Das deutsche Geistesleben empört sich über die NSDAP-Mitgliedschaft des 17-jährigen Siegfried Unseld, der nach dem Krieg als epochaler Verleger Kulturgeschichte geschrieben hat. Ihm posthum den Pfahl ins Herz zu treiben, erscheint angesichts des neuen Judenhasses entbehrlich.
Der 2002 verstorbene Karl Siegfried Unseld war ein großer Verleger, der vielleicht größte in der einschlägig glänzend ausgestatteten Geschichte Deutschlands. Als er 1959, nach dem Tod Peter Suhrkamps, dessen 1950 gegründetes Verlagshaus übernahm, konnte er schon auf ein gigantisches Portfolio mit Hermann Hesse, Bert Brecht, Max Frisch, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger zurückgreifen. Auf diesem Fundament errichtete er nichts Geringeres als die moderne deutschsprachige Weltliteratur.
Bei ihm publizierten Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Thomas Bernhard, Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss, Robert Walser. Seine Briefwechsel mit Handke und Bernhard sind selbst Weltliteratur. Er verlegte die Nazi-Opfer Paul Celan und Nelly Sachs.
Er war, wie gesagt, ein Verleger epochalen Zuschnitts. Außerdem war er „Mitglied 9 194 036“ der NSDAP, „eine Sensation aus dem Archiv“, wie der Historiker Thomas Gruber via Zeit zu verstehen gab. Unseld sei 1942, als Siebzehnjähriger, der Partei beigetreten. Dass die Mitgliedschaft ohne sein Wissen und Zutun zustandegekommen wäre, sei „vollkommen unplausibel“, legt Gruber strebernd nach. Selbst eine mögliche kollektive Überführung aus der Hitlerjugend hätte der junge Unseld „eigenhändig unterschreiben“ müssen.
Grabbewässerung
So war das vielleicht, und sehen Sie: Es interessiert mich nicht. Wenn überhaupt, so ekelt mich diese Art des Grabbewässerns an. Ich will mich auch gar nicht in Details verlieren, denen ich mich nur auf dem Weg der Spekulation nähern könnte.
Denn abgesehen davon, dass Unseld seine Motive nicht mehr selbst darlegen kann. Abgesehen davon, dass niemandem Genugtuung für Erlittenes zuteilwird, wenn man eine überragende Person der Moderne posthum kleinzuschreiben versucht (wir erinnern uns an Wieland Wagner, der als Halbwüchsiger auf Hitlers Schoß saß, aber nach dem Krieg das Werk seines Großvaters vom Dreck der 1.000 Jahre freiräumte). Abgesehen davon, dass man sich zwei Generationen später leicht in die Partisanenpose werfen kann: Weiß ich, ob ich seinerzeit nicht lieber Kulturchef des Völkischen Beobachters geworden wäre, statt mich im Gefolge stolzer Weigerung nach Mauthausen verbringen zu lassen? (Wobei beide Aussichten wegen meines jüdisch versippten Vaters ungleich verteilt gewesen wären).
Abgesehen vor allem davon, dass einem Siebzehnjährigen das Recht auf Irrtum und dessen Revision durch ein Leben danach zugestanden werden muss: Weiter und realitätsfremder als mit dieser zweifelhaften Sensation kann man sich von der bedrohlichen Wahrheit unserer Tage nicht entfernen. Denn der Gegner ist nicht ein vor 23 Jahren verstorbener schöngeistiger Verleger.
15 Prozent der jungen Österreicher halten die Berichte über die Shoah für übertrieben
Judenhass 2025
Oder hätten Sie befürchtet, dass der Judenhass 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz wieder hochschießt, als wäre nichts gewesen? Vielleicht langweile ich Sie schon mit meinen stereotypen Entsetzenskundgebungen: Dass diese bestialischen Reflexe jetzt aus allen Richtungen kommen, von Rechten und von Linken in schändlicher Kumpanei mit arabischen Importnazis, hätte ich vor – und erst recht nach – dem 7. Oktober 2023 ausgeschlossen.
Als Reaktion auf einen Terrorakt mit 1.200 Toten soll dem demokratischen Staat Israel zugemutet werden, auf Augenhöhe mit einer Mörderbande zu kommunizieren? So zweifelhaft, ja verwerflich Netanjahus Politik ist: Er kann und wird demokratisch abgewählt werden. Dass ihn der von allen bösen Geistern heimgesuchte Strafgerichtshof mit den Tätern zur Verhaftung ausgeschrieben hat, ist eine Ungeheuerlichkeit.
Die mich zum nächsten Dilemma führt: Trump und Orban, beide Totengräber der westlichen Welt, akzeptieren das Urteil nicht. Das ist zu begrüßen, obwohl ihre Motive alles andere als ehrenhaft sind. Orban stiftet damit innerhalb der EU Unruhe, und zwar verdient: Wie konnte eine zivilisierte Gemeinschaft, der zwei Täterländer angehören, solch ein Urteil akzeptieren? Wer in Berlin oder Wien wollte es wagen, Netanjahu Handschellen anzulegen?
Trumps Missbrauch
Trump wiederum nützt das Versagen der demokratischen Kräfte, um den aus Feigheit weggelegten Menschenverstand erst zu adoptieren und dann zu pervertieren. Selbstverständlich ist dem Aktivisten Mahmoud Khalil unverzüglich Gelegenheit einzuräumen, seine akademischen Aktivitäten z. B. an eine der 31 afghanischen Universitäten zu verlegen, sollte er an der Columbia University tatsächlich antisemitische Tumulte entfesselt haben. Selbstverständlich ist jeder – noch so prominenten – Universität, die derartige Ungeheuerlichkeiten duldet, bis zur Einkehr akzeptabler Verhältnisse jeder Cent öffentlicher Förderung zu entziehen. Aber Trump missbraucht das Legitime und Naheliegende zur Verwüstung des Geisteslebens.
In Berlin verliest ein Filmpreisträger das Manifest eines Schauspielers und inspiriert damit die Anwesenden, Israel mitsamt seinen Bewohnern chorisch der Ersäufung anzuempfehlen. Und eine im Auftrag des Parlaments erstellte Studie rückt endlich die leidige Debatte um die Shoah zurecht: 15 Prozent der befragten Österreicher zwischen 16 und 27 halten die einschlägigen Berichte für übertrieben. Der Anteil der Antisemiten innerhalb dieser Altersgruppe übertrifft den der Generation Rosenkranz.
Dem 2002 verstorbenen Unseld den geweihten Pfahl ins Herz zu treiben, erscheint mir unter diesen Umständen nicht als Priorität der Stunde.
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