Mit dem Wissen hat es in meinem Beruf eine besondere Bewandtnis: Es ist viel, neben der Wortgewandtheit vielleicht sogar das Meiste. Aber es ist auch nicht alles. Hätte ich im Verlauf meiner Berufsausübung alles geschrieben, was ich wusste, ich dürfte mich in keinem Wiener Theater mehr blicken lassen, so wenig wie vor meinem eigenen Rasierspiegel. Und erst der leidige Informantenschutz! Ihm zu Ehren schrieb ich am Ende meiner "Spitzentöne" vom 5. August den bis zur Unsichtbarkeit verzwergten Satz: "Womit ich zart ein bald zu vertiefendes Thema streife: Der Vertrag des amtierenden Staatsopern-Musikdirektors Philippe Jordan läuft 2025 aus, und die Leidenschaft der Philharmoniker für seinen Verbleib ist von einer an Unkenntlichkeit reichenden Überschaubarkeit." Ich möge aus der Causa, an der man bald genug laborieren werde, vorerst nur ja nichts Großes machen, war ich von den Auskunftgebern dringlich ersucht worden. Schon im Juni nämlich war Jordan von seinem Abgang (spätestens) 2025 in Kenntnis gesetzt worden. Der Vertrag des Operndirektors war da schon bis 2030 verlängert. Aber dem Verbleib des Musikdirektors um weitere fünf Jahre wollte das Orchester, mit dessen Unentbehrlichkeit kein noch so großer Dirigent wetteifern kann, rein gar nichts abgewinnen.
Jordan wollte seine Vertragsverlängerung lang durchsetzen, verwies sich selbst von Pontius zu Pilatus. Als er scheiterte, suchte er via "Kurier" den gesichtswahrenden Abgang: Er könne und wolle zu den Umtrieben der Regie - am Haus und anderswo - nicht länger schweigen und verzichte daher auf Verbleib. Gut war er damit nicht beraten, aber auf die Beschaffenheit seiner Beratung komme ich noch. Zwischen Jordan und dem Orchester bestehen uralte Vorbehalte. Derlei kann sich - Boulez, Harnoncourt und Welser-Möst sind Beispiele - glückhaft ins Gegenteil wenden. Muss aber nicht: In der Tat wäre mir, zwei gelungene Mozart-Dirigate ausgenommen, seit Jordans Antritt im September 2020 an seinem Wirken nichts Hervorragendes aufgefallen. Ein eigensinnig zerdirigierter "Rosenkavalier", ein gediegener "Parsifal" und der vielleicht langweiligste erste Akt "Tristan" meines Lebens sind keine berauschende Zwischenbilanz. Das muss sich keineswegs gegen den verdienten und namhaften Dirigenten richten: Man versteht sich, oder man versteht sich nicht. In letztgenanntem Fall ist das Verhältnis zu beenden, und zwar a) im Einvernehmen und b) mit einer halbwegs eleganten Sprachregelung.
Nun ist es unerheblich, ob Jordan in drei Jahren an der Staatsoper dirigieren wird oder nicht. Aber was ist bis dahin? Im Dezember steht eine "Meistersinger"-Premiere an, es folgen "Salome" und "Figaro". Im professionellen Notkonsens bewältigt man dieses Königsrepertoire nicht. Also wäre ein sauberes Finale drei unfrohen Jahren vorzuziehen. Der Zufall will es, dass Welser-Möst den Herbst über nicht am Dienstort Cleveland weilt, sondern in Wien ein Philharmonisches und das Neujahrskonzert vorbereitet. Übernähme er, der zweite große Wagner-Dirigent, die "Meistersinger", könnte Besseres kaum eintreten. Der andere, Christian Thielemann, ist infolge hoffnungsvoller Konstellationen derzeit verfügbar wie seit Jahren nicht mehr. Er wird, was Jordan zu denken hätte geben müssen, in der nächsten Spielzeit den neuen "Lohengrin" und eine Serie der Strauss'schen "Frau ohne Schatten" dirigieren. Welser-Möst übernimmt schon im kommenden Frühjahr den "Ring". Dass für dessen spätere mögliche Neuinszenierung dann Jordan vorgesehen ist und für Welser-Möst bloß eine neue "Turandot", widerspricht jeder künstlerischen Logik.
So beantwortet sich auch die Frage nach Jordans Nachfolger: Es braucht gar keinen Musikdirektor, sondern die Besten für das Chefrepertoire. Zubin Mehta ist keineswegs zu gebrechlich, um zwischen Berlin und Florenz Opernpremieren zu dirigieren. Nagano, Chailly, Gatti, Bychkov, Metzmacher, Runnicles, Pappano, Lorenzo Viotti, Joana Mallwitz und der junge Thomas Guggeis; die Wagner-Koryphäen Axel Kober und Roberto Paternostro; oder am Ende Teodor Currentzis, der mit einer ihm vertrauenden Gruppe innerhalb des Orchesters eine Eliteformation begründen könnte wie einst Harnoncourt in Zürich. Und, warum nicht, auch wieder Jordan, der übrigens bei den Symphonikern gebraucht würde, weil er dort nach seinem Aufstieg in die Staatsoper nie adäquat ersetzt wurde: So ließe sich leben. Und betörend unabhängig würde man noch vor 2025 von Jordans Agenten, dessen Herrschaftsprinzip es ist, sich durch von ihm vertretene Musikdirektoren Macht über ein ganzes Haus zu verschaffen, um dort seine zweite und dritte Sänger- und Dirigentengarnitur zu parken.
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