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Die vergessene Wienerin in New York

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Lore Segal war eine Bestsellerautorin in den USA

An einem kalten Morgen Ende November 1938 stand die zehnjährige Lore Segal auf einem Bahnsteig in Wien und umarmte ihre Eltern. Ein glücklicher Zufall verhalf ihr zu einem Platz in einem „Kindertransport“, einer Aktion jüdischer Organisationen und Quäker in Großbritannien, Kinder und Jugendliche jüdischer Familien zu retten.

Sie war froh, fühlte sich sicher, als sie England erreicht hatte, doch niemand schien zu verstehen, warum sie ohne Eltern nach Großbritannien geflüchtet war. „Die Familie, die mich aufgenommen hatte, war sehr lieb, doch sie begriffen nicht, was damals in Wien geschah“, sagte Segal viele Jahre später in einem Interview, „so begann ich aufzuschreiben, woran ich mich erinnerte während dieser letzten Tage in Wien, bevor ich die Stadt verlassen musste.“ Es entstand ein Schulheft mit 36 Seiten, voll beschrieben mit Erinnerungen. Sie nannte es „Hitler Stories“.

Flucht

Ein Jahr nach ihrer Flucht konnten die Eltern nachkommen. Der Vater, der die Vertreibung aus Wien nie überwunden hatte, starb wenige Tage vor Ende des Krieges. Segal studierte Literatur in London und zog nach dem Studium mit ihrer Mutter nach New York. Wenige Jahre später war sie eine der bekanntesten Autorinnen in der Metropole.

In all ihren Romanen, Novellen, Erzählungen und Essays geht es um Momente und Gespräche des Alltags, Unwichtiges und Banales, das die Leser und Leserinnen Jahrzehnte lang begeisterte. In einer Erzählung beschreibt sie eine Szene in der Straßenbahn, kurz bevor sie Wien verlassen musste. Ihr gegenüber sitzt ein jüdisches Mädchen mit einem Rucksack und einem Koffer auf dem Boden. Die anderen Fahrgäste wenden sich ab. Manche werfen ihr, untereinander flüsternd, einen bösen Blick zu. Segal versucht, das Mädchen zu trösten, lächelt ihr zu, doch sie sieht Segal nicht. Sie weint und weint mit den Händen vor dem Gesicht. Acht Jahrzehnte Schreiben ergaben fünf Romane, Kinderbücher, Essays in den bedeutenden US-Publikationen und Dutzende Erzählungen in dem Magazin „New Yorker“.

Lunch

Segal schrieb jeden Tag von acht Uhr früh bis mittags, ihr ganzes Leben lang. Letztes Jahr, schon weit über neunzig, veröffentlichte sie eine Sammlung von Erzählungen unter dem Titel „Ladies‘ Lunch“, über eine Gruppe älterer Frauen, die sich regelmäßig treffen, über ihr Alter, ihre Krankheiten, die verlorenen Ehemänner, Kinder und Enkelkinder sprechen. Dabei schont sie ihre Heldinnen nicht, beschreibt Lotte, die, gequält von Gedächtnisverlust, ihre Freundin Ruth immer wieder auffordert, ein Auto zu mieten, damit sie beide eine Reise machen könnten. Die Erklärung Ruths, sie könne kein Auto mehr mieten, sie sei zu alt, hat Lotte beim nächsten gemeinsamen Mittagessen bereits wieder vergessen.

Als Segal langsam ihr Augenlicht verlor, sagte sie zu einem Freund: „Ich musste so oft auswandern, irgendwo ein neues Leben beginnen, und es war meist nicht mein Wunsch. Vielleicht ist die Blindheit ebenso ein Wandern in eine neue Welt.“

Im Jahre 1961, Segal war 33 Jahre alt, erschien ihre erste Erzählung im ‚New Yorker‘. Vor einigen Tagen erschien ihre letzte Erzählung im ‚New Yorker’, an dem Tag, an dem sie starb.

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