Esoterik boomt: Jeder dritte Erwachsene hat schon Erfahrung mit Schamanen, Kartenlegern, Wahrsagern oder Geistheilern gemacht. Sektenbeauftragte schlagen Alarm. Dabei muss Spiritualität - zumindest in homöopathischen Dosen - nicht unbedingt schaden.
Um ihr Baby zu retten, hätte Nina alles getan. "Hätte mir jemand gesagt, ich soll meinen Bauch täglich mit faulen Eiern einreiben, ich hätte es gemacht." Die 30-Jährige hatte während ihrer ersten Schwangerschaft erfahren, dass ihr Kind mit einer Lungenfehlbildung zur Welt kommen würde - Überlebenschance ungewiss. Die Schulmedizin sah keine Möglichkeit, pränatal einzugreifen, und verdammte die werdende Mutter zu Geduld und Nichtstun. Ein Freund erzählte ihr von einem Geistheiler. In einem aufgelassenen Gasthaus am Rande einer kleinen niederösterreichischen Gemeinde soll er schon so manchen von Krankheiten geheilt haben.
So fand sich Nina eines Morgens im ehemaligen Schankraum, dem heutigen Wartezimmer, zwischen Kupfergestellen und Engelsbildern ein. Mit seiner Wünschelrute wedelte der Heiler vor Ninas Babybauch hin und her und machte tatsächlich das kranke Organ des Ungeborenen aus. Er verschrieb Nina einige heilende Kräuter und einen Hula-Hoop-Reifen aus Kupfer unter dem Bett. Er sollte die negativen Energien ableiten. Egal, wie absurd es für sie klang, Nina folgte seinem Rat. Und sie fühlte sich besser. Denn sie hatte das Gefühl, irgendetwas für ihr Baby tun zu können.
Immer wieder sind es Situationen wie die von Nina, eine schwere Krankheit oder ein chronisches Leiden, für das die Schulmedizin keine Lösung hat, die Menschen in die Arme von Heilern und Esoterikern treiben. "Die Schulmedizin kann den hohen Bedarf nach Zuwendung, Nähe und einer ganzheitlichen Medizin nicht mehr erfüllen", sagt der Grazer Religionssoziologe Franz Höllinger. "Stattdessen boomen spirituelle Wellness- und Gesundheitsangebote, die zur Verbesserung der körperlich-seelischen Befindlichkeit beitragen sollen."
Kontakt ins Jenseits
Mehr als 15.000 sogenannte Energetiker gibt es in Österreich. Ihr Arbeitsgebiet reicht von Bachblütenberatung, Bioresonanz, der Arbeit mit Farben, Wünschelruten und Pendeln über Aura-Analysen und Feng-Shui bis hin zu Schamanismus oder Wunderheilungen. Eine von ihnen ist Silvia - das Medium. Die 57-Jährige stammt aus einer alten Roma-Familie, ihre "Fähigkeiten" wurden über Generationen hinweg vererbt, sagt sie. Als sie das erste Mal mit einem Toten sprach, war Silvia gerade einmal sieben Jahre alt. Es war ein Freund ihres Vaters, in den das kleine Mädchen heimlich verliebt war. Der junge Mann war in einer lauen Sommernacht bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Noch bevor überhaupt jemand von seinem Tod erfuhr, sei er zu ihr gekommen, um sich zu verabschieden, erzählt Silvia. "Meine Kleine, ich kann dich nicht heiraten, wenn du groß bist. Aber ich werde bei dir sein und über dich wachen." Das waren seine Worte, bevor sich sein Geist ins Jenseits aufmachte. "Da wusste ich, ich höre etwas, das andere nicht hören", sagt Silvia 50 Jahre später.
Mit Toten spricht sie bis heute. Bekannte und Bekannte von Bekannten pilgern regelmäßig in ihr idyllisches Häuschen im Burgenland, um über Silvia Kontakt zu Verstorbenen aufzunehmen. Meist geht es darum, sich posthum zu versöhnen, mithilfe der Ahnen mehr über die Ursachen von Krankheiten und Lebenskrisen zu erfahren oder grundsätzlich Verbindung mit der "universellen Energie" zu bekommen.
Auch Exorzismen, Hausreinigungen, also das Austreiben von Geistern oder schlechten Energien, Pendeln und Kartenlegen gehören zu Silvias Repertoire. Pausenlos klingelt ihr Telefon und Menschen wollen wissen, ob die Gicht vom Opa, die chronischen Schmerzen der Frau oder die Schulprobleme des Buben übersinnliche Ursachen haben und was sie dagegen tun können. Für ihr Umfeld ist die freundliche Pensionistin Anlaufstelle für fast alle Probleme. Außenstehende begegnen ihr hingegen mit Unverständnis und Ablehnung. Daher will Silvia weder ihren vollen Namen noch ihr Gesicht in der Presse zeigen.
Spiritualität war immer da
Menschen wie Silvia, denen "übersinnliche" Fähigkeiten nachgesagt werden, Geistheiler und Schamanen gab es schon immer - in sämtlichen Kulturen. Mit der Säkularisierung der Gesellschaft kam es zu einer Entzauberung der religiösen Weltbilder, Heiler und Exorzisten verschwanden aus der gesellschaftlichen Mitte.
Der Homo sapiens ist von Natur aus für den Glauben an übernatürliche Einflüsse und an die Kraft von Ritualen zugänglich, sagt der Anthropologe Pascal Boyer. Das liege in unseren Instinkten. Zum Beispiel in unserer Fähigkeit zum kausalen Denken. Selbst im größten Chaos sucht der Mensch nach einer Ursache oder einem tiefer liegenden Ordnungsprinzip. Oder in unserer sozialen Hochbegabung. Mit der können wir uns in andere hineinversetzen. So können wir quasi in den Kopf des anderen schlüpfen und die Dinge aus seiner Warte sehen. Da liegt dann auch die Vorstellung nahe, der Geist könne sich vollends vom Körper lösen und ein Eigenleben führen.
Auch in Zeiten, als Spiritualität wenig salonfähig war, blieb die Sehnsucht nach einem höheren Ordnungsprinzip. Ein Comeback feierte die Spiritualität und mit ihr alternative Therapiemethoden in den 1960er und 1970er Jahren. Bis heute ist die Begeisterung für religiöse und mystische Praktiken aus unserer eigenen oder fremden Kulturen ungebrochen hoch. Laut Höllinger hat ein Drittel aller Erwachsenen bereits persönliche Erfahrungen mit Techniken wie Edelstein- oder Reinkarnationstherapie, Geistheilung, Astrologie, Kartenlegen oder Channeling gemacht. Dabei lässt sich ein gewisses Stadt-Land-Gefälle festmachen. Während im ländlichen Raum vor allem volksreligiös-christliche Heiler wie Silvia beliebt sind, haben im städtischen Raum fremdländische Kulturen wie der Neoschamanismus als Subkultur Einzug gehalten.
Harmlos oder gefährlich?
Für diese Reportage haben wir auch eine Schamanin besucht und an einem sogenannten Channeling teilgenommen. Ein Channeling ist eine mehrstündige Sitzung, bei der sich die Schamanin in Trance versetzt, um Botschaften von übernatürlichen Wesen zu übermitteln. Die Sitzungsteilnehmer haben die Möglichkeit, auf dem Boden kauernd Fragen an die Geistwesen zu stellen, und erhalten - zumindest für Außenstehende - höchst kryptische Antworten. Der Schamanin war allerdings unser Zugang zum Thema Channeling schlussendlich zu kritisch. Daher hat sie mit Klagsandrohung untersagt, dass wir Bildmaterial oder Zitate verwenden.
Für Martin Felinger ist dieses Verhalten typisch. Felinger leitet die Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren in Wien und behandelt dort regelmäßig Esoterikopfer. Schamanen, Gurus oder Geistheiler sehen sich als Vertreter einer Art Geheimwissen, sagt er. Sie teilen die Welt in diejenigen, die Zugang zu diesem Wissen haben, die Erleuchteten, und jene, denen der Zugang verwehrt bleibt, die Verblendeten. Von Verblendeten und Ungläubigen lassen sich diese Esoterikanhänger ungern auf die Finger schauen.
Auch auf der Esoterikmesse, die zweimal jährlich auf dem Gelände der Wiener Stadthalle stattfindet, sind Journalisten unerwünscht. Also waren wir inkognito dort. In der tristen Halle findet das grundsätzlich eher ältere Publikum, darunter einige mit offenkundigen Gebrechen, vieles, was den Alltag mystischer wirken lässt. Das Angebot reicht von Klangmassagen, Aura-Analysen, Energiebehandlungen über Magnetschmuck bis hin zu Utensilien wie Räucherwerk oder Trommeln. Außerdem gibt es mehrere Stände mit Wahrsagern, Hand- oder Kartenleserinnen.
Eine von ihnen ist Xenia. Mit ihrem glitzernden Wallegewand wirkt sie wie eine Bilderbuchwahrsagerin. Ihre Kunst entpuppt sich hingegen schon nach wenigen Augenblicken als Farce. "Ich sehe die Buchstaben A, K und S in deiner Hand. Wer sind diese Menschen, deren Namen mit diesen Buchstaben beginnen?" Ratloses Schulterzucken. Xenia versucht es erneut: "Vielleicht C oder T?"- "Nein." - "Kinder hast du nicht!" - "Doch." - "Ah ja, genau. Du warst dreimal schwanger." - "Zweimal." - "Aber du könntest noch ein weiteres Mal ..." 30 Euro kostet der Spaß; Erkenntnisgewinn gibt es keinen.
Die meisten erwarten von Astrologen oder Wahrsagern keine sensationellen Enthüllungen über ihre Zukunft, sagt der Religionssoziologe Höllinger. "Meist geht es ihnen einfach um ein besseres Verständnis und eine bessere Einordnung ihrer eigenen Persönlichkeit oder ihrer aktuellen Lebenssituation." Höllinger hat eine umfangreiche Studie zum Thema "neue Spiritualität" verfasst. Anders als viele seiner Kollegen hält er die starke Abwertung, die der Esoterikboom in Wissenschaft und Medien erfährt, für nicht gerechtfertigt. Freilich könne er nicht beurteilen, wie effizient esoterische Praktiken wie Schamanismus, Astrologie oder Familienaufstellung tatsächlich sind. In bestimmten Lebenssituationen können sie aber sicher "als wichtig und hilfreich für die Lösung spezifischer Probleme und für die Persönlichkeitsentwicklung insgesamt erachtet werden".
Die meisten Menschen, die solche Praktiken in Anspruch nehmen, hätten eine recht vernünftige Einstellung dazu, sagt Höllinger. Sie erwarten nicht, dass ihre Krankheiten wie durch ein Wunder geheilt werden. Sie suchen vielmehr nach Wegen, wie sie ihre Befindlichkeit auf natürliche Art und Weise verbessern können. Etwa durch Naturheilmittel, durch eine Änderung der Lebensgewohnheiten oder durch spirituelle Rituale.
Die Guru-Falle
Der Sektenbeauftragte Martin Felinger sieht das kritischer. Unter Esoterikbegeisterten fänden sich häufig leichtgläubige Menschen, welche, die mit ihrem Leben unzufrieden oder für Verschwörungstheorien anfällig seien. Für diese Menschen hält die Esoterik eine Reihe simpler Welterklärungen parat. Sie gibt ihnen das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben zurückzubekommen. Häufig merken sie dabei nicht, dass es eigentlich der Guru, der Schamane oder die Kartenlegerin sind, die sämtliche Fäden in der Hand haben. "Viele wagen dann nicht mehr, Entscheidungen selbstständig zu treffen. Sie geraten in eine regelrechte Abhängigkeit und verlieren den Bezug zur Realität", sagt Felinger. "Esoterik wird zum Problem, wenn sie beginnt, das Leben zu dominieren."
So war es zum Beispiel bei Anna N. Das sensible und grüblerische Mädchen aus gutem Haus war auf der Suche nach Antworten und Geborgenheit, als es vor zehn Jahren in die Fänge eines esoterischen Gurus geriet. Von der Welt und ihrer Familie fühlte sich die Wienerin unverstanden, als sie nach der Matura ihr Studium auf einer privaten Wirtschaftsuni in Italien begann. Der Gründer der Universität, ein erfolgreicher Guru, wurde zur Leitfigur in ihrem Leben. Um ihrem Idol möglichst nahe zu sein, übersiedelte das schwärmerische Mädchen in eine kleine Wohnung unmittelbar neben der Villa des Gurus und begann für ihn zu arbeiten - kostenlos, versteht sich. Tag und Nacht war sie damit beschäftigt, der Erleuchtung näher zu kommen und die Welt zu überwinden. Denn die Welt, so die Meinung des Gurus, war ohnehin nur ein Hirngespinst ihrer eigenen Fantasie. Krankheit und Tod existierten nur, solange man an sie glaubte. Ziel war die Unsterblichkeit.
Wie sehr sich Anna von Freunden und Familie entfremdete, merkte sie nicht. Sechs Jahre lang war sie mit Begeisterung bei der Sache und erlebte durch ihren Guru "vollkommene Momente der Erleuchtung". Dann wurde sie seine Geliebte. Das war der Anfang der Entzauberung. Für sie war er die Erfüllung aller Träume, für ihn war sie eine von vielen Frauen. Gleichzeitig. Er sagte ihr, sie müsse lernen, ihre Eifersucht zu überwinden, denn die sei ja nur ein Produkt ihrer Unvollkommenheit. Trotzdem wurde Anna immer unglücklicher. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und wagte den Absprung. "Wenn du gehst, wirst du auf Menschen treffen, die an den Tod glauben. Du wirst auch wieder an ihn glauben und du wirst sterben", sagte ihr Guru. Anna hatte Angst, den Pfad zum Glück zu verlassen, zu sterben. Trotzdem ging sie.
Zurück in Wien überkamen sie Panikattacken und Angstzustände. Sie suchte Hilfe bei einem Therapeuten und stieß auf Martin Felinger. Durch ihn erkannte sie, in welchen Bann sie hineingeraten war. Dem Guru, sagt sie heute, ging es nie um ihr Wohl, sondern immer nur um Macht und Kontrolle. Die Esoterik hat Anna heute weitgehend hinter sich gelassen - nur ein paar Energiesteine hat sie aufgehoben. Nicht weil sie an deren Wirkung glaubt, aber sie glaubt an den Placeboeffekt.
Davon ist auch Nina überzeugt. Trotz Heilkräutern und Kupfer-Hula-Hoop-Reifen kam ihr Kind mit der diagnostizierten Lungenkrankheit zur Welt. Die Operationen hat es überlebt, Mutter und Kind haben gelernt, mit der Krankheit zu leben. Trotzdem würde Nina rückblickend wieder zu einem Heiler gehen, sagt sie. Denn die Annahme, etwas Gutes für ihr Kind zu tun, habe ihr geholfen, die schwere Zeit der Schwangerschaft zu überstehen und positiv in die Zukunft zu blicken. "Da ging es weniger um tatsächliche Heilung als vielmehr um Hoffnung und Glaube." Und der Glaube kann ja bekanntermaßen Berge versetzen. Vorsichtig sollte man aber sein, was man glaubt und wem.