Tschechiens Ex-Außenminister Karl Schwarzenberg über die Entwicklung seiner ersten Heimat, Böhmen, und die Politik in seiner zweiten Heimat, Österreich.
Diese Woche ist der Jahrestag der "Samtenen Revolution" in der damaligen Tschechoslowakei. Kann man in den osteuropäischen Ländern uneingeschränkt das Ende des Kommunismus feiern, oder gibt es auch Wermutstropfen?
Einerseits ist es eine Freude, wie sich Osteuropa entwickelt hat. Schauen Sie nach Polen oder Böhmen oder die Slowakei. Der Aufstieg, der Wohlstand sind gigantisch. Andererseits freut es einen nicht, dass dort Parteien sind, die menschenunfreundlich sind, um es milde auszudrücken. Es ist bedauerlich, dass in einem Land wie Ungarn, das eine blutige Revolution für die Freiheit durchgeführt hat, diese dort doch wesentlich herabgesetzt ist. Wenn es praktisch keine Opposition gibt und die meisten Medien regierungsnah sind, da ist die Frage der politischen Freiheit zu stellen.
Die Lage in Ungarn bleibt besorgniserregend?
Vielleicht wird es besser, wenn in Budapest nun ein Oppositioneller zum Bürgermeister gewählt ist. Aber bis dahin war die Macht fast absolut.
Stoßt Viktor Orbán nun an Grenzen?
Jeder Politiker erreicht seine Grenzen. Ich bin ja ein alter Forstwirt. Ich habe noch nie einen Baum gesehen, der in den Himmel gewachsen ist.
Wie lange wird Orbáns Baum noch wachsen?
Ein paar Jahre noch. Aber wenn sich die wirtschaftliche Situation in Europa verschlechtert, dann wird auch er darunter leiden. Orbán wie auch Andrej Babis in Tschechien haben ja beide davon profitiert, dass sie angetreten sind, als die Konjunktur gut gelaufen ist.
Babis' Minderheitsregierung wird von den Kommunisten gestützt. Ist der Kommunismus doch nicht am Ende?
Ich habe keine Angst, dass die Kommunisten wieder kommen. Aber diese Unterstützung bedeutet eine Korrumpierung der gesamten Politik. Hauptsache, man behält die Macht und kann die Pfründe fröhlich weiter verteilen, wobei die Kommunisten natürlich mitmachen und ihren Teil bekommen.
Erhard Busek kritisiert, dass Untaten aus der Zeit des Kommunismus in den Nachfolgestaaten noch nicht aufgearbeitet wurden. Sehen Sie das auch so? Und darf man das als Österreicher bekritteln, wenn man weiß, wie lange die Aufarbeitung der Nazi-Zeit gedauert hat?
Wir sind dasselbe Volk in zwei Sprachen. Beide sind nicht freiwillig in die Vergangenheitsbewältigung gegangen. Wobei in Österreich in den letzten Jahren viel passiert ist. Einige Kapitel der kommunistischen Zeit wurden allerdings sehr gründlich, vor allem auf Druck der Jugend, aufgearbeitet, etwa der Brünner Todesmarsch. Aber die 50er-und 60er-Jahre, wo sich die Tschechen untereinander umgebracht haben, das ist nicht sehr aufgearbeitet. Es ist eben schwierig, wenn der eigene Vater oder Großvater involviert war.
Wie wird Österreich in den osteuropäischen Ländern eigentlich wahrgenommen?
Die Leute fahren gern nach Wien oder auch in die diversen Skiorte. Aber politisch hat man doch bemerkt, dass im Unterschied zu Deutschland, das sich sehr bemüht hat, ein neues Verhältnis zu schaffen, die Anstrengungen in Österreich geringer sind. Bis zum heutigen Tag. Da herrschen uralte Vorurteile: Die Autobahn nach Budapest war in fünf Jahren fertig, die Autobahn nach Prag ist es bis heute nicht.
Warum ist das so?
Die Ungarn hat man hier eben gern, die Tschechen nicht. Den Tirolern und Vorarlbergern sind die Tschechen egal, die sind genauso willkommen wie die Norweger und Holländer. Aber hier in Ostösterreich, wo jeder eine tschechische Großmutter hat und peinlicherweise auch noch einen tschechischen Nachnamen, gibt es starke Vorurteile. Für mich ist es ja immer ein Vergnügen, dass Spitzenfunktionäre der FPÖ tschechische Namen haben oder hatten: Strache kommt von Strachota, Vilimisky, Westenthaler, der Hojac hieß. Das hat mich immer unterhalten.
Die FPÖ hat in den letzten Jahren ihre Sympathien für die Visegrád-Staaten betont.
Jein, sagen wir: ihre Liebe zu Ungarn. Es gibt auch eine gewisse Nähe zu Serbien, der arme junge Gudenus hat ja sogar eine Serbin geheiratet. Aber zu den anderen Ländern, etwa dem am nächsten gelegenen Böhmen, gibt es nichts.
Österreich sieht sich immer als Brückenkopf zu den osteuropäischen Ländern, aber Sie vermissen außenpolitische Initiativen?
Früher hat es diese Zurückhaltung gegeben, weil für Österreich Anfang der 90er-Jahre der Beitritt zum EWR das Wichtigste war. Und man geht ungern in einen eleganten Salon mit dem armen Cousin, der noch dazu miserabel gekleidet ist und nicht gut spricht. Wir waren nicht schick. Man hat innige Beziehungen mit der Schweiz und den Benelux-Ländern betrieben, aber für die Nachbarn hat man sich mehr geniert.
Der Bundespräsident absolviert seine ersten Staatsbesuche traditionell in diesen Nachbarländern.
Das muss jedes Staatsoberhaupt machen. Das ist nichts Besonderes, mit Verlaub. Alexander Van der Bellen bemüht sich, das ist richtig. Aber der Kanzler? Die Außenministerin?
Sebastian Kurz war früher ja auch Außenminister.
Ein führender Mitarbeiter von ihm hat gesagt: Nachbarschaftsbeziehungen sind für die Landeshauptleute Sie haben wiederholt Sorge vor nationalistischen, populistischen Tendenzen geäußert.
Wie ist Ihr Befund nun nach der österreichischen Wahl?
Hier haben die Selbigen politischen Selbstmord verübt. Dankenswerterweise. Die FPÖ ist zwar geschwächt, als Regierungspartner aber noch nicht ausgeschlossen. Zuerst das Ibiza-Video und dann die Rechnungen des Herrn Strache - wenn das nicht gewesen wäre, wäre die FPÖ natürlich der ÖVP der nächste und bequemste Geschäftspartner.
Wenn Sebastian Kurz mit den Grünen koaliert, denken Sie, er wird sich von den rechtspopulistischen Inhalten abwenden?
Wenn es ihm nichts bringt, warum sollte er sie pflegen? Er wird das nüchtern vom Nützlichkeitsstandpunkt betrachten. Wie jeder Politiker schaut er, was ihm was bringt. Politiker sind ja nicht Funktionäre der Caritas.
Noch vor einem halben Jahr hat man sich in Österreich Sorgen um Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gemacht.
Die waren etwas übertrieben. Aber dass die freiheitlichen Funktionäre zu diesen Bereichen ein eher laues Verhältnis haben, ist richtig.
Wohin werden sich die Wähler der FPÖ auf Dauer wenden?
Wenn man sich die Deutschnationalen in Österreich ansieht, das war das älteste politische Lager. Die werden immer bleiben, stärker und schwächer. Vor Jörg Haider waren sie bei fünf Prozent. Dann hat er, der ja hoch begabt war, festgestellt, dass sich die Majorität der Österreicher auch als Österreicher fühlt, und nicht mehr als Deutsche - da hat er über Nacht von Deutschnational auf Österreichnational gewechselt, die, die den alten Ideen angehangen sind, wurden blitzartig abgesetzt. Noch ein zweites Mal hat sich Haider auf dem Absatz umgedreht: Die Freiheitlichen haben in den 70erund 80er-Jahren gesagt, wir müssen der EWG beitreten. Als die beiden großen Parteien nach dem Zerfall der Sowjetunion diese Idee übernommen haben, hat er sagt: Als Dritter im Bunde hab ich nichts davon. Dann war er EU-Gegner, und seine Partei ist auf 27 Prozent gestiegen. Der war begabt, hat gewusst, was Politik ist.
Dieses Wählerpotenzial gibt es weiter.
Die Menschen ändern sich ja nicht. Und wenn es nicht die Freiheitlichen packen, wird sie irgendein anderer packen.
Viele haben zuletzt die ÖVP und Herrn Kurz gewählt.
Und wenn er sie behalten will, wird er auch etwas für sie machen müssen.
Sie selbst bezeichnen sich als "Schwarzen". Mögen Sie die "Türkisen"?
Die sind mir fremd. Ich war zeitlebens ein großer Schwarzer, hab in Reformgruppen mit Busek, Erwin Pröll, Josef Krainer und Sixtus Lanner diskutiert, dann bin ich nach Böhmen zurück und hab dort solche Dinge betrieben. Für mich war in der ÖVP immer die christliche Grundhaltung wichtig. In dem Moment, wo sie das aufgegeben hat: Warum sollte ich sie wählen? Als Liberale sind die Pinks besser, als soziale Partei sind die Sozis besser. Also warum? Ich hab ja noch das Glück gehabt, Leute wie Julius Raab oder Leopold Figl oder Josef Klaus zu kennen. Die waren alle tief verankert im Glauben, davon war ihre Politik bestimmt.
Was bestimmt heute die Politik der ÖVP?
Das weiß ich nicht. Heute ist sie mehr zu einer Unternehmerpartei geworden. Türkis ist ja eine interessante Farbe, es ist nie ganz klar, ob sie mehr blau oder mehr grün ist.
Sie haben ja noch Ihre Drähte in die ÖVP - wie sehen das Ihre Gesprächspartner?
Das sind ja auch schon alte Herren wie ich. Kurz ist ein hochbegabter Politiker, nach Bruno Kreisky der begabteste Kanzler, aber was passiert, wenn er zurücktritt? Auf was wird diese Partei dann bauen? Im Moment baut sie auf den Kanzler. Sehr schön. Aber nicht sehr abendfüllend.
Beim Lesen Ihrer Biografie hat man den Eindruck, Sie wären eher bei den Neos.
Wahrscheinlich. Zwei meiner Kinder sind Neos-Anhänger. Ich bin hier nicht wahlberechtigt, deshalb stellt sich die Frage nicht. Aber ich habe im Fernsehen das große Interview mit Frau Meinl-Reisinger gesehen. Und ich fand sie glaubhaft. Was sie gesagt hat, war vernünftig. Eine liberale Partei in Mitteleuropa ist das Schwierigste. Ich kann mich erinnern, als vor einigen Jahrzehnten der erste Versuch einer liberalen Partei in Österreich gegründet wurde, hat mich Heide Schmidt angesprochen, ob ich mitmachen würde. Da hab ich gesagt: Nach meiner Erfahrung mit der mitteleuropäischen Geschichte, wenn ich die Wahl hätte, eine Bananenplantage in Murau anzulegen oder eine liberale Partei zu gründen, fürchte ich, ist die Bananenplantage das Zukunftsreichere.
Sie wurden 2007 auf Vorschlag der Grünen Außenminister in einer schwarz-grüne Koalition in Tschechien. Was erwarten Sie von dieser Konstellation in Österreich?
Ich bin sehr gespannt, mir wäre das sehr sympathisch. Werner Kogler ist ein alter, erfahrener Politiker. Den kenne ich schon seit Jahrzehnten. Er dürfte hart, aber vernünftig verhandeln, wird nicht unakzeptable Forderungen stellen, aber natürlich muss er sich durchsetzen. Wie sich die Grünen zurückgekämpft haben, ringt einem großen Respekt ab. Greta hat ihnen dabei wahnsinnig geholfen.
Was halten Sie von der Bewegung rund um Greta Thunberg?
Es ist beachtlich, wenn ein 16-jähriges Mädchen die Welt in Bewegung bringt. Ob sie das halten wird oder wie Jeanne d'Arc verbrannt wird, weiß ich heute nicht.
Im übertragenen Sinn.
Heute haben wir etwas menschlichere Methoden.
Spüren Sie als Waldbesitzer den Klimawandel?
Entsetzlich. Mein Sohn wird an Forst nur mehr ein Wäldchen haben in Böhmen. Es stirbt jetzt alles ab. Der Wald, den ich gekannt habe, verschwindet. Wir haben hier nicht eine Jahrhundertkatastrophe, wir haben eine tausendjährige.
Hoffen Sie da auf die Grünen in der Regierung?
Sicher, da müssen sie etwas durchsetzen, sonst sind sie sinnlos.
Was wünschen Sie sich für ihre beiden Heimatländer?
Dass wir eine anständige Regierung haben. Es bedrückt einen schon, wenn man in Prag als Ministerpräsidenten jemand hat, der Stasi-Mitarbeiter war und in 20 Jahren ein gigantisches Vermögen angesammelt hat. Das dies nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, ist klar. Das haben wir so gigantisch in Österreich nie geschafft. Nur als Faymann die Chefs der Eisenbahn und der Autobahngesellschaft zu Inseraten in der "Krone" gedrängt hat, da hat mir mein Sohn ein SMS geschrieben: Wir schließen uns erfolgreich an die tschechische Entwicklung an.
Ist das heute auch noch so?
Ich weiß nicht, wie die neue Regierung sein wird. Von der letzten hätten einige Minister bei uns auch ganz gut hineingepasst. Aber die sind ja unterdessen durchgefallen.
Türkis-Blau war kürzer im Amt, als viele gedacht haben.
Da hat Österreich eine Masen gehabt, die bei uns nicht ist. Wenn man sich dieses Ibiza- Video anschaut, staunt man vor allem über die Blödheit. Über die Charakter hab ich nie Zweifel gehabt, aber dass sie so blöd sind, hab ich nicht gedacht. Da haben sie mich noch überrascht.
ZUR PERSON: Karl Schwarzenberg, 81 Der gebürtige Tscheche wurde 1948 aus seiner Heimat vertrieben und zog mit seiner Familie nach Wien. Mit 28 Jahren trat er das Erbe seines Onkels als Familienoberhaupt der Schwarzenbergs an. In Österreich engagierte er sich lange Jahre für die ÖVP, nach der Wende 1989 kehrte er nach Tschechien zurück, wurde Kanzler unter Václav Havel und später Außenminister. Bei der Präsidentschaftswahl 2013 unterlag er Milos Zeman.
Das Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (46/2019) erschienen.