Das, was wir als Seelenverwandtschaft empfinden, existiert in Wahrheit gar nicht. Das sagt zumindest der Berliner Beziehungsberater Christian Thiel. Viel mehr liege hier eine sogenannte Wesensfaszination vor. Mit anderen Worten: "Jeder ist von den Eigenarten des anderen derart gebannt, dass man sich ihm schicksalhaft verbunden fühlt", wie der Experte gegenüber "zeit.de" erklärt. Das Gefühl der Seelenverwandtschaft ließe sich auf folgende zwei Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung zurückführen.
1. Auf den Ähnlichkeitsfehler
Wir mögen uns. Zumindest mehr oder weniger. Und weil wir uns mögen, mögen wir auch jene, die uns ähnlich sind, sprich die gleiche Art von Humor besitzen, dieselben Werte vertreten etc. Wir erkennen uns quasi in der anderen Person wieder. Und projizieren mitunter auch andere unserer Eigenschaften auf sie.
2. Auf den Halo-Effekt
Wir tendieren dazu, von jenen Eigenschaften, die wir am Gegenüber beobachten, auf andere, mitunter gar nicht vorhandene zu schließen. So entsteht ein Bild, das möglicherweise gar nicht der Realität entspricht. Erkennen wir nun Eigenschaften, die nicht zu dem von uns gezeichneten Bild passen, blenden wir sie aus.
Ein Beispiel
Wir lernen eine Person kennen, deren Durchsetzungsvermögen uns begeistert. Weil das ein Wesenszug ist, der auch uns zu eigen ist, fühlen wir uns mit der Person verbunden. Dann beginnen wir, ein Gesamtbild zu entwerfen: Wenn sich diese Person gut durchsetzen kann, ist sie vermutlich auch selbstsicher, willensstark und konsequent. Möglicherweise handelt es sich in Wirklichkeit um eine Person, die, sagen wir mal, gerne über den Kopf anderer hinweg entscheidet. Das passt aber nicht in unser Bild. Also wird es ausgeblendet.
Darum schadet die "Seelenverwandtschaft" der Beziehung
Auch wenn wir im Grunde wissen, dass es nicht den perfekten Partner gibt, neigen wir dazu, insgeheim nach ihm zu suchen. Haben wir ihn erst mal gefunden, erleben wir das große Glück. Mit der Zeit schwindet aber die erste Phase der Verliebtheit. Und die selbst aufgetragene Fassade beginnt zu bröckeln. Wir erkennen, dass uns der andere doch nicht so ähnlich ist, wie wir dachten. Wir entdecken immer mehr Unterschiede und können diese mitunter nur schwer ertragen. Daher kommt es immer häufiger zur Konflikteskalation, wie Thiel gegenüber "zeit.de" erklärt.
Man hält an der Beziehung fest - auch wenn sie nicht funktioniert
Das ist aber nicht der einzige Grund, warum die vermeintliche Seelenverwandtschaft letztlich mehr schadet als nützt. Denn wer seinen Seelenverwandten erst einmal gefunden hat, wird ihn so schnell nicht wieder ziehen lassen. Immerhin gehört man zusammen. Auch wenn die Beziehung eigentlich gar nicht so richtig funktioniert. Doch das Schicksal hat es so entschieden. Und was das Schicksal entscheidet, das soll so sein. ... Ob es sich wirklich auszahlt, um jeden Preis festzuhalten? Wir wagen es zu bezweifeln.
Man glaubt, nie wieder die große Liebe zu finden
Und dann wäre da noch die Sache mit dem Einen. Seelenverwandte findet man ja immerhin nicht an jeder Ecke. Man hat Glück, wenn man im Leben überhaupt auf einen trifft. Verliert man ihn eines Tages, ist es auch um die Liebe geschehen. Ein für alle mal. So die Annahme, die den Betroffenen mitunter in ein tiefes Loch stürzen lässt. Dass es sehr wohl auch noch andere Menschen gibt, mit denen man glücklich werden kann, wird dabei gerne übersehen bzw. erst nach einiger Zeit erkannt.
So macht man es besser
Wir suchen nach einem Partner, der wortgewandt, durchsetzungsfähig oder spontan ist - weil wir es nicht sind. Es aber gerne wären. Anstatt die gewünschten Eigenschaften im Partner zu suchen bzw. Partner zu wählen, die diese Eigenschaften (vermeintlich) besitzen, sollten wir damit beginnen, sie selbst zu entwickeln. Erst dann kann man den Partner als den Menschen akzeptieren, der er ist. Erst dann kann sich eine Beziehung entwickeln, die auf gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung gründet. Und erst dann hat man die Möglichkeit, mit jemandem zusammen zu sein, weil man es will - und nicht, weil es das Schicksal so entschieden hat.