Der Choreograf Marco Goecke hat eine rüde Kritikerin mit den Hinterlassenschaften seines Rüden drangsaliert. Das ist unelegant, doch die Reaktionen erscheinen mir zimperlich
Wiewohl weder Freund noch Kundiger noch (Gott bewahre) Ausübender des Spitzentanzes, lassen mich die Ereignisse um den Choreografen Marco Goecke doch nicht unbeeindruckt. Sie erinnern sich: Der Direktor am Staatsballett Hannover hat (umwelttechnisch an sich vorbildlich) die Hinterlassenschaften seines Dackels in einem Plastiksäckchen gesammelt. Sie anlässlich einer Premiere im Februar auf die rechte Wange der Tanzkritikerin Wiebke Hüster zu applizieren, war freilich übereilt. Goecke wurde daraufhin erst suspendiert und dann gekündigt, eine seiner Choreografien flog in Mannheim aus dem Programm, und in Berlin erwägt man, Proben mit dem bis vor kurzem vielbeschäftigten Mann abzusetzen.
Ich bin, wie gesagt, in der Materie nicht kundig. Doch frage ich mich mit zarter Besorgnis, ob meine Lieblingskunden womöglich auch Hundefreunde sind. Hält Martin Kusej einen American Pit Bull oder sonst einen artverwandten Listenhund? Nikolaus Bachler von den Salzburger Osterfestspielen einen ondulierten Königspudel?
Dann habe ich mich über die Beteiligten kundig gemacht. Die "FAZ"-Kollegin Wiebke Hüster, Gattin ihres Herausgebers, scheint mir prinzipiell keine von den Zartbesaiteten. Sie soll schon die (später gerichtlich für unwirksam erklärte) Kündigung der Wuppertaler Intendantin betrieben haben. Und was den Anlass des Hannoveraner Showdowns betrifft, die Kritik über eine Amsterdamer Arbeit des Tierfreundes: Der Besucher werde "abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht", das Gebotene sei "eine Blamage und eine Frechheit", käme mir persönlich weder über die Tastatur noch ins Blatt. Man kann in meinem Beruf gern auch die Fleischerhacke in Betrieb nehmen (ich schätze sie sehr), müsste sie dann aber wie ein Florett zu führen verstehen.
Das ändert freilich nichts daran, dass es unstatthaft bis flegelhaft war, den Goecke'schen Dackel in die Auseinandersetzung zu verwickeln. Der Halter jedenfalls, so entnehme ich der Fachpublizistik, ist ein fähiger Mann, der erst im vergangenen Oktober als Choreograf des Jahres 2022 ausgezeichnet wurde. Sollte er nunmehr wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt werden, wird er das Dackelfutter eventuell für einige Wochen beim Diskonter beziehen müssen. Anlass für ein Berufsverbot sehe ich hingegen nicht. So wenig wie für den hervorragenden Schauspieler Will Smith, der seine Frau anlässlich einer Oscar-Zeremonie handgreiflich gegen das niederträchtige Gepöbel des Moderators Chris Rock beschützt hat. Im Gegenteil wurde dem Schreihals damit unverdient ein Stück Unsterblichkeit zugedacht. Denn mag auch schon jetzt niemand mehr wissen, was Chris Rock beruflich macht: Die Ohrfeige bleibt.
Nämliches gilt, wenn auch in unvergleichbar höherer Besetzung, für die Burgschauspielerin Käthe Dorsch (1890-1957), deren Nachleben (Hand aufs Herz) den beiden Ohrfeigen geschuldet ist, die sie dem Kritiker Hans Weigel vor dem Café Raimund verabreicht hat. Sie hatte sich dafür schon 1946 beim Berliner Kritiker Wolfgang Harich und 1951 beim Burgtheaterkollegen Alexander Trojan eingeübt (diesfalls wegen abwertender Bemerkungen über im Sternzeichen des Steinbocks Geborene). Aber kein Mensch dachte in minder zimperlicher Zeit daran, der wehrhaften Fürstinnendarstellerin den Beruf zu verbieten.
Im Gegenteil: Selbst der große Weigel (1908-1991) begänne schon in der Vergessenheit zu versinken, rückte ihn die Dorsch'sche Backpfeife nicht bei sich bietenden Gelegenheiten in die Erinnerung. Und was der konnte! Der vielleicht größte Verriss der Kulturgeschichte stabilisiert sein Konto im ewigen Plus. Er traf anno 1960 den jungen Schauspieler Heinz Conrads, der an der "Josefstadt" den Liliom gab und von Weigel folgendermaßen beschieden wurde: "Er ist nicht einmal schlecht, er ist überhaupt nicht, aber das aufdringlich." Das ist freilich etwas anderes als "abwechselnd irre". Und Conrads hat auch seinen geliebten Boxerhund nicht in die Angelegenheit involviert, sondern triumphal auf Witwentröster im noch jungen Fernsehen umgesattelt. Womit Witwen und Theaterbesuchern gleichermaßen gedient war.
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