Nach dem Sturz des Machthabers Bashar al-Assad muss das ruinierte Land nach einem halben Jahrhundert Diktatur und mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg einen Neustart schaffen. Die Hintergründe des blitzartigen Sturzes des Regimes zeigen: Auch sein Verbündeter, der Iran, ist geschwächt. Das politische Erdbeben kann eine neue Ära des Nahen Ostens einleiten.
Von einem „Moment der großen Hoffnung, aber auch einem Moment der riskanten Ungewissheit“, sprach der noch amtierende US-Präsident Joe Biden in seiner ersten öffentlichen Reaktion auf die fundamentalen Umwälzungen in Syrien. Nach mehr als einem halben Jahrhundert brach die Herrschaft des Assad-Clans in sich zusammen wie eine Sandburg unter einer Welle. Nachdem am 29. November die zweitgrößte Stadt Syriens, Aleppo, vom Regime nach einem Vorstoß der islamistischen Opposition fast kampflos aufgeben worden war, fielen weitere Städte und schließlich die Hauptstadt Damaskus wie Dominosteine.
Am Sonntag um sieben Uhr morgens war es nach einem Blitzkrieg, der nur zehn Tage gedauert hatte, klar. Präsident Bashar al-Assad ist Geschichte. Syriens Armee, einst eine der schlagkräftigsten des Nahen Osten, hat so gut wie kampflos aufgegeben. Menschen feierten in den Straßen. „Unsere Herzen tanzen voll Freude“, schilderte Walaa Salameh, eine junge Frau aus Syriens Hauptstadt Damaskus, die Stimmung: „Wir können die Zukunft nicht vorhersehen, alles ist jetzt möglich, aber das Wichtigste derzeit ist, dass wir dieses Regime losgeworden sind.“ Aus der Türkei und dem Libanon, wo bis zu fünf Millionen Syrerinnen und Syrer Schutz gesucht haben, strömen die Flüchtlinge in langen Autokolonnen zurück in ihre Heimat. Hoffnung liegt in der Luft, überschattet von der Sorge vor Instabilität.
Assads Hinterlassenschaft
Flüchtlinge sind Assad und seine Familie geworden. Sie haben sich nach Moskau abgesetzt und um Asyl angesucht. Nun wird die Villa des Machthabers durchforstet. Für die völlig verarmte Bevölkerung unvorstellbarer Luxus kommt dabei zutage. Syrien hingegen ist ruiniert. 90 Prozent der Menschen brauchen humanitäre Hilfe, um zu überleben. Hunger und Elend prägen das Land, in das nun Millionen von Flüchtlingen zurückkehren können und wahrscheinlich auch wollen. Aber ob das möglich ist, wird maßgeblich davon abhängen, dass rasch Hilfe ins Land kommt und ein Wiederaufbauprogramm gestartet wird. Davor muss sich allerdings eine neue, belastbare politische Führung herauskristallisieren.
Langsam treten die Konturen einer möglichen Nachkriegsordnung zutage. Bereits 2015 wurde die UN-Resolution 2254 verabschiedet, die einen Ansatz für eine Friedenslösung enthält. Eine Übergangsregierung soll über einen Zeitraum von 18 Monaten die Verwaltung des Landes übernehmen und eine neue Ordnung Syriens aushandeln: eine Verfassung und auch den Ablauf von demokratischen Wahlen.
Die neue Führung scheint sich an diesen Prinzipien zu orientieren. Der von Assad eingesetzte Premierminister Mohammed Ghazi al-Jalili wurde von Rebellen-Kämpfern aus seinem Büro in ein Luxushotel begleitet. Hier fanden bereits Montag erste Treffen mit der Führung der radikalen Islamisten-Gruppe „Hayat Tahrir al-Sham“ („HTS“) statt. Eine Zusammenarbeit wurde vereinbart. Diese Miliz kontrollierte während der vergangenen Jahre die letzte Hochburg der Opposition, die Provinz Idlib.
Die neuen Machtfaktoren
Ursprünglich war die „HTS“ ein Teil der al-Kaida, doch ihr Boss Mohammed al-Julani hat sich von der Terrororganisation losgesagt und eine Bewegung formiert, die auf radikal-islamistischem Gedankengut basiert, aber auch mit viel Pragmatismus Idlib verwaltet, wo vier Millionen Binnenvertriebene gestrandet sind. In seinem ersten Interview mit einem westlichen Medium, dem US-Sender CNN, versuchte al-Julani zu beruhigen: „Wir planen eine Übergangsregierung zu bilden, die auf Institutionen und Räten basiert, bestimmt von der Bevölkerung.“
Den Willen zur Kooperation signalisierten so gut wie alle politischen Gruppen des Landes, sogar Vertreter der Bevölkerung von Assads Heimatort, der Stadt Qardaha. Am Sturz Assads waren neben der „HTS“ auch Oppositionsgruppen im Süden des Landes beteiligt, die von Jordanien und den USA unterstützt werden. Im Norden kämpften Milizen der sogenannten „Freien Syrischen Armee“ (SDF) gegen ihn. Diese wurden von der Türkei trainiert und hochgerüstet. Ebenfalls im Norden operieren die kurdischen „Syrischen Verteidigungskräfte“. Sie kontrollierten bereits vor dem Ende des Regimes ein Drittel des Landes. Die Spannungen zwischen diesen unterschiedlichen Milizen bergen ein hohes Konfliktpotenzial. So haben sich die von der Türkei unterstützten Milizen bereits heftige Kämpfe mit den kurdischen Einheiten geliefert.
Es wird klar: Es geht auch um die Interessen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. „Ohne das grüne Licht der Türkei wäre der Vorstoß nie möglich gewesen“, sagt Gönül Tol, Autorin eines Buches über Erdoğans Anteil am syrischen Bürgerkrieg. Dies sind keine guten Nachrichten für Syriens Kurdenpolitiker, die Erdoğan als Feinde einstuft.
Angst vor neuer Repressionen
Sorge kursiert auch in der christlichen Minderheit. Nach dem Fall Aleppos wurde dort ein Christbaum, der für das Fest der Heiligen Barbara aufgestellt worden war, von den Rebellen zerstört. Eilig wurde er auf Kommando des „HTS“-Bosses al-Julani repariert und das Gerücht lanciert, der Bischof Aleppos wäre für den Job des Bürgermeisters der zweitgrößten Stadt Syriens vorgesehen. Und bereits zu Beginn der Woche wurde von der „HTS“-Führung per Dekret festgehalten, dass es verboten sei, Frauen ob ihrer Kleidung zu kritisieren.
Dies gibt einen Eindruck davon, wie hochkomplex das Unterfangen ist, dieses Land zu regieren. Syriens Bevölkerung ist tief gespalten: Die meisten Menschen sind sunnitische Muslime, jeweils circa ein Zehntel sind Christen oder – so wie der Assad-Clan – Alawiten. Knapp ein Fünftel sind Kurden, die von der arabischen Mehrheit lange unterdrückt wurden, deren Milizen aber seit ihrem erfolgreichen Kampf gegen die Terrorarmee des sogenannten „Islamischen Staates“ weite Territorien im Nordosten hält und autonom verwaltet.
Die Unterstützer Assads
Dem Assad-Clan gelang es nur mit einem brutalen Unterdrückungsapparat, an der Macht zu bleiben. Doch nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs konnte der Präsident nur noch mithilfe seiner engsten Verbündeten politisch überleben: der Islamischen Republik Iran samt ihren loyalen schiitischen Milizen in der Region und dem Langzeit-Alliierten Russland. Kurz nach Ausbruch des Aufstands im Jahr 2011 desertierte ein Großteil der Armee-Angehörigen. Damals sprang Irans Revolutionsgarde ein und mobilisierte auch den zentralen Verbündeten, die libanesische Hisbollah-Miliz. Gemeinsam agierten sie als Assads Bodentruppen. Doch das reichte nicht. Ab 2015 griff auch Russlands Luftwaffe ein. Dies wendete das Blatt zugunsten des Regimes.
Doch beide Verbündete strauchelten zuletzt. Der Iran und vor allem die Hisbollah sind angesichts des Konflikts mit Israel massiv geschwächt, Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine andere Priorität: den Angriffskrieg auf die Ukraine. Beide Allierten ließen Assad deshalb im Stich. Auf die eigene Armee konnte sich Assad genauso wenig verlassen wie bereits 2011. Wenig motiviert zeigten die Soldaten kaum Ambitionen „ihren“ Präsidenten zu verteidigen. Sie gaben nicht nur die Stadt ab, sie desertieren in großer Zahl und lassen wertvolles Gerät und Munition zurück. „Die Einheiten des Regimes waren nicht einmal noch in der Lage ihre Panzer in Gang zu bekommen“, fasst der Militär-Analyst Gregory Waters den verheerenden Zustand der syrischen Armee zusammen.
Das Leid der Bevölkerung
910 Menschen starben bei den Kämpfen, die zum Sturz Assads geführt haben; darunter 138 Zivilisten. – Während des Bürgerkriegs sind eine halbe Million Menschen umgekommen, für 90 Prozent der Toten war das gnadenlose Vorgehen des Regimes und seiner Alliierten verantwortlich. In Oppositionsgebieten wurden Schulen und Krankenhäuser angegriffen, es wurde mehrmals Giftgas eingesetzt. Viele, die den Aufstand gegen Assad mitgetragen haben, landeten im Kerker. Es stand auch unter Strafe, medizinische Hilfe für Aufständische zu leisten. Mit dem Fall Assads tritt das Ausmaß der Brutalität des Regimes zutage. 112.000 Menschen waren in den Folterkellern vermisst, wo nun die Überlebenden befreit werden.
Seit einem Putsch durch Hafiz al-Assad im Jahr 1970 hatte der Clan das Land mit schier unfassbarer Brutalität regiert. Sein damals 35-jähriger Sohn Bashar erbte die Macht im Jahr 2000. Die Hoffnungen, der junge Augenarzt könnte das Regime reformieren, zerschellten bald. Nun ist das Assad-Regime Geschichte. Ein Ereignis, dessen Folgen weit über Syrien hinaus den Nahen Osten fundamental verändern könnten. „Es kann sein, dass die Achse des Irans zerstört wurde, die Hisbollah hat 4.000 Mann im Krieg mit Israel verloren, die irakischen Milizen rühren keinen Finger mehr. Mittlerweile scheint es so, als ob sogar der Iran selbst extrem verwundbar ist“, lautet die Analyse von Beamten des US-Verteidigungsministeriums.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2024 erschienen.
„Hayat Tahrir al-Sham“ („HTS“)
Sie wird vom 42-jährigen Mohammed al-Julani geführt, besteht aus einem Dutzend Rebellen-Milizen. Ihre Ideologie gilt als radikal-islamistisch. Sie ist von den USA als Terrorgruppe gelistet, da ihre Ursprünge auf die al-Kaida zurückgehen. Die HTS hat sich aber abgespalten, mit der „Nationalen Rettungsregierung“ die Provinz Idlib verwaltet und hier monatlich bis zu zehn Millionen Euro an Steuern kassiert. Dieses Geld ist in die Ausrüstung auch das Training für den Sturz Assads geflossen.
Irans Revolutionsgarde
Diese paramilitärischen Einheiten gelten als Schattenmacht des Irans. Sie stehen unter dem direkten Befehl des Oberstens Führers Ayatollah Khamenei. Seit den 1980er-Jahren hat ihre Auslandsabteilung Terrorgruppen und schiitische Milizen in der gesamten Region finanziert und hochgerüstet. Darunter die Hisbollah im Libanon, die Hamas in Palästina und die Houthi-Rebellen. Kämpfer dieser Milizen waren auch maßgeblich am Machterhalt der Assads beteiligt.