Im November 1930 stürmten NS-Schlägertruppen das Kino Mozart-Saal am Nollendorfplatz in Berlin, wo die Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman "Im Westen nichts Neues" gezeigt wurde. Hysterisch kreischend verlangten sie die Unterbrechung der Filmvorführung, brüllten, das sei ein Judenfilm, attackierten den Vorführer, schlugen wahllos auf Zuseher ein, die sie als Juden vermuteten, warfen Stinkbomben und brachten Käfige voll weißer Mäuse, die sie im Saal freiließen.
Im Mob: ein Dutzend Reichstagsabgeordnete der NSDAP, die der eindringenden Polizei ihre Immunitätsausweise zeigten und gemeinsam mit den SA-Braunhemden versuchten, das Publikum aus dem Saal zu drängen, organisiert und angeführt von Joseph Goebbels, damals NS-Gauleiter von Berlin-Brandenburg. Er schrieb in sein Tagebuch, dass innerhalb zehn Minuten der Kinosaal einem Irrenhaus glich, die Polizei machtlos gewesen sei, die verbitterte Menge ihren Zorn an den Juden ausgelassen habe, die Kartenkassen stürmte und Fenster einschlug. Seine Erinnerung endete mit dem Satz: "Die Vorstellung ist unterbrochen wie auch die nächste. Wir haben gewonnen." Auf dem Wittenbergplatz hielt er eine Hassrede gegen den Film und das Buch. Es sei ein "Werk der Juden", um
Deutschland als "schwach und ängstlich" zu zeigen. Doch die Soldaten des Kriegs seien Helden gewesen, unter ihnen auch Adolf Hitler.
Die nächsten Vorführen konnten nur unter Polizeischutz stattfinden. Im Dezember 1930 wurde dem Film "aus Sicherheitsgründen" die Zensurfreigabe von der Obersten Filmprüfstelle entzogen, nach ein paar Monaten durfte er wieder gezeigt werden, im Januar 1933 wurde er endgültig verboten. Im Mai 1933 begannen die Buchverbrennungen. Die Wut auf Remarque als Autor und seine Bücher schuf eine Atmosphäre der Angst, so dass Buchhandlungen, Bibliotheken und Privatpersonen fast sämtliche Exemplare an die Verbrennungen ablieferten. Nach dem Krieg gab es kaum mehr Originalfassungen und Erstausgaben. Der jüdische Kinobetreiber Hanns Brodnitz, der die Uraufführung in Berlin wagte, wurde ein paar Jahre später verhaftet und in Auschwitz ermordet.
Erich Maria Remarque wurde 1898 als zweites Kind des Buchbinders Peter Franz Remark in Osnabrück geboren. 1916 meldete er sich als Freiwilliger, wurde im Juli 1917 durch Granatsplitter verwundet und begann im Lazarett mit den ersten Aufzeichnungen seiner Erlebnisse.
"Im Westen nichts Neues" bietet er 1928 den Verlagen S. Fischer und Ullstein an. Im März 1928 lehnt der S. Fischer Verlag die eingereichten Entwürfe ab, im August nimmt Ullstein den Roman an. Er erscheint als Vorabdruck ab dem 10. November 1928 in der "Vossischen Zeitung", in Buchform am 29. Januar 1929. Innerhalb weniger Wochen erreicht er eine Auflage von 450.000 Exemplaren, wird noch im selben Jahr in 26 Sprachen übersetzt. Bis heute gibt es Ausgaben in über 50 Sprachen. Die geschätzten Verkaufszahlen weltweit liegen bei 20 Millionen. Remarque gehört zu den meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts.
Mit Beginn des Nationalsozialismus wird er mit einer hasserfüllten Kampagne konfrontiert. Seines Lebens nicht mehr sicher verlässt er 1931 Deutschland in Richtung Schweiz und flieht 1939 in die USA, wo er mit dem Einkommen seines Bestsellers ein angenehmes Leben führt. Weltweite Bekanntheit erreicht das Werk durch die US-Verfilmung aus dem Jahre 1930 von Lewis Milestone, die mit zwei Oscars ausgezeichnet wurde und bis heute immer wieder unter die hundert besten Filme gereiht wird.
Nach neun Jahren Exil in den USA kehrt er 1948 nach Europa zurück. Bis heute ist sein Buch eines der wichtigsten Antikriegsromane. Die Neuverfilmung unter Edward Berger könnte bei der kommenden Oscar-Verleihung mit neun Nominierungen einer der erfolgreichsten Filme Deutschlands werden.
Die vergessene Schwester
Völlig vergessen bei all dem Hurra über die neue Verfilmung ist Remarques Schwester, über deren Schicksal er erst nach dem Krieg erfuhr, das ihn schwer erschütterte.
Seine jüngste Schwester Elfriede wurde 1903 in Osnabrück geboren. Als Kind ständig krank und zwei Jahre lang gelähmt, die Schule nie abgeschlossen, arbeitet sie ab 1917 als Dienstmädchen. 1919 beginnt sie eine Lehre als Schneiderin und schließt sie 1922 mit der Gesellenprüfung ab. Ihre Tochter, 1923 geboren, stirbt nach wenigen Monaten.
Die unterschiedlichen Geschwister - Erich, Journalist und Schriftsteller, seine Schwester, Putzfrau und Schneiderin - verbindet die Ablehnung der Nationalsozialisten. Sie folgt ihm 1924 nach Berlin. Er hilft ihr, eine Wohnung zu finden. Wieder schlägt sie sich als Reinigungskraft durch, bis sie eine Anstellung als Schneiderin findet. 1929 verlässt sie Berlin und zieht nach Dresden, wo sie ihre Ausbildung in einer Schneiderwerkstatt fortsetzt und 1933 die Meisterprüfung ablegt. Sie heiratet den Kaufmann Paul Wilke, doch die Ehe wird bereits nach zwei Jahren geschieden. 1936 gelingt es Elfriede, eine eigene Werkstatt als Damenschneidermeisterin zu eröffnen. Ihre Kundinnen gehören bald zur besseren Gesellschaft von Dresden. 1939 lernt sie den Musiker Heinz Scholz kennen, er wird jedoch zur Kriegsmarine einberufen. 1941 während eines Fronturlaubs heiraten sie, nach wenigen Monaten wird die Ehe wieder geschieden.
Die Geschäfte gehen schlecht während der Kriegsjahre, Material fehlt, und es gibt Konflikte mit Kundinnen, die nicht zahlen können, bis sie am 1. August 1943 plötzlich von der Gestapo verhaftet wird.
Hochverrat
Elfriede, Besitzerin einer kleinen Schneiderwerkstatt, wird des "Hochverrats" verdächtigt. Der Ehemann einer Kundin hat Anzeige gegen sie erstattet. Elfriede hätte gesagt, meldet er der Gestapo, sie glaube nicht mehr an den Endsieg, die Soldaten an der Front seien nur noch Schlachtvieh. Der Führer habe sie alle auf dem Gewissen.
Im Polizeigefängnis Dresden wird sie wegen "staatsfeindlicher Äußerungen" mehrfach von der SS verhört und gefoltert. Elfriede bestreitet die Aussagen. Von Anfang an sind Verhaftung und Verhör eine gezielte Aktion gegen die Schwester des verachteten Autors. Keine der Anschuldigungen lässt sich durch Vernehmungen der Hausbewohner und Kundinnen bestätigen. Elfriede wird dennoch in das Untersuchungsgefängnis Berlin Alt-Moabit überführt.
In der Anklageschrift wird ihr "Wehrkraftzersetzung" und "Feindbegünstigung" vorgeworfen. Roland Freisler übernimmt als verantwortlicher Richter den Prozess. Freisler, einer der schlimmsten Verbrecher des NS-Regimes, für mehr als 2.600 Todesurteile verantwortlich, darunter die Gebrüder Scholl und die Initiatoren des Attentats vom 20. Juli 1944, soll während der Verhandlung erklärt haben: "Ihr Bruder ist uns leider entwischt, sie aber werden uns nicht entwischen." Das Urteil gegen Elfriede wegen einer unbewiesenen Bemerkung lautet Todesstrafe und "dauernder Ehrverlust".
Hinrichtung
Die zahlreichen Gnadengesuche lehnt das Gericht ab. Elfriede wird zur Hinrichtung nach Berlin-Plötzensee überführt, die für den 25. November 1943 angesetzt ist. Sie wird im letzten Moment verschoben, da ein Bombenangriff das Gebäude zerstört, in dem die Dokumente für die Todesurteile gelagert waren. Weitere Gnadengesuche bleiben unbeantwortet. Am 16. Dezember 1943 um 13.04 Uhr wird Elfriede Scholz in Plötzensee durch das Fallbeil hingerichtet.
Remarque erfährt erst nach Kriegsende von der Hinrichtung seiner Schwester. Jahrelang quält ihn der Gedanke, dass sie für den geflüchteten Bruder büßen musste. Er beginnt mit der Arbeit an dem KZ-Roman "Der Funke Leben", der 1952 zunächst in den USA erscheint und ein halbes Jahr später in Deutschland.
In den 1960er-Jahren versucht Remarque mit Hilfe seines Anwalts, die Verantwortlichen für die Denunziation und das Gerichtsverfahren zur Rechenschaft zu ziehen. Der Antrag einer strafrechtlichen Verfolgung wird von der Generalstaatsanwaltschaft abgelehnt, die auf die Befragung der noch lebenden Zeugen verzichtet. Die Entscheidung wird am 25. September 1970 zugestellt. An diesem Tag stirbt Erich Maria Remarque.