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Staatsstreich in Zeitlupe

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Tamara Ehs
©Bild: Matt Observe
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Wie der Austrofaschismus in den Jahren 1933/34 Schritt für Schritt die Demokratie abgelöst hat, dokumentiert eine Ausstellung in der Wienbibliothek. Die Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs zieht aus dem Dollfuß-Regime Lehren für die heutige Zeit.

Es geschah in "Ruhe und Ordnung", wenn auch keineswegs plötzlich. Die Regierung Dollfuß hat die Demokratie schrittweise, stets unter dem Anschein der Legalität, ausgehöhlt. Das geschah zwischen März 1933 und Februar 1934 mittels einer Reihe von Notverordnungen, die einem permanenten Verfassungsbruch gleichkamen. Den Startschuss der Zerstörung der ersten Republik markiert die Ausschaltung des Parlaments im März 1933. Österreich kippte daraufhin in eine autoritäre Staatsform mit faschistischen Zügen: Parlamentarismus, Sozialstaat, Grund- und Freiheitsrechte sowie die Verfassung und das rote Wien wurden schrittweise ausgehebelt. Das knappe Jahr zeigt als Lehrstück, wie eine übermächtige Exekutive die politische Opposition zuerst mit administrativen Mitteln, später mit Staats- und Waffengewalt ganz auszuschalten vermag.

Heute, 90 Jahre später, mahnt die Ausstellung zur Wachsamkeit. Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs sieht in den Geschehnissen der frühen 1930er-Jahre ein "Drehbuch" für aktuelle Autokraten. Sie beantwortet im Interview die Frage: Ab wann gilt es, besorgt zu sein?

Frau Ehs, Sie sehen in den Geschehnissen 1933/34 ein "Playbook" für Autokraten. Welche Lektionen hält der Austrofaschismus für die heutige Zeit bereit?
Die Analyse der 20er- und frühen 30er-Jahre gibt uns nicht nur in die damaligen Geschehnisse Einsicht, sondern auch für aktuelle politische Vorgänge Orientierungswissen. Das stärkt unsere kritische Urteilsfähigkeit, damit wir diesmal auf erst unmerkliche Vorgänge schon früher reagieren können. Trotzdem will ich vor einem direkten Vergleich der heutigen Zeit mit den 1930er-Jahren warnen: Erstens waren das soziale Elend, die Hyperinflation, die Arbeitslosigkeit und Armut damals viel drastischer, zweitens ist unsere Demokratie heute besser aufgestellt. Aber auch heute stecken wir in einer Polykrise. Beginnend mit der Finanz-und Eurokrise 2008, gefolgt von Flüchtlingskrise, Pandemie und Ukrainekrieg, nun der Nahostkonflikt mit unabsehbaren Auswirkungen. Solche Polykrisen sind immer Brandbeschleuniger für autokratische Bestrebungen: Der Ruf nach einem starken Mann, der sich zur Heilsfigur aufschwingt und endlich Taten setzt, wird in solchen Zeiten laut. Das kennen wir von damals: Auch in den 20er-Jahren gab es diesen Ruf nach dem "Tatmenschen", der endlich aufräumt, den "Revolutionsschutt" beseitigt, dieses so bezeichnete "Ausmisten" auf Kosten demokratischer Prinzipien.

Sie sprechen gerne von einem "Staatsstreich in Zeitlupe". Sind die Warnzeichen heute subtiler als damals?
Ja. Genau das beobachten wir in Staaten wie Italien, Ungarn, Argentinien oder auch den USA. Die Demokratie wird nicht plötzlich mit dem Vorschlaghammer zerschlagen und zerstört. Es sind vielmehr allmähliche, einzelne Veränderungen, die eine Fassade der Legalität wahren, aber demokratische Institutionen schrittweise aushöhlen. Das macht es für Bürgerinnen und Bürger schwieriger, diesen Markstein zu sehen -da, wo alles kippt. Klare Kippunkte gab es in der Autokratisierungswelle der 60er- und 70er-Jahre, zur Zeit der Militärputsche, als die Panzer auf den Straßen standen und plötzlich alles anders war. So läuft es nicht mehr: Wir haben heute einen kompetitiven Autoritarismus, der sich Wahlen stellt. Mit Mehrheiten im Parlament, gestärkt durch die Bevölkerung, werden dann die demokratischen Spielregeln zum eigenen Vorteil umgeschrieben. Es gibt weiterhin Wahlen, Verfassungsgerichte und Medien - sie wurden aber schon ihrer Kontrollfunktion beraubt.

Welche Signale sollten die Zivilgesellschaft in Alarmbereitschaft versetzen?
Es beginnt mit einer Sprache der Polarisierung, der Konfrontation. Autoritäre Politiker moderieren gesellschaftliche Spaltungslinien nicht, sondern nützen sie aus, vertiefen sie, verwickeln das Volk in Kulturkämpfe um irrelevante, aber strategische Scharmützel. So schaffen sie Mehrheiten, die dann für demokratiepolitisch fragliche Maßnahmen missbraucht werden. Dafür ist Ungarn ein gutes Beispiel. Es gibt ein Verfassungsgericht, Medien und Wahlen. Aber die Zivilgesellschaft ist geschwächt und desillusioniert, die Wahlkreise wurden neu gezogen, das Verfassungsgericht neu besetzt - das Spielfeld wurde in eine Schieflage gebracht, der Ball rollt von ganz alleine ins Tor der Regierungspartei. Selbst wenn es einen Machtwechsel geben sollte - das ist schwierig, aber möglich - wurde die Verfassung schon so geändert, dass das System Orbán strukturell verankert ist. Das Völkisch-Klerikale wurde zur Staatsräson gehoben. Auch die PIS-Partei in Polen hat mit einem religiös verbrämten Nationalpopulismus Stimmen geholt. In beiden Staaten sieht man ähnliche klerikalfaschistische Tendenzen, wie wir sie in den 30er-Jahren unter Dollfuß hatten.

Wir müssen Demokratie als Spiel sehen, das wir ewig weiterspielen wollen

Warum ist diese Rückwärtsgewandtheit auch heute ein solches Erfolgsrezept?
Man verklärt die gute alte Zeit, als noch alles und jeder seinen Platz hatte. Der Blick zurück war auch in den 20er- und 30er-Jahren ein sicherer Mobilisator des Volkes. Der Einbruch der Moderne, die "Roaring Twenties" haben die Gesellschaft aufgemischt. Die Stellung der Frau war plötzlich nicht mehr automatisch am Herd - durch den Ersten Weltkrieg sind Frauen auch in berufliche Positionen gelangt, die vorher Männern vorbehalten waren. Die Modernisierungsverlierer aber haben sich die Monarchie zurückgewünscht, den Katholizismus aus der Zeit vor der Aufklärung beschworen. Heute sehen wir diese Rückwärtsgewandtheit auch bei Orbán und Kaczinsky, oder hören sie deutlich in Trumps Slogan "Make America great again." In Österreich hat sich dieses Stilmittel beispielsweise in der Normalitätsdebatte niedergeschlagen. Das ist kontraproduktiv: Aufgabe der Politik wäre es, neue Normalitäten zu moderieren, anstatt weiter spaltend einzugreifen. Was normal ist, ist immer ein Kind der Zeit.

Kann man von internationalen Ansteckungseffekten autoritärer Tendenzen sprechen?
Ja. Das werden wir auch bei den Europäischen Parlamentswahlen im nächsten Jahr beobachten. Vor allem sehen Staatenführer: Was geht bei anderen durch, was nicht? Wann regt sich die Europäische Union auf, wann streicht sie Gelder, wann verhängt sie Sanktionen? Polen, Ungarn oder Italien inspirieren sich gegenseitig dazu, wie weit man gehen kann. Aber es gibt auch positive Ansteckungseffekte. Wir können uns auch an Ländern orientieren, in denen die Demokratie besser geschützt ist als in Österreich. Bei den Themen Informationsfreiheitsgesetz und Transparenz orientiert man sich am besten an Skandinavien, bei der Regulierung von Postenschacherei an den Niederlanden. Je bestimmter die internationale Gemeinschaft, die Europäische Union reagiert, desto geringer sind Autokratisierungsansteckungen.

Wie präsent sind kritische Entwicklungen in Österreich?
In Österreich ist die Demokratie nicht in ihrem Bestand, sondern in ihrer Qualität gefährdet. Im bekannten Demokratieindex der Universität Göteborg belegt Österreich den 33. von 179 Plätzen - das ist im internationalen Vergleich großartig. Beunruhigend ist aber die Tendenz nach unten. Wir werden sukzessive herabgestuft, wenn es um transparente Gesetze und ihre Durchsetzung, Medienfreiheit, Korruption, Angriffe auf Justiz und Staatsanwaltschaft, Postenschacherei geht. Für solche Fehlentwicklungen sind wir anfällig, weil die Demokratisierung hierzulande nicht voll abgeschlossen wurde. Wir waren nie dort, wo die skandinavischen Staaten sind. Autokratisierung ist stets ein Vexierbild mangelhafter Demokratisierung. Insgesamt haben wir aber eine starke Zivilgesellschaft, eine unabhängige Justiz und vor allem eine starke internationale Einbindung. Wir dürfen nicht vergessen, in Ungarn oder Polen wäre die Autokratisierung wesentlich weiter fortgeschritten, wenn es die Europäische Union nicht gäbe.

Gerade in diesen Staaten haben Krieg und Pandemie Notstandsverordnungen zurück ins politische Repertoire geholt. Ist das bedenklich?
Auch das kennen wir aus den 30er-Jahren: Zur Herstellung von "Ruhe und Ordnung" untergrub die Dollfuß-Regierung die Verfassung. Parlamentarismus, Sozialstaat, Grund- und Freiheitsrechte wurden damals durch mehr als 300 Verordnungen ausgehebelt. Grundsätzlich gilt: Je gefestigter eine Demokratie ist, desto weniger kann eine Krise, in diesem Fall die Pandemie, dem Staat anhaben. Wenn politische Machthaber autokratischen Zügen nicht abgeneigt sind, ist jede Krise ein weiteres Gelegenheitsfenster - das haben wir besonders in Ungarn, aber zum Beispiel auch in der Türkei gesehen, wie ich mit meiner Kollegin Ece Göztepe kürzlich analysierte. In Österreich gab es während der Pandemie zwar keinen rechtlichen, dafür aber einen rhetorischen Ausnahmezustand mit grober Übersteuerung. Man braucht die drohende Apokalypse, um das Volk hinter Maßnahmen zu versammeln, die in normalen Zeiten nicht durchgehen würden. Das zeigte sich auch in einem nachlässigen Umgang mit dem Rechtsstaat: zum Beispiel, als der damalige Bundeskanzler gesetzwidrige Verordnungen als "juristische Spitzfindigkeit" bezeichnet hat. Das zeugt von einer Verwahrlosung der demokratischen Gesinnung.

Das Buch: Der Sammelband zur Ausstellung "Die Zerstörung der Demokratie" arbeitet die ausgestellten Inhalte mit Essays und Analysen zahlreicher namhafter Historiker auf.*

Die Ausstellung: In der Wienbibliothek im Rathaus ist die Ausstellung Zerstörung der Demokratie, die einen detaillierten Einblick in die Anfänge des Austrofaschismus gibt, noch bis 16. Februar 2024 frei zugänglich.

Apropos sinkende Moral: Warum geht offen demokratiefeindliches Verhalten so sang-und klanglos durch?
Der Regelbruch ist Teil der Normalisierungsstrategie. Die ÖVP-Chatprotokolle sind ein gutes Beispiel für autoritäre Fantasien und die Verachtung von demokratischen Institutionen. Oder Ex-Finanzminister Blümel, der ermittlungsrelevante Akten nicht an den Untersuchungsausschuss liefern wollte, und seine Frau mit dem Laptop spazieren geschickt hat. Es beginnt beim Bruch von einfachen Benimmregeln, an die das Volk gewöhnt wird, sodass es schließlich auch Rechts-und Verfassungsbrüche hinnimmt - weil sie wie nebenbei normalisiert werden. Ein solcher Kandidat ist auch Herbert Kickl, der sich als "Volkskanzler" über Institutionen der repräsentativen Demokratie stellen will und diese als marodes, kaputtes System darstellt. Sich selbst inszeniert als Macher nach dem klassischen Ausmister-Typus.

Was kommt auf uns zu, falls 2024 tatsächlich die FPÖ den Kanzler stellt?
Was Kickl prägt, ist ein verzerrtes und seichtes Demokratieverständnis, ein typischer Vertreter des kompetitiven Autoritarismus. Die Aufgabe politischer Vertreter sollte sein, Kompromisse zum Wohle aller zu finden. Kickl aber schmäht den Kompromiss und damit den Parlamentarismus. Er hat angekündigt, mit Volksbefragungen zu arbeiten, sich ein imperatives Mandat zu holen, indem er den Artikel 1 der Verfassung ("Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus") bewusst als "Das Recht geht vom Volk aus" missdeutet. Diese Politik nach Laune, nach Umfragen, haben wir schon unter Sebastian Kurz gesehen, nach dem Motto: Hauptsache man inszeniert sich als Heilsbringer und gewinnt die Woche medial für sich. Dabei wird die Eskalation von Problemen bewusst in Kauf genommen. Die Kurz-ÖVP hat ein sehr radikalisiertes Verständnis von Politik an den Tag gelegt, das auch die Kickl-FPÖ pflegt. Was auch geschehen könnte: Wenn die FPÖ nicht nur den nächsten Kanzler, sondern auch den spätestens 2028 neu gewählten Bundespräsidenten stellt, gibt es vollkommen neue Voraussetzungen.

Was wären die Konsequenzen einer solchen Doppel-Machtspitze der FPÖ?
Das Amt des Bundespräsidenten hat seit der 1929er-Novelle, die der eigentliche Startschuss für den Weg in den Faschismus war, einen sehr autoritären Touch bekommen. Er ernennt und entlässt den Bundeskanzler, erlässt Notverordnungen, ist Oberbefehlshaber des Bundesheers und kann zur Not die gesamte Bundesregierung entlassen. Das haben bisherige Bundespräsidenten nicht ausgereizt. Sie haben Rollenverzicht ausgeübt, weil sie demokratiekompatible Persönlichkeiten sind - es gab und gibt ein Bewusstsein dafür, dass die 29er-Novelle ein demokratiepolitisches Problem ist. Ein FPÖ-Bundespräsident könnte das aber ausreizen - Norbert Hofer hat schon im Wahlkampf 2016 angekündigt, dass wir uns noch wundern werden, was alles möglich ist.

Stichwort "Projekt Ballhausplatz": Als wie demokratiegefährdend schätzen Sie die ÖVP heute, nach dem Sturz des Sebastian Kurz ein?
Die Ära Kurz und ihr Umgang mit der Republik, als ob sie ein Selbstbedienungsladen wäre, haben viel Institutionenvertrauen in Österreich zerstört. In Demokratie-Indizes bekommen wir laufend Minuspunkte im Bereich der politischen Kultur, weil Österreich diesen starken Hang ins Informelle hat. Was euphemistisch "Freunderlwirtschaft" genannt wird, ist tatsächlich Postenschacherei und damit Korruption. Das wiederum ist ein Angriff auf die Chancengleichheit, auf das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung. Das schwächt das Vertrauen in die Demokratie. Es ist eine Hypothek, die wir noch aus der Zeit von Türkis-Blau haben. Sebastian Kurz und sein "Projekt Ballhausplatz" haben viel Schaden angerichtet -innerhalb und außerhalb des legalen Rahmens. Gerade für Politiker sollte nicht erst das Strafrecht die Grenze sein. Zuletzt verdeutlichte der Rückzug von Otmar Karas, dass die ÖVP staatstragende Mitstreiter verliert. Das macht sie nicht per se demokratiegefährdend, aber auch für Parteien gilt: Wer in der Krise steckt, ist anfälliger für autoritären Populismus.

Ist die Republik Österreich heute, 90 Jahre nach Dollfuß, gefestigt genug?
Ja, insgesamt haben wir heute eine starke und aktive Zivilgesellschaft und stabile demokratische Institutionen. Um gegen die Polarisierung anzukommen, müssen wir in der politischen Bildung ansetzen. Es braucht ein klares Verständnis dessen, dass es in einer Demokratie keinen absoluten Sieger geben kann. Es braucht einen Willen zur Demokratie. Wir müssen diese Staatsform als Spiel sehen, das wir ewig weiterspielen wollen.

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 © Matt Observe

Tamara Ehs studierte Politik-, Kommunikations- und Rechtswissenschaften und ist als Demokratieberaterin unter anderem für die badenwürttembergische Landesregierung, die European Association for Local Democracy und die Initiative Europäische Demokratiehauptstadt tätig. Zudem engagiert sie sich in der politischen Erwachsenenbildung. Die akademische Grundlage hierzu bilden zahlreiche Forschungs- und Lehraufträge, zuletzt in Frankfurt am Main, Wien und Budapest.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 45/2023.

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