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Heute gibt es tausende Varianten der ursprünglichen Struwwelpeter-Geschichten: in unzähligen Sprachen und Dialekten, anders illustriert, als Satire, Gegenentwurf und für Propagandazwecke. Dass das Buch so langlebig und so wandelbar ist, liegt an seiner "Anschlussfähigkeit", sagt Beate Zekorn-von Bebenburg, die Leiterin des Frankfurter Struwwelpeter-Museums. "Alle die Geschichten lassen sich im Kern sehr gut auf die Gegenwart übertragen."
Bei Hanns Guck-in-die Luft sieht der heutige Leser sofort Jugendliche mit dem Blick aufs Handy wie ferngesteuert durch die Stadt laufen. Bei der Geschichte vom Zappel-Philipp denkt man an ADHS und beim Suppen-Kaspar an Magersucht. Auch wenn diese Diagnosen damals so noch nicht existierten: Hoffmann war Arzt. "Es ging ihm darum, Kinder vor Schaden zu bewahren", sagt Zekorn-von Bebenburg.
Die Geschichte vom Daumenlutscher warne vor Infektionen, Pauline mit den Streichhölzern vor unachtsamem Umgang mit Feuer. Den Struwwelpeter selbst, das Kind, das sich nicht Nägel und Haare schneiden lassen will, sieht sie als "eine Ikone der Rebellion".
Dass Hoffmanns Figuren als schwarze Pädagogik und damit auch kritisch gesehen werden, kann sie einerseits verstehen. Andererseits gehe es Hoffmann auch immer "um das Anderssein und das Anderssein dürfen".
Hoffmann (1809-1894) war jedenfalls alles andere als ein strenger, autoritärer Mensch, wie der Besucher im Struwwelpeter-Museum erfährt. Er zeichnete Karikaturen und schrieb Satiren, liebte schwarzen Humor und war bisweilen ein ziemlicher Kindskopf. Er gründete er einen Club, in dem sich die Mitglieder als Gemüse ansprachen. Dort überredete Verleger "Spargel" den Arzt "Zwiebel", die Struwwelpeter-Geschichten zu veröffentlichen.
Die erste Fassung erschien 1845 unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb. "Der Schlingel hat sich die Welt erobert", wunderte sich Hoffmann, als das Buch bald so bekannt ist, dass selbst Kaiser Wilhelm I. ihn kennenlernen wollte. Die handgezeichnete Urfassung, die der kleine Carl 1844 von seinem Vater zu Weihnachten bekam, ist im Frankfurter Museum leider nicht zu sehen. Es gehört dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.
Dass die Geschichten bis heute "funktionieren", liegt nach Ansicht der Museumschefin daran, dass Hoffmann Konflikte darstellt, die jedes Kind erlebt, egal in welchem Land, welchem Staat, in welcher Zeit es lebt: Es muss Gefahren abschätzen, sich mit Regeln auseinandersetzen, sich seinen Ängsten stellen. Humor und Fantastik helfen dabei, die Bedrohlichkeit abzumildern.
So zeitlos die Vorlage ist mit ihren "archetypischen Kindheitserfahrungen", so zeitgebunden wirken die jeweiligen Adaptionen, die es im Museum zu entdecken gibt: Einem Struwwel-Hitler tropft das Blut von den Händen, beim Anti-Struwwelpeter haben die Erwachsenen den Schaden, eine DDR-Variante wirbt für staatstreues Verhalten, eine Corona-Fassung fürs Händewaschen und Maske-Tragen.
Rund 30.000 Besucher kommen pro Jahr in das privat betriebene Museum, das bereits 1977 gegründet wurde und seit 2019 in der neuen Frankfurter Altstadt zu Hause ist.
Dass der gemeinnützige Inklusionsbetrieb Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen beschäftigt, hätte Hoffmann sicher gefallen. Als Direktor der städtischen "Irrenanstalt" wurde er - neben seiner Karriere als Kinderbuchautor - zum Pionier einer humanen Psychiatrie.