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Raufende Gentlemen

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Peter Sichrovsky
©Bild: News/Ricardo Herrgott
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Rugby ist eine Stadt in der englischen Grafschaft Warwickshire am Fluss Avon, hat etwa 60.000 Einwohner und liegt auf halbem Weg zwischen London und Manchester. In der Rugby School begann vor 200 Jahren, im Sommer 1823, die Geschichte des beliebten Nationalsports der Briten und Bewohner des Commonwealth. Der 15-jährige William Webb brachte während eines Streits über die Auslegung der Regeln eines Fußballspiels den Ball einfach mit den Händen ins gegnerische Tor. Aus der wilden Debatte über seine Frechheit entwickelte sich ein eigener Sport, der im Laufe der kommenden Jahrzehnte die Trennung von Rugby, Fußball und Football ermöglichte. In Erinnerung an das Ereignis plant die Schule in Rugby heuer ein Sportfest, bei dem Schüler die Kleidung von 1823 tragen. Der 15 Jährige Lochie Glackin hatte durch Los die Ehre gewonnen, wie einst William Webb während des Spiels mit dem Ball in den Armen ins gegnerische Tor zu laufen.

Schlammschlacht

Ich hatte meine eigenen Erlebnisse mit Rugby. Im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren verbrachte ich die Sommerferien bei meinen Tanten in England. Die beiden Schwestern – aus einer noblen Villa in Hietzing 1938 nach London geflüchtet – hatten nie geheiratet und waren mit einem lebhaften Buben etwas überfordert. Einen Monat durfte ich bei ihnen in London bleiben, den zweiten Monat schickten sie mich – bereits ziemlich erschöpft – in ein Feriencamp nach Wales. Rugby war dort weitaus beliebter als Fußball und Cricket unter den Buben, die mit ihrer Kraft und Energie aufgrund der an die Tür klopfenden Pubertät nichts anzufangen wussten. Trotz strenger Regeln – gegnerische Spieler dürfen nur durch Umklammerung des Körpers unter den Schultern und der Beine aufgehalten werden – endete ein Rugby-Spiel in unserem Sommer-Camp fast immer in einer wilden Rauferei.

Die Lehrer ließen es zu, mischten sich kaum ein, wenn auch die Hälfte der Buben nach dem Spiel von der Krankenschwester versorgt werden musste. Ernstere Verletzungen gab es keine, doch genügend Abschürfungen, blutende Kratzer an Armen und Beinen, blaue Flecken an den Oberkörpern, verstauchte Knöchel und Beulen auf dem Köpfen. Doch am nächsten Nachmittag standen wir bereits wieder am Spielfeld, aufgeregt, begeistert, uns erneut laut brüllend auf einander stürzend. Gespielt wurde wie auch im professionellen Rugby bei jedem Wetter, selbst wenn wir mit dem Ball unterm Arm versuchten, bei strömenden Regen durch den Schlamm zu laufen und kämpfend wie zu einem Knäuel verknotet uns im Dreck wälzten, um den Ball zu ergreifen. Völlig verschmutzte Kleidung und mit Schweiß und Erde verschmierte Arme, Beine und Gesichter waren ein Statussymbol.

Raufbolde

Noch heute gilt in England das Sprichwort: „Fußball ist ein Sport für Gentlemen, gespielt von Raufbolden, Rugby ein Sport für Raufbolde, gespielt von Gentlemen.“ Fußball und Rugby haben die gleichen Wurzeln. Bis Mitte des 19. Jahrhundert herrschte völliges Chaos bezüglich der Regeln. Vereine und Schulen gewährten ihren Spielern die verschiedensten Freiheiten, ob der Ball mit dem Fuß, mit den Händen gespielt werden durfte oder beides erlaubt war. Rugby-Fußball – wie sie es nannten – wurde immer beliebter, Schul- und Vereinsmannschaften spielten gegeneinander, wobei es wegen der unterschiedlichen Regeln zu wüsten Streitereien kam.

1863 trafen sich Vertreter von sieben Mannschaften in einem Londoner Pub, um Ordnung in die ungeregelte Vielfalt zu bringen, und gründeten die Football Association. Die Mannschaften konnten unterschiedlicher nicht sein. Die einen spielten mit einem runden Ball, jede Handberührung des Balles und Attackieren des Gegners war verboten. Die anderen warfen und schossen mit Händen und Füßen, verwendeten einen ovalen Ball und rissen die gegnerischen Spieler zu Boden. Nachdem sich die Repräsentanten der Mannschaften zumindest auf einen Namen geeinigt hatten, kam es zu lautstarken Diskussionen über die Regeln. Ob die Menge Bier verantwortlich war oder die unterschiedliche Auslegung der Spielgewohnheiten, ist nicht überliefert. Die einzige Tatsache, die überliefert ist: Die Anwesenden konnten sich nicht auf gemeinsame Regeln einigen. Das Treffen endete im Streit, Vertreter von Rugby und Fußball gingen getrennte Wege und gründeten 1871 zwei voneinander unabhängige Vereinigungen.

Spielregeln

Die Regeln von Rugby sind komplizierter als die von Fußball. Es geht um Punkte, nicht um Tore. Das Spielfeld misst 70 mal 100 Meter, jede Mannschaft hat 15 Spieler. Am Ende des Spielfeldes stehen die Malstangen (wie der Buchstabe H). Es wird zweimal 40 Minuten gespielt. Das „Ei“, wie der ovale Ball genannt wird, kann mit Füßen gekickt, mit Händen geworfen und getragen werden. Er darf nur nach hinten und zur Seite gespielt werden. Ein Regelverstoß wird mit einem „Gedränge“ bestraft. Die Spieler stehen Kopf an Kopf und versuchen einander wegzuschieben, um den Ball zu erreichen. Nur Spieler, die den Ball tragen, dürfen attackiert werden. Der „Try“ bringt fünf Punkte, wenn der Ball im gegnerischen Feld abgelegt wird. Kann der Ball auch noch durch den oberen Teil der H-Stange geschossen werden, gibt es weitere zwei Punkte.

Im Gegensatz zum amerikanischen Football tragen Rugby-Spieler keine schützende Bekleidung. Fußball, Football und Rugby gelten als körperlich intensive Sportarten mit direktem, oft gefährlichem Körperkontakt. Rugby und Fußball sind statistisch etwa gleich gefährlich, amerikanischer Football weitaus gefährlicher. Das Zusammenkrachen der Kontrahenten ist wesentlich heftiger, und trotz der Helme, die sie tragen, sind Spätfolgen der Kopfverletzungen ein großes Problem des amerikanischen Football.

Ursprung

England gilt als Ursprungsland aller drei Sportarten. Berühmt berüchtigt das sogenannte „Shrove Tuesday Football Match“, das seit dem zwölften Jahrhundert am Faschingsdienstag und Aschermittwoch in Ashbourne stattfindet. Es gibt keine Spielerbegrenzung, manchmal beteiligen sich bis zu 1.000 Teilnehmer in jedem Team. Gespielt wird an zwei Tagen acht Stunden lang von 14 bis 22 Uhr. Die „Tore“ sind zwei Steinpyramiden. Der Ball, etwas größer als ein Fußball, mit Kork gefüllt und bemalt, muss dreimal gegen den gegnerischen Stein gedrückt werden. Das Spielfeld ist etwa drei Meilen lang zu beiden Seiten des Flusses Henmore.

Bei Spielbeginn wird der Ball von einer prominenten Persönlichkeit im Zentrum der Stadt in die Menge geworfen, 2003 hat der damalige Prinz Charles das Spiel eröffnet. Die seit Jahrhunderten geltenden Regeln besagen: kein Durchqueren von Privatbesitz und Friedhöfen, kein Klettern auf offizielle Gebäude und Denkmäler. Der Ball darf nicht in einer Tasche, nicht mit einem Wagen oder auf einem Pferd transportiert werden.

Cambridge

Kaum jemand weiß heute, dass trotz der Jahrhunderte alten Tradition des Ballspiels, der Ursprung des modernen Fußballs auf die Initiative zweier Theologen aus Cambridge zurückgeht. Parallel zu den Fußball-Rugby-Raufereien sollte ein nobler, zivilisierter Ballsport auf der Eliteuniversität entstehen. Henry de Winton und John Charles Thring gründeten 1848 ein Komitee, das die Grundlagen des heutigen Fußballs schufen: elf Spieler, kein Handspiel, sie definierten Größe des Spielfelds, der Tore, des Balls und verboten das „Niederreißen“ des Gegners. 1872 kam es zur Einführung des Eckballs. 1896 wurde eine weitere Bedingung beschlossen: „Das Spielfeld muss frei von Bäumen und Sträuchern sein.“

In den Sporting News der Tageszeitung von Cambridge war 1863 zu lesen: „Am Freitag, 20. November, wird in Parkers Piece das erste Fußball-Spiel nach den neuen Regeln ausgetragen.“ Ein Denkmal erinnert daran in Parkers Piece mit der in Stein gravierten Liste der Regeln.

Der 15-jährige William Webb, der die Entwicklung der drei Sportarten einleitete, gab Rugby bald wieder auf, studierte Theologie und verbrachte sein Leben als Dorfpfarrer. Sein Denkmal steht vor der Elite-Schule in Rugby, und der Webb Ellis Cup, die Rugby-WM, erinnert an ihn.

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