Sein neuestes Buch ist sein bisher persönlichstes, sagt "ZiB"-Anchor Tarek Leitner: In "Berlin-Wien" beschreibt er zwei Reisen, die sein Vater Alfred als Kind bzw. Jugendlicher unternahm. 1938 fuhr der damals Zwölfjährige mit seinem Vater von Berlin ins heimische Linz -in einem nigelnagelneuen, stahlblauen DKW, den sie direkt von der Fabrik geholt hatten. Sieben Jahre später sah die Welt ganz anders aus. Und wieder versuchte der mittlerweile 19-jährige Soldat, nach Hause zu kommen, weitaus weniger komfortabel, in den Wirren des eben zu Ende gehenden Zweiten Weltkriegs.
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Was macht ein Menschenleben aus? Wie werden wir zu dem, was wir sind? Diesen Fragen versucht Leitner in dem Buch* (Brandstätter, 30 Euro) nachzugehen.
News: Viele von uns wissen erstaunlich wenig über das Leben ihrer Eltern und Großeltern. Man nimmt vieles als selbstverständlich hin, und erst wenn die alten Leute gestorben sind, kommt man darauf, dass es große Wissenslücken gibt. Sie stellen in Ihrem Buch fest, dass auch Sie erst entdecken mussten, dass das Leben Ihres Vaters mehr war als ein ganz alltägliches, kleines Schicksal. Wann ist Ihnen das klar geworden?
Tarek Leitner: So richtig klar geworden ist mir das, als ich versucht habe, die verstreuten Anekdoten, die ich kannte, zu einer zusammenhängenden Erzählung zusammenzufügen. Und damit mir das gelingt, habe ich mit meinem Vater sehr strukturiert Interviews geführt.
Wann war das?
Zwischen 2004 und 2006. Ich wollte die Lebensgeschichte zu seinem 80. Geburtstag in eine publizistische Form bringen, die aber ursprünglich nur für familiäre Zwecke gedacht war. 2008 ist mein Vater gestorben. Das Schöne ist: In der Stunde seines Todes war mir bewusst, wir haben eigentlich alles besprochen. Und 14 Jahre später habe ich nun das Glück, mit diesen Mitschnitten und Transkripten eine ganz wichtige Quelle zu besitzen.
Wie befragt man seinen Vater über eine sehr schwierige, lange vergangene Zeit, über Krieg, Tod und Entbehrungen -hart nachfragend oder eher nachsichtig?
Man muss die richtige Mischung finden. Es gibt kaum ein Interview, das man führt, das eine so emotionale Ebene hat. Ich musste meinen Vater erst einmal das Mikrophon vergessen lassen, das ist relativ schnell gegangen. Aber dann ist es natürlich auch wichtig, dass man sich darauf einlässt, zu sagen: "Erzähle jetzt einmal deine ganze Geschichte. So wie du glaubst, es erlebt zu haben, in Erinnerung hast, oder einfach empfindest." Nachdem ich aus meinen wilden Jahren der eigenen Politisierung bereits draußen war, konnte ich damit umgehen.
Im ersten Teil des Buches steht Ihr Großvater im Mittelpunkt, eine sehr klar umrissene Figur, unternehmerisch, fortschrittsfreudig, gefestigt. Ihren Vater zeichnen Sie ein bisschen uneindeutiger, finde ich. Wie war er?
Ich versuche in der Geschichte dem Charakter, den ich erst sehr viele Jahre später -ich hatte ja einen alten Vater - kennengelernt habe, nachzuspüren. Was machte ihn aus? Ich glaube, dass die Ereignisse, die ich beschreibe, ihn entscheidend geprägt haben: die Kriegserlebnisse vor dem Hintergrund einer unbeschwerten, privilegierten Jugend. Daraus wird dann so ein Überlebenskünstler Das Pendel schwingt vom Überlebenwollen zum Lebenwollen. Und dieses Lebenwollen war bei ihm stark ausgeprägt.
Ein Lebemann?
Im Sinn von: jetzt das Leben spüren und genießen, nicht Karriere machen, Geld verdienen, einen gesellschaftlichen Status erreichen und jemandem was vormachen. Eine durchaus sympathische Eigenschaft, die mir erst im Laufe meines Älterwerdens klar geworden ist: Jemandem was vorzumachen, wäre das Allerletzte gewesen, was ihm eingefallen wäre. Lieber als weniger gelten, als jemandem etwas vorspielen.
Ihr Vater war gelernter Uhrmacher, seine Abschlussarbeit, eine schöne Wanduhr, spielt auch im Buch eine Rolle und hängt bei Ihnen im Wohnzimmer. Als Uhrmacher hat er später aber nicht gearbeitet, oder?
Er hat als unselbstständig Angestellter in verschiedenen Bereichen sein Auskommen gefunden und ist relativ bald in Pension gegangen, weil er ja nichts erreichen wollte. Das hat mich als Jugendlicher natürlich manchmal gestört. Zur Maturafeier kommen die ganzen Eltern, sind irgendwas und werden noch irgendwas Mein Vater war schon lang Pensionist. Ich kannte ihn eigentlich nur als Pensionist. Es hat ja auch sonst keiner einen so alten Vater, der den Krieg noch bewusst miterlebt hat.
Und Sie haben ihn als unpolitisch empfunden, schreiben Sie, was Sie als Junger auch irritiert hat.
In meine Oberstufenzeit im Gymnasium fiel zum Beispiel das Jahr 1986, Waldheim, Haider, Tschernobyl. Oder 1989, der Fall des Eisernen Vorhangs. Das war schon sehr politisch alles. Ich hatte viele Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Aber bei diesen Gesprächen war es wichtig, zu sagen: "Jetzt bin ich alt genug." Es kommt die Zeit, wenn man seinem Vater auch einfach zuhören kann und merkt, ich muss ihn von gar nichts mehr überzeugen, weil das Fundament seiner Überzeugungen durch diese Erlebnisse so groß und unerschütterlich geworden ist, dass man eh nicht dagegen ankommt.
Sie sprechen von seinen Kriegserlebnissen. Ihr Vater war erst 19 Jahre alt, als er in den Kriegswirren von Berlin nach Linz zurückging, radelte und streckenweise mit dem Zug und Lkw mitfuhr. Schon davor, schreiben Sie, war ihr Vater den Nationalsozialisten gegenüber skeptisch eingestellt, obwohl er sich kaum für Politik interessierte.
Einer der Gründe, warum ich das Buch jetzt fertiggestellt habe, ist folgender: Wir haben im letzten Jahrzehnt eine ganz große Moralisierung in der Beurteilung aktueller Geschehnisse erlebt. Und ich habe interessant gefunden, dass dieser moralische Überbau in den Erzählungen und Beschreibungen meines Vaters oft überhaupt nicht da war. Das lässt mich zu der These von der Banalität des Guten kommen, dass es also nicht die großen Überlegungen sind, die dazu führen, sich anständig zu verhalten, sondern dass es auch diese argumentative Nacktheit ist, mit der man ans Leben geht. Diese Nacktheit ist halt auch nicht so leicht korrumpierbar. Man sagt: "Das g'hört sich nicht", und darum macht man es auch nicht.
Sie reflektieren die Momente, in denen Ihr Vater innerlich richtig abgebogen sein könnte, also nicht zum Nazi-Sympathisanten wurde, kleine, profane Alltagssituationen
Das macht ja das Leben leicht und schwer zugleich. Einerseits kann man sagen, es sind oft scheinbar bedeutungslose Äußerlichkeiten, Ereignisse, Einflüsse, vielleicht Kränkungen, die einen so oder anders abbiegen lassen. Aber gleichzeitig stellt das in Frage, wie viel man als erwachsener Mensch einem Jugendlichen oder Kind an Weltsicht vermitteln kann. Ist das ganz sinnlos? Nein, das glaube ich nicht. Aber es ist eben auch nicht alles.
Ihr Vater ist in der Linzer Bischofstraße aufgewachsen. Im selben Haus wie die Eltern von Adolf Eichmann, in derselben Gasse wie der jüdische Zuckerlgeschäftsinhaber Benedikt Schwager. Wie ordnen Sie diese merkwürdige Konstellation ein?
Die drei Väter -mein Großvater, der alte Eichmann und der alte Schwager - hatten ganz vergleichbare Lebenssituationen. Sie waren alle Gewerbetreibende, sie haben in der Wirtschaftskrise nicht alles verloren, sie hatten ähnliche familiäre Situationen und eine ähnliche Verankerung in der Gesellschaft. Und doch haben ihre drei Söhne so unterschiedliche Biografien: Der eine bringt - mittelbar, aber doch - die Familie des anderen um. Es war für mich naheliegend, der Frage nachzugehen: Was macht eine Biografie aus?
Ihr Buch ist mit zahlreichen Fotos bebildert, die offensichtlich nicht alle aus öffentlichen Archiven stammen. Wer hat so fleißig dokumentiert?
Manche Dinge - Mendel hat das entdeckt, oder? - springen erst auf die übernächste Generation über. Mein Vater hatte keine chronistische Ader. Er hat aber Gott sei Dank auch nichts weggeschmissen, daher sind viele seiner Dokumente noch vorhanden und ein paar davon, etwa der Passierschein, mit dem er sich damals nach Linz zurückgekämpft hat, sind auch im Buch abgebildet. Mein Großvater war dagegen ein akribischer Chronist und hat alles gesammelt und genau beschriftet.
Normalerweise hat man höchstens ein paar verstreute Fotos von längst unbekannten Urstrumpftanten herumliegen
Es ist mir erst im Laufe der Zeit bewusst geworden, was das für ein Schatz ist.
In einer Passage schreiben Sie über den Passierschein, den Sie gerade erwähnten: Für Ihren Vater war es einfach ein alter Gebrauchsgegenstand, Sie dagegen würden ihn am liebsten mit den Baumwollhandschuhen des Archivars angreifen. Hat, nach Mendels Theorie, die chronistische Ader Sie erwischt?
Schon. In manchen Dingen ha be ich vielleicht einen Spleen, was meine Ordnung in der Bibliothek betrifft zum Beispiel, aber mir ist es wichtig, diese Dinge aufzuheben, weil ich glaube, sie erzählen nicht nur etwas über den Menschen, der sie aufgehoben hat. Und so erzählt ja auch mein Buch nicht nur etwas über meinen Vater oder über meinen Großvater, sondern über uns. Das Buch ist mit einem großen Gegenwartsinteresse geschrieben.
Gibt es ein Archiv, in dem sich Ihre beiden Töchter bedienen können, wenn sie vielleicht einmal Ihre Biografie schreiben wollen? Denkt man an so etwas?
Na sicherlich. Natürlich hebe ich die Dinge so auf, dass ich mir denke, wenn irgendwer, der vielleicht noch gar nicht einmal auf der Welt ist, etwas darüber erfahren möchte, wie ich das gemacht habe, soll er schnell einen Weg durch meine Ordnung finden.
ZUR PERSON
Tarek Leitner Der 47-jährige Journalist ist vor allem als Moderator der reichweitenstärksten ORF-Nachrichtensendung "Zeit im Bild" bekannt. Nebenbei schreibt er Bücher. 2012 erschien "Mut zur Schönheit. Streitschrift gegen die Verschandelung Österreichs", 2015 "Wo leben wir denn? Glückliche Orte" und 2018 "Hilde & Gretl. Über den Wert der Dinge". In "Berlin-Linz" (2020) beschäftigt er sich mit der Geschichte der Jugend seines Vaters.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 24-25/2020