Der alte Lueger blickt demonstrativ auf die andere Seite - nach rechts aus seiner Perspektive, nach links aus der des Betrachters, aber wer kann das heute noch mit Gewissheit auseinanderhalten? Dort, wohin der Wiener Bürgermeister der Jahrhundertwende, ein bahnbrechender Stadtplaner und Antisemit, nicht blickt, liegt das Café Prückl. Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, 70, hat sich dort zum Gespräch mit News niedergelassen. Um ihren Corona-Roman "So ist die Welt geworden" an den Leser zu bringen und um zu erklären: unter anderem, warum sie vor dem Monument Mahnwache geschoben hat und warum es nicht reicht, die gesprayten "Schande"-Applikationen zu belassen. Wie man alte Ansichtskarten vom Kühlschrank kratze, so solle man auch unter Denkmälern aufräumen. Und dieses, auf dem alle zu sehen seien, "nur die Opfer nicht", gehöre weg. "Die Platane genügt. Sie ist das bessere Denkmal." Der weiße Haarschwall sträubt sich kämpferisch. "Ich schlage vor, diese Bronzefigur den Personen, die sie so wichtig finden, in die Wohnung zu stellen und wie die Madonna von Međugorje in Wien herumgehen zu lassen."
Der erste Populist
Der erste Populist Österreichs sei Lueger gewesen, für die Klientel der Hausbesitzer habe er die Arbeiter über die Mieten ausgebeutet, Hunderttausende Heimarbeiterinnen ins Prekariat, viele in die Prostitution getrieben und den Judenhass der Deutschnationalen ins allgemeine Bewusstsein importiert.
Dafür brauche man kein Denkmal, nicht einmal dafür, die Straßenbahn verbessert zu haben. Wenn am Eingang zur Wollzeile schon etwas außer der Platane stehen müsse, so das gigantische Berliner Lenin- Denkmal, das seinerzeit der Bildhauer Alfred Hrdlicka vor der Demontage nach Wien retten wollte. " Stalin würde ich ablehnen", räumt sie ein. Und dass sie unbeeindruckt Kommunistin sei. "Die sind heute die demokratischste Partei mit dem schönsten Sozialprogramm. Sie haben eben etwas aus der Geschichte gelernt. Die Nazis sind nicht schöner geworden."
Sagt die Tochter aus hoch konservativer Familie. Der Vater war ÖVP-Bürgermeister in Baden, Schwiegervater Ernst Ritter von Streeruwitz christlich-sozialer Kürzestzeitbundeskanzler und Anschluss-Befürworter. Mit ihrem damaligen Gatten Ernst Streeruwitz junior amtierte die gebürtige Marlene Wallner bei der konservativen Studentenfraktion ÖSU und gründete 1974 eine eigene Frauenliste, "weil mich die Burschenschafter nicht mehr aufgestellt haben". Als sie bei den damals Jungen das schwarze Weltbild der Zukunft studieren konnte, schärfte sie ihr Bewusstsein nach links. Sie wurde eine der markantesten feministischen Schriftstellerpersönlichkeiten des Sprachraums.
Corona, der Roman
Corona also, und der pfiffige, virtuose Roman "So ist die Welt geworden" über eine Frau, die sich in der neuen Abnormalität zurechtfinden will. "Eine unglaublich tapfere Person, die alles tut, um es zu überstehen", charakterisiert Marlene Streeruwitz ihr Geschöpf. Ein Selbstporträt? "Nein. Aber ich habe diese Kämpferin erfunden, um mir selbst durchzuhelfen. Sie soll vorauskämpfen, und ich kämpf hinten nach."
Denn sie selbst habe in dieser Zeit alles verloren. "Ich bin gewohnt, in der Welt herumzudüsen, und habe mehr Freunde in New York als hier. Jetzt bin ich abgenabelt und allein. Meine Enkelkinder sind in der Schule, Besuche wären riskant."
Seit 1984, ihrem Anfang als Schriftstellerin, habe sie das Homeoffice gelebt. "Wien war der Ort, an dem ich Ruhe hatte und mich konzentrieren konnte. Das Leben war auswärts. Aber jetzt kann ich mich nur mehr konzentrieren." Nicht zu reden vom errechenbaren Unheil. "Ich hatte seit März 30 Lesungen, die abgesagt wurden, Symposien zu meinem Werk in Hannover und Brüssel, Workshops, Projekte, Diskussionen -die Lebensbasis ist weg. Ich habe keine Einkünfte und bin finanziell in ernste Bedrängnis geraten. Von der Stadt Wien habe ich 3.000 Euro bekommen. Die halten nicht lang, aber immerhin. Von der Wirtschaftskammer, fügt sie spitz hinzu, seien 700 Euro gekommen. "Nachdem ich einen Verlust von 30.000 eingereicht habe."
Die Maßnahmen des Bundes? Greifen nicht. Pension habe sie keine, weil sie, Kanzler Schüssel folgend, für eine Privatpension eingezahlt habe. "Ich dachte, ein kritischer Mensch solle auf sich selbst gestellt sein." Doch dann kam die Wirtschaftskrise 2007, und das Eingezahlte war vergeigt. "Ich hab was zurückgelegt, und verhungern tu ich nicht. Aber das Gefühl, für mich selbst sorgen zu können, ist mir genommen worden."
"Die Regierung trickst und lügt"
Wie gefällt ihr nun das neue rechts-linke Regierungskonglomerat, speziell im Lichte der Corona-Maßnahmen? Das Spiel mit der Angst vor 100.000 Toten, um tendenziell Depperte zur Disziplin zu nötigen?"Die Leute sind nicht tendenziell deppert, sie waren in der ersten Zeit alle im Boot. Aber es ist nicht die Aufgabe des Staates, das Gewaltmonopol auch auf die psychischen Ängste auszuweiten. Es geht darum, uns in einer anderen Form, als es geschehen ist, ernst zu nehmen. Ich bin schwer beleidigt. Die Regierung trickst und belügt uns, und wir haben keine Lust mehr."
Wenn sie Kurz und Anschober in der Endlosschleife beim Predigen zusieht, hört sie sich dann Angela Merkel an, um zu ahnen, wie es auch gehen könnte. Dabei denkt sie nicht daran, die Seuche zu verharmlosen. Ihre Tochter ist Ärztin in London und war selbst infiziert. Sie ist spindeldürr, weil sie bis heute weder riechen noch schmecken kann und nicht essen will.
Die Schriftstellerin Betty wurde von der Pandemie aus dem Leben gekippt. Der Roman "So ist die Welt geworden"* , zunächst in Fortsetzungen online gestellt, ist jetzt gedruckt verfügbar.
Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn Sie auf einen Affiliate-Link klicken und über diesen Link einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.
Das Wiener Wahlergebnis gefällt ihr, sie hofft auf die Fortsetzung der rot-grünen Koalition, die tue den Sozialdemokraten gut. "Weil die Neos den neoliberalen Anteil verstärken würden, den die SPÖ in überdimensionalem Anteil hat. Denken wir nur an den Sparkassendirektor Vranitzky."
Aber: Die Grünen seien bloß auf lokaler Ebene nützlich, ungeeignet zur Übernahme größer dimensionierter Verantwortung. Der Vizekanzler? Sie findet eine nur grenzwertig publizierbare Charakterisierung. "Das Problem ist die magere Ausstattung der Grünen mit staatspolitischem Verständnis." Die Regierung könne der Pandemie nur danken, fügt sie hinzu. "Sie muss nur den Verwaltungs-und Hygienestaat mit Polizeigewalt und Propagandalügen führen und Pressekonferenzen halten. Die Grünen haben davor keine Anstalten gemacht, die Grauenhaftigkeiten der FPÖ-ÖVP-Regierung zu beseitigen." Kein Widerstand gegen kleine ideologische Maßnahmen, Kinder mittels Benotung in Staatshaft zu nehmen. Und gegen große, Moria betreffend, schon gar nicht.
"Bodensatz verstörter Männlichkeit"
Um die FPÖ müsse sich keiner sorgen, auch nach Strache, dieser "traurigen Figur des Heiratsschwindlers, der es immer wieder probiert, obwohl er längst aufgeflogen ist". Denn die FPÖ sei unsinkbar. "Dieser Bodensatz verstörter weißer Männlichkeit wird immer da sein. Und die Komplizinnen, die da mitarbeiten, sind Frauen, die Männer sind. Auch in der Regierung gibt es viele davon", kommt sie auf den türkisen Langzeiterfolg. "In der ÖVP ist Testosteronnachweis für Frauen Regierungsbedingung. Alle ein bissel hübsch, so wie die Frauen in den Fernsehserien." Der Kanzler? "Hat nichts Charismatisch-Großartiges, ein mittelmäßiger politischer Verstand." Ernstlich beängstige sie sein mangelndes Mienenspiel. "Das haben Psychopathen." Aber auch in Anschobers Gesicht rührt sich nichts! "Der ist starr vor Angst."
Die SPÖ, kommt sie auf das geliebte Problemkind, "soll sich nicht dauernd für das Kenzo-Kostüm der Vorsitzenden und die Armbanduhr von irgendwem entschuldigen. Sondern endlich verarbeiten, dass es Individualismus gibt und wir alle seit 1945 einen Aufschwung genommen haben. Sie sollen lieber die sozialistischen Grundsätze auf die neuen Umstände anwenden."
Ludwig, Doskozil und Kaiser versprächen da keine nachhaltige Änderung, sondern verkörperten das letztes Aufbäumen des Hausvaters in der SPÖ. Man müsse sich um die Zukunft kümmern und die Klassenfrage wieder ernsthaft stellen. "Denn der Erfolg von Kurz ist die Vorwegnahme des Niedergangs dieses Männertyps um drei Generationen."
Noch etwas? Ja, um den Berichterstatter zu reizen: "Ich kenne lauter Männer der Eliten, die am Tag entlassen und Wirtschaftsmaßnahmen treffen, die uns allen nicht gut tun, und am Abend zum Weinen in die Oper gehen. Das ist eine Kultur, die Elitenerhalt betreibt und nicht vom Steuergeld erhalten werden soll." Auch für die weltformatige österreichische Komponistin Olga Neuwirth sei keine Ausnahme zulässig. "Oper ist Oper."
Schlicht phänomenal, wie einen die bedeutende Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in Weißglut versetzen kann.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 43/2020.