Der Bundespräsident hat dem FPÖ-Chef den Auftrag erteilt, eine Regierung mit der ÖVP zu bilden. Gut zu wissen, dass das Staatsoberhaupt nicht ganz so unpolitisch und realitätsfern ist wie die politische Beobachterblase.
Wolf Haas’ Brenner-Krimis begannen mit dem ikonisch gewordenen Satz: „Jetzt ist schon wieder was passiert.“ Das neue Jahr ist noch nicht wirklich alt, aber es ist schon ziemlich oft schon wieder was passiert, zuletzt nämlich das, was nicht wenige im Land für das Schlimmste halten, das sie sich hätten denken können: Herbert Kickl hat den Auftrag zur Bildung einer Regierung bekommen, und zwar ganz offiziell vom Bundespräsidenten, der zuvor mehr als einmal deutlich gemacht hatte, was er davon halten würde, wenn Herbert Kickl in Österreich eine Regierung bilden wollte: ungefähr nichts.
Eine 180-Grad-Wende? Der Einsturz des moralischen Bollwerks Alexander Van der Bellen? Nein, staatspolitische Verantwortung.
Das sind schon jetzt die beiden Begriffe des politischen Jahres, einer überwiegend positiv, einer überwiegend negativ. Betrachten wir sie der Reihe nach: Die 180-Grad-Wende beschreibt einen Vorgang, im Zuge dessen jemand am Ende das genaue Gegenteil dessen sagt, denkt oder tut, was er davor oder immer für wichtig, sein Ding oder das einzig Mögliche gehalten oder auch deklariert hat. Dieses Verständnis teilen weltweit so gut wie alle Menschen, nur die deutsche Außenministerin hatte zwischenzeitlich den Eindruck, es sei origineller, vom russischen Präsidenten Wladimir Putin eine 360-Grad-Wende seines Verhaltens als Bedingung für die Fortsetzung vernünftiger Beziehungen zwischen seinem Land und dem ihren zu fordern.
Sackgasse
Im herkömmlichen Sprachgebrauch aber blieb es dabei, dass die 180-Grad-Wende ein Synonym für politisch-moralisches Totalversagen ist, für den Bruch aller Wahlversprechen, für die Umwertung aller Werte. Einem Gespräch, das ich während der turbulenten Neujahrstage mit einem früheren Spitzenrepräsentanten der Republik geführt habe, verdanke ich eine alternative Interpretation: Die 180-Grad-Wende, sagte mir dieser Gesprächspartner, könne sowohl pragmatisch als auch moralisch der einzig mögliche Move sein, nämlich dann, wenn man sich in eine Sackgasse manövriert habe.
Diese Interpretation dürften derzeit sowohl der Bundespräsident als auch die ÖVP für sich in Anspruch nehmen, die ÖVP sogar unter Berufung auf ihre frühere christliche Tradition: Schließlich ist die 180-Grad-Wende die zentrale Forderung des Christentums schlechthin: Zwar haben Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth nicht gesagt: „Macht eine 180-Grad-Wende“, aber mit ihrer Formulierung „Kehret um!“ haben sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau das gemeint.
Das ist auch der Punkt, an dem die 180-Grad-Wende und die staatspolitische Verantwortung zusammenkommen, diesfalls in der Person unseres Bundespräsidenten. Der hat den inneren Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Bösen in seiner Ansprache vom Dreikönigstag schnörkellos auf den Punkt gebracht: Man könne sich alles und jeden wünschen, diesen Wunsch könne man auch zum Ausdruck bringen, aber wenn er nicht erfüllt würde, müsse man die Realitäten, zum Beispiel ein Wahlergebnis, respektieren. Eine 180-Grad-Wende kann also durchaus im Rahmen staatspolitischer Verantwortung stattfinden oder sogar geboten sein, wenn die Alternative eine Staatskrise wäre.
Könnte das auch die ÖVP für sich in Anspruch nehmen? Als die Verhandlungen gescheitert waren, sah es für die ÖVP ungefähr so aus wie für den Bundespräsidenten: Die Verweigerung von Regierungsverhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP hätte bedeutet, dass man den Wahlsieger von der Macht fernhält und stattdessen eine baldige Neuwahl im Kauf nimmt, deren Ergebnis nach menschlichem Ermessen an den Möglichkeiten einer Regierungsbildung nichts ändern würde, außer dass der Wahlsieger einen noch größeren Abstand zu den anderen Parteien hätte, was eine Wiederholung der Ereignisse bloß zu einer noch größeren Staatskrise machen würde. Die ÖVP wird dennoch zu Recht dafür verspottet, dass sie ihre hypermoralisch vorgetragenen Ablehnungsfloskeln gegenüber der FPÖ von einem Tag auf den anderen in der politischen Trickkiste verschwinden lässt, und sie wird dadurch auch Wähler verlieren.
Die mehrheitliche Interpretation von staatspolitischer Verantwortung (der Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie spricht ausschließlich von „stootspolitischer“ Verantwortung, meint aber vermutlich das Gleiche) scheint hierzulande jedenfalls darin zu bestehen, dass ÖVP, SPÖ und Neos aus ebendieser staatspolitischen Verantwortung miteinander eine Regierung hätten bilden müssen, koste es inhaltlich, was es wolle. Eine andere, zum Beispiel meine eigene, Interpretation, dass es nämlich die staatspolitische Verantwortung gebietet, einem Koalitionsvertrag, dessen Inhalte man für staatsschädigend hält, nicht zuzustimmen, gilt als billige Ausrede dafür, sich der eigentlichen und einzigen staatspolitischen Verantwortung, nämlich eine Regierungsbeteiligung der FPÖ zu verhindern, entzogen zu haben.
Wer sein Verständnis von Politik und staatspolitischer Verantwortung so weit verengt, dass es ausschließlich darum geht, die Partei, die bei der Wahl die meisten Stimmen bekommen hat, von der Regierung fernzuhalten, hat aber eigentlich nichts verstanden, weder von Politik noch von der Welt.