. Die Bewohner durften die Zone erst nach einer Dekontamination verlassen. © Igor Kostin/Sygma/Corbis
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1. September 1986: Sogenannte Liquidatoren räumen den stark radioaktiv verstrahlten Schutt am Dach des Reaktors 3 weg. Ursprünglich sollten Roboter aus Westdeutschland, Japan und Russland den radioaktiven Müll beseitigen, aber die Computersysteme hielten der enorm starken Strahlung nicht stand. Daher entschieden sich die Behörden, Menschen einzusetzen. © Igor Kostin/Sygma/Corbis
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1. September 1986: Liquidatoren bei den Aufräumarbeiten. Sie dürfen aufgrund der extremen Strahlenbelastung immer nur für 40 Sekunden auf das Dach des Reaktors 3. Viele von ihnen sterben später an den Folgen der Verstrahlung oder erkranken schwer. © Igor Kostin/Sygma/Corbis

Heute wissen alle Bescheid über die verheerenden Auswirkungen von radioaktiver Strahlung. Und dennoch schalten die Behörden gefährdete Atomkraftwerke nicht ab, kritisieren Experten. Viele AKWs in Europa stufen Umweltschutzorganisationen als Risiko ein - einige dieser Problem-AKWs umzingeln Österreich. Reinhard Uhrig, Atomsprecher von "Global 2000", fordert daher: "Alle Reaktoren, die in Erdbebengebieten liegen, älter als 30 Jahre sind oder kein Containment (eine den Reaktordruckbehälter umschließende Sicherheitsvorkehrung, Anm. d. Red.)besitzen, müssen sofort stillgelegt werden."

Problem-AKWs müssen sofort stillgelegt werden

Auch der Energiesprecher von "Greenpeace Österreich", Adam Pawloff, warnt: Mit AKWs die 10, 20 oder 30 Jahre alt sind, habe man Erfahrung. Ältere AKWs würden ein erhöhtes Risiko darstellen. "Wir wissen nicht, wie sich diese Atomkraftwerke in puncto Sicherheit entwickeln werden. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko", sagt Pawloff.

Laut "Global 2000" betreiben in der EU 14 der 28 Staaten Atomkraftwerke. Etliche davon stuft die Umweltschutzorganisation als Risikofaktor ein:

Farbcode der AKW-Karte:
ROT = Hochrisikoreaktor, Siedewasserreaktor 69 oder GE Mark I (Fukushima-Typ)
ORANGE = Hochrisikoreaktor, kein Containment
GELB = Hochrisikoreaktor, älter als 30 Jahre
BRAUN = Hochrisikoreaktor, Erdbebengebiet
GRAU = Reaktor in Betrieb
SCHWARZ = Reaktor abgeschaltet

Erdbeben könnte ein zweites Tschernobyl in Europa auslösen

Aber nicht nur die technische Sicherheit spielt heutzutage eine Rolle. Pawloff gibt zu bedenken: In Zeiten von Terrorwarnungen könnten Atomkraftwerke ebenfalls zum Ziel werden. Eineinhalb Tonnen Sprengstoff wären nötig, um ein AKW von außen in die Luft zu jagen, von innen heraus brauche es weit weniger Sprengkraft. "Es gibt eine ganze Reihe an potenziellen Gefahren", sagt der Energiesprecher von "Greenpeace".

Die Experten sind sich einig, dass ein neue Atomkatastrophe nicht auszuschließen ist. "Ein Erdbeben könnte ein zweites Tschernobyl in Europa auslösen", teilt Pawloff mit. Unter anderem stehe das über 30 Jahre alte und grenznah zu Österreich liegende AKW Krsko in Slowenien auf einer Erdbebenlinie.

Was wäre wenn ...

Und wenn es tatsächlich zu einer Atomkatastrophe nahe Österreichs Grenzen kommen würde? Die Auswirkungen wären fatal. Im Worst-Case-Szenario "müssten Städte wie Wien oder Graz evakuiert werden", erklärt Pawloff. Mehrere zehntausend Fälle von Schilddrüsenkrebs wären die Folge.

Städte wie Wien oder Graz müssten evakuiert werden

Es könnte im Extremfall zur teilweisen Absiedelung und einer Sperrzone wie in der Ukraine kommen, ist auch Atom-Experte Reinhard Uhrig überzeugt. "Abschalten ist die einzige Lösung", sagt Uhrig. Eine neue Studie würde zeigen, dass ein völliger Ausstieg Europas aus der Atomenergie schon bis 2030 möglich sei: durch verstärkte Energieeinsparung und den Ausbau erneuerbarer Energien.

In welchem Ausmaß eine mögliche Katastrophe zu spüren ist, hängt von mehreren Faktoren ab:

  • Unfallgröße
  • Explosionsgröße: Je höher die radioaktiven Isotope geschleudert werden, desto weiter können sie sich verbreiten
  • Wetterbedingungen

Ein Atomunfall in einem grenznahen AKW hätte in jedem Fall eine radioaktive Verseuchung mit extrem langfristigen Auswirkungen zur Folge. Das Sperrgebiet von Tschernobyl verdeutlicht das in erschreckender Weise.

Leben in der Sperrzone

Ein paar hundert sogenannter "Samosels", illegale Siedler oder Rückkehrer, leben heute innerhalb der streng bewachten 30-Kilometer-Sperrzone rund um das AKW Tschernobyl - ein Gebiet etwa neunmal so groß wie Wien. Vor allem ältere Menschen wohnen in der immer noch stark verstrahlten Zone. Viele sind schon kurz nach der Katastrophe und der darauffolgenden Evakuierung in ihre alten Häuser zurückgekehrt. Über 20 Jahre leben einige von ihnen mittlerweile dort. Die Behörden dulden die Bewohner stillschweigend. Per Post erhalten sie ihre bescheidene Pension, ansonsten versorgen sich die meisten Rückkehrer selbst mit dem, was sie für das tägliche Leben brauchen. Gemüse und Obst züchten sie in ihrem Garten hinterm Haus, Fleisch liefern Nutztiere, wie Rinder, Schweine oder Hühner. Beeren und Pilze sammeln sie in den umliegenden Wäldern, Fische fangen sie aus dem Fluss Prypjat. Klingt irgendwie idyllisch. Wäre da nicht die Strahlung.

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    Leben in der Sperrzone

    Innerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone leben dauerhaft Menschen - zumeist ältere Leute.

    Ivan Shamyanok ist einer von ihnen. Der 90-Jährige wohnt im Dorf Tulgovich (Weißrussland), das er auch nach der Nuklearkatastrophe nicht verlassen wollte.

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    Leben in der Sperrzone

    Ivan Shamyanok wurde in diesem Dorf geboren. Das Geheimnis seines langen Lebens sei, dass er seinen Geburtsort nie verlassen habe, erzählt Shamyanok der Nachrichtenagentur Reuters.

Strahlung ist wie ein negatives Lotto-Ticket

"Die radioaktive Strahlung ist wie ein negatives Lotto-Ticket. Wer Pech hat, zieht den Hauptgewinn", sagt "Global 2000"-Atomsprecher Reinhard Uhrig. Die gemessene Strahlung in der Sperrzone sprengt nach wie vor die Grenzwerte. Er selbst habe 2011 in der Geisterstadt Prypjat, sie liegt rund 4 Kilometer vom AKW Tschernobyl entfernt, bei Moos einen Wert von 130 Millisievert pro Jahr gemessen, berichtet Uhrig. Der offizielle Grenzwert für die Bevölkerung beträgt 1 Millisievert im Jahr. Für Personen, die beruflich einer Strahlung ausgesetzt sind, wie Atomkraftwerksmitarbeiter, darf die Dosis im Jahr 20 Millisievert nicht übersteigen.

Das Alter schützt in gewisser Weise, da "die Zellteilung langsamer als bei jungen Menschen erfolgt", erklärt Urig. Dadurch sinke zwar die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Auswirkung, dennoch würden die Bewohner der Sperrzone mit ihrem Leben spielen. Die Rückkehrer sehen das freilich anders, für sie existiert die tödliche Strahlung nach über 20 Jahren in der Sperrzone praktisch nicht mehr.

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Ein Schild in der Sperrzone besagt: "Gefahrenzone - Spazierengehen und das Sammeln von Pilzen oder Pflanzen ist strengstens verboten"; aufgenommen 1998 © Igor Kostin/Sygma/Corbis

Ohne Zugangsberechtigung (Mindestalter 18 Jahre) betritt niemand die Sperrzone. Strikt isoliert, ist das Gebiet allerdings nicht mehr: Immer wieder reisen Journalisten und Wissenschaftler zu Dokumentationszwecken und Messungen in die Zone. Außerdem bieten Reiseveranstalter bereits seit einigen Jahren geführte Touren durch die Stadt Prypjat und zum AKW Tschernobyl an. Daneben haben nur noch sie Zutritt: die Arbeiter von Tschernobyl. Maximal zwei Wochen am Stück dürfen sie in der Stadt arbeiten, sonst wäre das Risiko zu hoch. Einerseits sind sie mit dem aufwendigen Rückbau der Reaktoren beschäftigt, andererseits soll eine neue Stahlhülle über dem mehrfach notdürftig sanierten Sarkophag entstehen. Die 108 Meter hohe Hülle soll im November 2017 fertig sein und die Umgebung hundert Jahre lang vor Strahlung schützen.

Eine Katastrophe ohne Ende

Und wie sieht es außerhalb der Sperrzone aus? "Die Nuklearkatastrophe dauert heute noch an", sagt Pawloff. Durch den Super-GAU gerieten radioaktive Substanzen wie Jod-131, Ruthenium-106, Strontium-90, Cäsium-137 und Plutonium-239 in die Luft. Die vom radioaktiven Fallout betroffenen Gebiete in Weißrussland, Russland und der Ukraine weisen bis heute erhöhte Werte auf. Rund 5 Millionen Menschen leben in den weiterhin hoch belasteten Regionen.

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Weißrussland 1995: Sacha, 8 Jahre, und Dimitri, 9 Jahre, sind aufgrund der Katastrophe an Leukämie erkrankt. © Anatoli Kliashchuk/Sygma/Corbis

Die neue wissenschaftliche Studie "The other report on Chernobyl" von "Global 2000" und der Wiener Umweltanwaltschaft (WUA) verdeutlicht die dramatischen gesundheitlichen Auswirkungen der Katastrophe - 30 Jahre danach: An den Krebsfolgen der Verstrahlung durch die Tschernobyl-Katastrophe werden weltweit 40.000 Menschen sterben – allein 1.600 in Österreich.

Das Gebiet ist für die nächsten 240.000 Jahre unbewohnbar

Österreich war mit 13 Prozent seiner Gesamtfläche weltweit nach Weißrussland am zweitstärksten von der hohen Cäsium-Belastung durch den Super-GAU betroffen. Aktuelle Messergebnisse der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) und der Boku-Wien im Auftrag des Umweltministeriums haben ergeben, dass noch immer erhebliche Cäsium-137-Aktivitätskonzentrationen im österreichischen Waldökosystem zu finden sind. Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren - bis jetzt ist also erst die Hälfte der radioaktiven Substanz zerfallen.

Viel schwerer wiegt die Verseuchung rund um das AKW Tschernobyl durch Plutonium-239 mit einer Halbwertszeit von über 24.000 Jahren. "2.000 Quadratkilometer der Sperrzone werden für die nächsten 240.000 Jahre nicht bewohnbar sein", sagt Atomsprecher Reinhard Uhrig. Denn erst dann ist das Plutonium-239 auf ein Zehntel der ursprünglich freigesetzten Menge zerfallen. Der Experte vergleicht: "Die Mittelsteinzeit ist erst rund 10.000 Jahre her."


TV-Tipp:

30 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe erforschen Wigald Boning und Fritz Meinecke die nukleare Sperrzone. Für die Doku-Reihe "Wigald & Fritz - Die Geschichtsjäger" des TV-Senders "History" reisten die beiden in die Ukraine. "Es gab mehrfach Momente, in denen wir ein mulmiges Gefühl hatten", sagt Meinecke nach seiner Rückkehr aus dem Sperrgebiet. Sein Kollege Boning fügt hinzu: "Es war ein beklemmendes Gefühl, vor dem zugemauerten Gang zu dem havarierten Block 4 des Kernkraftwerks zu stehen, als uns nur noch eine Mauer vom Katastrophenreaktor trennte. Ihr Messgerät zeigte bei der Entdeckungstour durch Block 3 des Atomkraftwerkes, der direkt an den Unglücksreaktor 4 angrenzt, wiederholt sehr hohe in Mikrosievert gemessene Strahlungswerte an.

Ab November 2016 werden die 6 halbstündigen Episoden zunächst exklusiv auf "History" gezeigt.

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Wigald Boning und Fritz Meinecke © PR/History/Getty/Koerner

Kommentare

Mit Facebook verbindenLautgedachtDi., 26. Apr.. 2016 12:42melden

Und noch immer gibt es Menschen die die Atomkraft befürworten, offensichtlich reicht hier der Verstand nicht, um die Dimensionen zu begreifen. Schlimm wird es natürlich wenn solche Menschen dann auch noch etwas zu sagen haben. Verantwortungslos wer solch eine Technik gutheißt. Auch bei "friedlicher Nutzung".

buchleserDi., 26. Apr.. 2016 08:26melden

Solides Buch über Atomkraftnutzung:
Strohm Holger: Friedlich in die Katastrophe

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