Der Schuldirektor sitzt im Wirtshaus. Ein großer Mann mit breiten Schultern. Er trägt ein weißes Hemd, sein Jackett ist geöffnet. Vor ihm auf dem Holztisch liegt seine Spiegelreflexkamera. Christian Klar, 59 Jahre, hat damit in den vergangenen Wochen seinen Schulalltag dokumentiert. Er hat fotografiert, wie sich Schülerinnen und Schüler in Klassenzimmern auf das Coronavirus selbst testen. Er schoss Bilder vom Werkraum, der zurzeit als Abstellkammer für PCR-Testkits dient, und ließ sich von einer Kollegin ablichten, wie er mit einem CO2-Melder die Luftqualität in den Räumen misst. Das alles hat er gemacht, weil Journalisten zurzeit kein Schulgebäude betreten dürfen. Deshalb trifft News den Direktor in einem Lokal neben der Schule.
Schule in aufgeheizten Zeiten
Österreich im Winter 2022. Zwei Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie bestimmt aktuell die Virusvariante Omikron das Leben und die politische Debatte. Anders als vor einem Jahr sollen die Schulen heuer offen bleiben. Das Bildungsministerium hatte durchgehenden Präsenzunterricht durchgesetzt. Dafür wurde die sogenannte Sicherheitsphase in den Schulen bis zum 26. Februar verlängert. Das bedeutet, Lehrkräfte und Schüler müssen sich mehrmals in der Woche testen lassen, und zeitweise mussten sie sogar im Turnunterricht eine Maske tragen. Das hat vor allem in sozialen Netzwerken zu Diskussionen geführt: Die einen verlangen nach mehr Vorsicht, die anderen nach mehr Normalität. Keine leichte Zeit für Lehrkräfte und Schüler in diesen aufgeheizten Zeiten. Wie haben sie diesen Winter erlebt und wie gut konnten sie die Schutzmaßnahmen umsetzen? Ein Direktor packt aus.
Christian Klar leitet seit zehn Jahren die Franz-Jonas-Europaschule im Wiener Bezirk Floridsdorf. Der Direktor ist Medienanfragen mittlerweile gewöhnt. Im Jahr 2015 gab er dem "Standard" ein Interview über Schüler, die den Terroristen vom "Islamischen Staat" huldigten. Danach war er Gast in vielen Talkshows, gab ein Interview nach dem nächsten. Seit den Wiener Gemeinderatswahlen im Jahr 2020 ist er ÖVP-Bezirksvorsteherstellvertreter in Floridsdorf. Er zieht nach diesem Winter eine durchwachsende Bilanz: "Die Maskenpflicht war schwer umzusetzen. Die Kinder haben sie immer wieder hinunter genommen, sie haben sie teilweise weggeworfen oder mutwillig zerstört", sagt Klar. Mehrmals täglich seien Kinder und Jugendliche in die Direktion gekommen und hätten nach einer neuen Maske gefragt. Das sei zu Beginn des Winters noch kein Problem gewesen, weil die Schule genug Masken vorrätig hatte. Aber mittlerweile seien alle aufgebraucht. "Das heißt, wir haben ein echtes Problem, wenn Kinder ohne Maske kommen. Die müssten wir strenggenommen nach Hause schicken. Da müssen wir kreativ sein." In solchen Fällen würde dann in der Schule herumgefragt, ob ein anderes Kind oder ein anderer Lehrer zufällig zwei Masken dabei habe.
Ohne Maske im Unterricht
Generell sei das Unterrichten mit der Maske eine Herausforderung gewesen. Besonders ältere Lehrkräfte hätten Probleme gehabt, ihre Schüler in den letzten Reihen akustisch zu verstehen. "Es ist vorgekommen, dass ich an einer Klasse vorbeigekommen bin und gesehen habe, dass der Lehrer keine Maske trug", erzählt Klar. "Ich habe mit meiner Ansage, dass er die Maske tragen muss, bis zur Pause gewartet, um den Lehrer vor seinen Schülern nicht bloßzustellen." Auch aus solchen Gründen, sei er froh, dass jetzt erste Lockerungsschritte anstünden.
Seit vergangenem Montag entfällt die Maskenpflicht zumindest für Schülerinnen und Schüler der Primarstufe während des Unterrichts. Abseits des Sitzplatzes, also während der Pausen, müssen die Kinder weiterhin eine Maske tragen. Kommende Woche fällt diese Pflicht für die gesamte Sekundarstufe. Entgegen einer offiziellen Empfehlungen der zuständigen GECKO-Kommission, die eigentlich die Regierung bei Corona-Maßnahmen berät.
Die Angst vor einer Ansteckung im Klassenraum dürfte also erst mal wieder ansteigen. "Ich habe Lehrer, die sich große Sorgen machen und die am liebsten nicht mehr in die Schule kommen würden", sagt Klar. Auf einem Foto sieht man den Schulleiter mit seinem CO2-Melder. Er und zwei weitere Lehrer haben sich diese Geräte privat angeschafft, um die Menge an Kohlendioxid in der Luft zu messen. Der Melder schlägt Alarm, sobald eine bestimmte Konzentration erreicht ist. Dann wissen sie Bescheid, dass sie in einer Klasse die Fenster öffnen müssen. Denn regelmäßiges Stoßlüften ist besonders in diesem Corona-Winter wichtig.
Testen als Pandemie-Routine
Was das Testen betrifft, sei in der Floridsdorfer Mittelschule mittlerweile eine Pandemie-Routine eingetreten. Grundsätzlich müssen Lehrer und Kinder montags einen Antigentest machen und zusätzlich zwei PCR-Tests am Montag und Mittwoch. "Mein Arbeitstag beginnt meist damit, dass ich mir auf der Testplattform die Ergebnisse vom Vortag anschaue", sagt Klar. Auch davon hat er ein Foto gemacht. Darauf zu sehen ist eine Tabelle. In den oberen Spalten stehen die Namen der positiv getesteten Kinder, Lehrer und deren Klassen. Etwas tiefer darunter die positiv Getesteten der Tage zuvor. "Gestern haben wir die 3d geschlossen, heute die 4c. Vor zwei Wochen waren von 16 Klassen nur mehr fünf im Haus." Daraufhin hatte er bei der Bildungsdirektion nachgefragt, ob er jetzt nicht die ganze Schule schließen soll. Die Antwort: "Die Schule bleibt offen, die fünf Klassen machen weiter." Direktor Klar musste umorganisieren. Die Lehrkräfte, die nicht an diesen fünf Klassen unterrichten, lehrten online von Zuhause, die anderen tauschten ihre Unterrichtsstunden so, das sie möglichst wenig Zeit mit den Anfahrten verloren.
Wenn einzelne Schüler positiv getestet werden, sei das mittlerweile ein ruhiger Ablauf, sagt Klar. "Die Kinder dürfen in diesem Fall ihr Handy aufdrehen und ihre Eltern selbst anrufen. Sie schalten dabei die Gespräche auf laut, damit der Lehrer mithört. Der ruft dann dazwischen, und stellt sicher, dass das Kind nach Hause kommen kann." Die Schüler würden das sehr gefasst aufnehmen. Bisher habe er es einmal erlebt, dass ein Mädchen traurig war, weil es deshalb einen Test versäumte.
Gefälschte Impfzertifikate
Gegen das Coronavirus geimpft ist an der Franz-Jonas-Europaschule mittlerweile fast jede Lehrerin und jeder Lehrer. "Ich habe noch drei Ungeimpfte im Kollegium. Alle drei sind mittlerweile genesen." Trotzdem seien jetzt viele Lehrkräfte an Omikron erkrankt. Wie viele seiner Schülerinnen und Schüler derzeit geimpft sind, kann der Direktor nicht genau sagen, weil die Sekretärin, die diese Zahlen normalerweise in Listen notiert, in Omikron-Quarantäne ist. "Vor Weihnachten war es auf jeden Fall ein Viertel der Kinder." Der Klassenvorstand würde den Impfstatus im Unterricht abfragen. Das sei nötig, weil sich daraus die Quarantäneregeln ergeben. Zumindest vor Omikron galten Geimpfte und Genesen nicht als Kontaktpersonen und durften deshalb weiter in die Klassen kommen. Seit Omikron sind alle gleich.
"Wir haben von Schülern an unserer Schule gehört, deren Impfzertifikate gefälscht waren. Seitdem kontrollieren die Lehrer genauer." Sie hätten sich auf ihre Handys die sogenannte GreenCheckApp runtergeladen, damit sie den EU-konformen QR-Code scannen können. Auch mit den Quarantäneregeln würden es einige Schüler nicht so genau nehmen, sagt Klar. So hat eine Klasse, die statt des Turnunterrichts spazieren ging, einen positiv getesteten Klassenkollegen im Umkreis der Schule angetroffen. "Da musste ich natürlich die Eltern informieren und mit der Kontrolle durch die Polizei drohen. Das kommt immer häufiger vor."
Lernlücken schließen
Besonders hart getroffen habe Schüler und Lehrkräfte in den vergangenen zwei Jahren, dass so viele Ausflüge, Wandertage, Sportturniere oder Skiwochen ausfallen mussten. "Das ist halt das, was die Kinder wirklich gern haben, woran sie sich erinnern. Und man kommt als Lehrer nie so nah an ein Kind heran, wie wenn man beim Skikurs am Abend bei den Kindern sitzt und mit ihnen spielt und plaudert." Das alles sei viel zu kurz gekommen.
Aber noch mehr als die Corona-Maßnahmen beschäftigen Schulleiter Christian Klar die Lernlücken der Kinder. Einige Schüler wüssten zum Beispiel überhaupt nicht mehr, wie sie im Mathematikunterricht mit einem Lineal umgehen müssten. An der Floridsdorfer Mittelschule habe man zwar schon vorher immer wieder schwache Schüler in die nächste Schulstufe mitgenommen, um zu viele Jahresverluste zu vermeiden, aber jetzt hätten sie auch extreme Grenzfälle mitgezogen. Trotzdem glaubt, Klar, dass sich diese Lücken mit der Zeit schließen lassen. "Bildung kann man immer nachholen. Gesundheit nicht."
Problematischer sieht der Schuldirektor den Bereich der Berufsorientierung. Normalerweise würden die Jugendlichen Jobs bei berufspraktischen Tagen kennenlernen. Oder sie hätten Exkursionen in Betriebe unternommen. Aber das ist alles weggefallen. Auch das lockere Kontakteknüpfen mit möglichen Arbeitgebern hat nicht stattgefunden. "Und jetzt erwarten wir von ihnen, dass sie sich für eine Lehrstelle entscheiden. Wie soll das gehen?"
Zwei Jahre Schule im Pandemie-Modus waren zwei Jahre, in denen Schüler und Lehrkräfte sich sozial entfremdet haben, die Lernlücken hinterließen, verpasste Erfahrungen und Möglichkeiten. Was bräuchte die Floridsdorfer Mittelschule, um das alles zu heilen? "Natürlich ist ein höheres Stundenkontingent von Lehrern wertvoll. Das ist keine Frage, wenn ich eine Stunde doppelt besetzen kann, wenn ich Kinder extra rausholen kann, um sie zu fördern, ist das hilfreich, aber es ist nicht alles mit Geld und Lehrerstunden regelbar." Für Christian Klar geht es jetzt vor allem darum, die Kinder und Jugendlichen zu motivieren. Was die Schüler jetzt brauchen? "Ich glaube, das ist eine Frage von Haltung, von positiver Stimmung, von Zusammenarbeit und von Einsatz. Und zwar von jedem Einzelnen."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 7/2022 erschienen.