Gedanken dieser Art hat sich Tobias Moretti zumindest in seinen Interviews stets vom Leib gehalten. Dabei geht es doch auch im "Jedermann", den er seit dem Vorjahr auf dem Salzburger Domplatz verkörpert, um die Begegnung mit dem Tod. Da der dort allerdings als eine Art barocker Fremdenverkehrswurstel auftritt, dürfte die Begegnung keine nachhaltigen persönlichen Spuren hinterlassen haben. Jetzt aber werden die wahrhaft letzten Dinge verhandelt. "Ich gehe bei jeder Probe in einen Ausnahmezustand", sagt Tobias Moretti, nicht ohne hinzuzufügen: "Und um ihn zu verlassen, brauche ich länger, als mir lieb ist."
Mit 58 Jahren, auf dem Höhepunkt einer nie nachlassenden Karriere, begibt er sich in die Schrecknisse des Verfalls und der Todesnähe: Neun Jahre nach "Faust", der Einstandspremiere des schon in die Geschichte verschwundenen Burgtheaterdirektors Hartmannn, kehrt Tobias Moretti mit einer neuen Produktion an die Staatsbühne zurück. Und unter welchen Umständen! Der belgische Radikalregisseur Luk Perceval, dessen blutpralle Shakespeare-Collage "Schlachten!" in Salzburg noch heute die Standards vorgibt, probt am Akademietheater das Projekt "Rosa oder Die barmherzige Erde", in dem scheinbar Unvereinbares zusammenwachsen soll: einerseits Dimitri Verhulsts tragikomischer Roman "Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau", andererseits Shakespeares "Romeo und Julia".
Romeo, dement
Das Werk des flämischen Schriftstellers wurde mancherorts des Zynismus bezichtigt. Geht es doch um den pedantischen Bibliothekar Désiré, der vor seinem 74. Geburtstag die Auslöschung seines bisherigen Lebens in Angriff nimmt: Er täuscht Demenz vor, um den familiären Umständen in ein Pflegeheim entweichen zu können. Während ihn die Krankheit sacht einzuholen beginnt, sucht er sich in Percevals Fortschreibung ein zweites Ich: Er artikuliert sich über die Figur Romeo, deren Texte er auswendig rezitiert. Die Leidenschaft, erläutert Moretti, sei bei alten Menschen so virulent und drängend wie bei jungen. Romeo verkörpere da die Macht der ihn fortreißenden Fantasie.
Das Burgtheater suchte schon vor Weihnachten in Inseraten "hochbetagte Statisten" als Repräsentanten des realen Verfalls. Und schon der Beginn des Romans lässt keine Zweifel über dessen Intentionen zu: "Ich gehe über den Styx und packe ein: eine Tube Zahnpasta (kleiner Scherz am Rande) obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir sehr gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße. Mich zu dieser entwürdigenden Aktion zu erniedrigen, ist wahrlich die unangenehmste Konsequenz des ziemlich verrückten Wegs, den ich auf meine alten Tage gewählt habe. Doch ich würde das Pflegepersonal misstrauisch machen, wenn ich mein Nachtzeug unbeschmutzt ließe."
Sprung über die Kante
Das also ist die Aufgabe, in die sich Tobias Moretti bis zur Premiere am 10. März finden muss. Moretti, der nie Alternde, der diesen Status auf Wüstenrallyes beglaubigt; Moretti, der mit dem "Jedermann" an einer der feinsten Adressen des deutschsprachigen Theaters ansässig wurde; Moretti, der Biobauer und Familienvater mit kleiner Nachzüglertochter: Wie weit muss man für eine Aufgabe wie die anstehende von sich selbst Abstand nehmen?
"Diese Arbeit ist wie ein Abriss in meinem Leben, eine Kante, vom ersten Probentag an. Ich wurde irgendwie aus der Illusion der Unendlichkeit meines Lebens verabschiedet. Bis man's nicht erlebt, glaubt man, alt werden nur die andern", sagt er und verweist auf Verluste im engeren, zuletzt im allerengsten Kreis.
Erinnerungen sind hervorzuholen. "Es umgibt uns öfter, als wir glauben. Man muss nur offenen Auges durch die Welt gehen", sagt er und kommt auf Persönlichstes. "Jeder von uns kennt Menschen, die dement sind. Auch mein Vater war es am Schluss, aber er hatte eine mildere Form. Er hat sich nicht ausgekannt", schildert er zärtlich die späten Tage des Poeten Harry Bloéb, "aber man konnte mit ihm Konversation betreiben, und er war, abgesehen vom pathologischen Vorgang, relativ klar und zurechnungsfähig."
Um die schwere Form kennenzulernen, besuchte das Ensemble eine Klinik im 16. Wiener Bezirk, wo man den Schauspielern bei der Wahrheitsfindung sehr entgegenkam. Brutal war das, erinnert sich Moretti: zu sehen, wie die Krankheit den sozialen und intellektuellen Status nivelliere, von Menschen, die noch vor Kurzem im Zentrum der Gesellschaft standen. Aber, kommt er auf die Arbeit zurück: Das Stück handle ja von einem, der über sein eigenes Ende entscheidet und sich in den Zustand der Demenz nur versetzt. Denn bei allem Autonomie-und Würdeverlust habe das Ganze eine Besonderheit: "Die Anarchie. Der Demente bestimmt seine Zeit, sein Tempo, seinen Inhalt."
Die freie Entscheidung
Und wenn er selbst in der Realität vor solch einem Schicksal stünde? Wie weit nähme er dann die Freiheit der Selbstbestimmung in Anspruch?"Wenn ich mir die schlimmste Form dieser Krankheit vergegenwärtige, die ich gesehen habe, wäre Suizid vorstellbar, allein schon, um die nächsten Menschen nicht so zu belasten, um niemandem auf die Nerven zu gehen", sagt er und schränkt sogleich ein. "Der entscheidende Punkt ist, glaube ich, Würde. Und das habe ich sehen dürfen, im Nothburgaheim in Innsbruck, einer außergewöhnlichen Einrichtung, in der auch mit dementen Menschen völlig frei umgegangen wird. Dort wird man nicht eingesperrt und auch nicht zu zweit in ein Zimmer gelegt. Man lässt ihnen die Würde und den Faktor Hoffnung, auch wenn es für die Angehörigen wichtiger scheint als für die, die es betrifft. Bei mir ist es außerdem noch mal etwas anderes, denn wir leben in der Tradition einer Großfamilie, und allein das Wissen um diesen Verbund macht mir auch weniger Sorge, auch um den Verlust der Würde."
Was Perceval seinen Schauspielern abfordert, ist in mehrfacher Hinsicht extrem. Einen unglaublich feinsinnigen und tiefsinnigen, aber radikalen Künstler nennt ihn Moretti; einen Mann, der weder körperliche noch seelische Schonung kenne. Denn Perceval tut ein Übriges, um seinen Protagonisten an die Grenzen zu treiben: Er verbietet jede Verkleidung, jedes Älterschminken. Jegliche Distanz zur Figur ist aufgehoben, so wie seinerzeit, als der Schauspieler Thomas Thieme Shakespeares Othello ohne Schwärzung, nur durch die Kraft der Behauptung spielte. So muss auch Morettis Désiré ohne Verstellung Gestalt annehmen, und die Arbeit tut körperlich und seelisch weh. Aber im Gelingensfall ist der Gewinn ein großer.
Kein Brief gegen Hartmann
Nun sind fordernde, Grenzen überschreitende Regisseure allerdings in Metoo-generierte Reputationsprobleme geraten. Soeben haben 60 Burgtheater-Bedienstete in diesem Sinn per offenem Brief den seit vier Jahren abwesenden Ex-Direktor Matthias Hartmann attackiert. Wurde Moretti zur Unterschriftleistung angefragt?
Da wird er heftig: "Nein, hat man nicht, und ich hätte es auch nicht getan. Weil ich nicht verstehe, wer damit gemeint ist, wer das exekutieren soll -eine Benimmfibel für Regisseure oder gar eine Prävention. Jeder hat eine andere Grenze und jeder eine andere Befindlichkeit. Ohne einen prinzipiellen Grundrespekt ist jeder künstlerische Prozess kontraproduktiv. Aber in dieser Frage verzettelt man sich jetzt, vielleicht liegt das auch am Zeitpunkt. Respekt kann man verordnen, aber das darf nicht Distanz heißen, weil Distanz ein unvereinbarer Gegensatz zu unserer Arbeit ist. Wir sind verwundbar, so wie alle, nur manchmal wird bei uns genau dieser wunde Punkt zum Angelpunkt des Gelingens oder des Scheiterns. Man kann auch eine künstlerische Arbeit nicht in die Konventionen eines Umgangs pressen und einem neuen Puritanismus anheim geben. Letztendlich will kein Besucher wissen, wie während der Probe mit uns umgegangen wurde, welcher Teil des Instrumentariums wir sind. Wenn ich mich einer Figur, einer Arbeit anheim gebe, weiß ich erstens, mit wem ich arbeite; und zweitens gibt es nur eine Herausforderung: dass am Schluss etwas Besonderes dabei herauskommt, vielleicht sogar Kunst, wenn man Glück hat." Und, noch deutlicher: "Es gibt eine Eigenverantwortung, eine Courage sich selbst gegenüber, die manchmal schwer ist, aber es ist der Moment, wo man nicht mehr mitmacht. Wir Schauspieler begeben uns freiwillig in extreme Situationen, jeder verlangt von uns, dass wir seelisch die Hosen runterlassen, das geht nicht ohne Berührung, seelisch und körperlich."
Zurück zum Wesentlichen: zum Ablaufdatum, dem eigentlichen Gegenstand von Percevals Projekt. "Die Welt, die Gesellschaft verändern sich in einem Tempo, das mir den Glauben nimmt, dass wir die bestimmende Generation sind", sagt Moretti. "Die Welt im digitalen Zeitalter tickt auch in ihrem Innenleben anders als wir. Das akzeptieren wir noch nicht, aber wenn wir nicht intensiv versuchen, diese Menschen abzuholen, sie noch in unsere Form von Kultur zu integrieren, teilt sich irgendwann die Welt, und Menschen wie wir sind verloren. Nicht, weil wir dement sind, sondern weil wir in einer Welt leben, die wir nicht mehr verstehen."
So erklärt er, der einst Adolf Hitler verkörperte, auch das plötzliche, noch vor Kurzem für unmöglich gehaltene Auftauchen junger Nazis im Zentrum der Gesellschaft. Da habe sich etwas verschoben, hier wie anderswo, verweist er auf die beunruhigende Population bekennender Nationalsozialisten im angelsächsischen Raum, wo man die Pest ja in einem Weltkrieg als Todfeind bekämpfte. Englische Fußballplätze seien bevölkert mit adjustierten Nazis, in Russland melde sich ein verwandter Neostalinismus zu Wort. "Es ist ein Nährboden entstanden, weil bestimmte Menschen in einer hermetischen Gesellschaft nicht mehr abgeholt werden. Weil sie sich zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber es ist unlauter, so eine Frage in zwei Sätzen zu beantworten, dafür ist das Phänomen viel zu komplex."
Bleibt eine letzte Frage, deren Antwort er fast empört verweigert: Ob er denn ein glücklicher Mensch sei? "Bitte, mir diese Frage nach dieser Arbeit zu stellen. Ich kann nicht auf so eine Probe gehen und mir diese Frage stellen", sagt er und begibt sich zurück in das Bergwerk eines Theaters ohne Idylle und Wehleidigkeit.
Premiere: Wie man aus dem Bewusstsein gleitet
Dimitri Verhulsts Roman "Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau" erzählt von einem Mann, der Demenz vortäuscht, um seiner Familie zu entkommen, und sachte selbst in die Krankheit gleitet. Luk Perceval verschneidet das Werk für "Rosa oder Die barmherzige Erde" mit Shakespeares "Romeo und Julia". Neben Tobias Moretti spielen Gertraud Jesserer und Sabine Haupt. Premiere: 10. März im Akademietheater