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Regierungsverhandlungen: Weiter wie bisher

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Alles muss anders werden, sagen die Regierungsverhandler. Doch in ihren Verhandlungsteams scharen sich Lobbyisten, die das Beste für ihr Klientel erreichen wollen. Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer, Gewerkschaft und Industriellenvereinigung waren immer schon dabei, heißt es. Ist das noch gelebte Sozialpartnerschaft oder schon das letzte Aufgebot der „politischen Eliten“, die derzeit bei Wahlen abgestraft werden?

Die Ansage ist an sich schon gewagt: Es dürfe kein „Weiter wie bisher“ geben, proklamiert ÖVP-Chef Karl Nehammer anlässlich der Koalitionsverhandlungen mit SPÖ und NEOS. Warum eine Partei, die seit 1986 durchgehend in der Regierung ist und bei allen derzeit als Pro­blem ausgemachten Themen – Migra­tion, Integration, Bildung, Wirtschaft, Finanzen – fast durchgehend die Minister stellte, für einen neuen Weg stehen sollte, ist an sich schon schwer zu erklären. Zuallererst müsste sich die ÖVP also selbst neu erfinden.

Doch ein Blick auf ihr Verhandlungsteam zeigt: alles beim Alten. Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts (Neues) zu sehen. Nehammer vertraut auf etliche Funktionäre von Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer und Industriellenvereinigung. Diese Organisationen lassen auch in der Parlamentsarbeit die Muskeln spielen, wenn Anträge von den „Arbeitskreisen“ – Wirtschaft, Landwirtschaft, ÖAAB – abgesegnet werden müssen, bevor sie eingebracht werden.

Die SPÖ hat seit dem Vorjahr einen neuen Parteichef. Doch auch Andreas Babler umgibt sich mit jenen Leuten, die in seiner Partei Machtzentren bilden: Gewerkschafter und Arbeiterkämmerer. „Die früheren Großparteien sind in Geißelhaft ihrer Interessenvertretungen“, sagt eine erfahrene Verhandlerin. Manche dieser Interessenvertreter würden bei den Gesprächen direkt das Wort ergreifen, andere als Aufpasser am Tisch sitzen. Die Politiker und ihre Mitarbeiter wüssten ohnehin, welches Verhandlungsziel es zu erreichen gilt.

Bei ÖVP und SPÖ gibt es immer noch eine starke Verflechtung mit sozialpartnerschaftlichen Institutionen, also Kammern und Gewerkschaften

Laurenz Ennser-JedenastikForscher und Professor
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SPÖ Chef Babler auf dem Weg zu Gesprächen mit der ÖVP. Mit dabei: ÖGB Chef: Wolfgang Katzian

 © HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com

Sozialpartnerverbände am Tisch

„Bei ÖVP und SPÖ gibt es immer noch eine starke Verflechtung mit sozialpartnerschaftlichen Institutionen, also Kammern und Gewerkschaften“, sagt Laurenz Ennser-Jedenastik, Politikwissenschafter an der Uni Wien, auch wenn der Einfluss über die Jahrzehnte abgenommen habe. „Wenn die beiden Par­teien bei Wahlen nicht gut performen, bekommen diese Gruppen extrem viel Gewicht“, erklärt er. „Parteivorsitzende haben freiere Hand bei der Ernennung von Verhandlern und später Regierungsmitgliedern, wenn sie erfolgreich sind. Sind sie schwach, ernennen sie eher Leute, die stark in der Partei verankert sind. Genau das passiert jetzt, die traditionellen Machtzentren reden wieder mehr mit.“

Erkennt man die Handschrift der Interessenvertreter in den Regierungsprogrammen? „Natürlich erkennt man entsprechende Schwerpunktsetzungen“, sagt der Politikwissenschafter. „In jedem SPÖ-Programm sieht man die Handschrift der Gewerkschafter, das schlägt sich dann auch in Koalitionsabkommen nieder. Genauso ist es mit Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer bzw. den Bünden der ÖVP.“ Besonders stark sei deren Einfluss, wenn die anderen Koalitionsverhandler in einem Bereich keine großen Ansprüche haben. „Ganz klassisch ist das bei der Landwirtschaft der Fall. Wenn der Bauernbund etwas will, betrifft das die anderen oft nur am Rande, daher lässt man ihn gewähren.“

Anders war das in der Koalition ÖVP-Grüne, wo es Interessenkollisionen zwischen Landwirtschaft und Klima- bzw. Umweltschutz gab. „Diesmal könnte die Landwirtschaft weniger konflikt­trächtig sein“, meint der Experte. Mehr Differenzen könne es bei Arbeitsmarkt und Sozialem geben, wo ÖVP und SPÖ ihre Kerninteressen haben.

Breitere Zustimmung für Sparpaket

Die nächste Regierung wird allerdings nur wenig an diverse Klientelgruppen zu verteilen haben. Ihre drängendste Aufgabe ist die Sanierung des Budgets. Da geht es für die Interessenvertreter darum, schmerzhafte Einschnitte in ihrem Bereich zu verhindern. „Einfacher wird das Regierungsverhandeln durch sie nicht. Jede dieser Gruppen hat starke Interessen, was die Kompromissfindung erschwert. Andererseits sind das natürlich Leute, die viel Verhandlungserfahrung und Erfahrung beim Schmieden von Kompromissen haben“, so Ennser-­Jedenastik. Ein Nebeneffekt könnte sein: Haben Kammern und Gewerkschaften mitverhandelt, tun sie sich schwerer, gegen Regierungsmaßnahmen zu protestieren.

Manchmal kommt das Interesse im Gewand der Expertise daher

Laurenz Ennser-JedenastikForscher und Professor
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NEOS Chefin Beate Meinl-Reisinger auf dem Weg zu den Regierungsverhandlungen

 © APA/HELMUT FOHRINGER

Expertinnen oder Lobbyisten?

Ist der Aufmarsch der Interessenvertreter noch zeitgemäß? Sollten die Parteien auf Expertinnen setzen? Die Vertreter von Kammern und Gewerkschaften meinen, beides zu sein. „Manchmal kommt das Interesse im Gewand der Expertise daher“, sagt Ennser-Jedenastik. „Dann wird erklärt, was die beste Lösung für ein Problem wäre, und zufällig deckt sich diese mit den eigenen Bedürfnissen. Das liegt in der Natur der Sache: Diese Leute haben ihre Interessen verinnerlicht und können das mit sehr viel fachlichem Input untermauern.“

Während der Regierungsverhandlungen sei der Rückgriff auf parteinahe Institutionen gar nicht verwerflich, schließlich säßen einander Parteien gegenüber, die von für ihre Programme gewählt wurden. Anders sieht Ennser-­Jedenastik jedoch spätere Gespräche von Regierungsmitgliedern mit Interessenvertretungen oder Lobbyisten. Hier fehle Österreich ein wirksames Lobby-­Register, wie es auf EU-Ebene besteht. „Wenn man sehen kann, dass ein Regierungsmitglied mit einer Gruppe zehn Mal geredet hat, mit der anderen Seite aber nur einmal, dann entsteht ein gewisser Rechtfertigungsdruck. Dann muss man für Ausgleich sorgen und Gruppen, die unterrepräsentiert sind, stärker anhören.“

Zwar nähmen Kammern und Gewerk­schaften als Mitglieder der Sozialpartnerschaft für sich einen Sonderstatus in Anspruch und wollen nicht als Lobbyisten gelten, „aber man muss sagen, die Kammern selbst sind kein Vorbild an Transparenz und Offenheit“, so Ennser-­Jedenastik.

Es hat über die Jahre ein Wandel stattgefunden. Weg vom sozialpartnerschaft­lichen Interessenausgleich hin zum Eigeninteresse der einzelnen Sozialpartner­verbände

Emmerich TálosPolitikwissenschafter und Sozial­partner-Experte

Interessenvertreter als Minister

Die schwarz-grüne Regierung sei die erste gewesen, „in der es niemanden gab, der irgendeine biografische Verbindung zu einer Kammer oder Gewerkschaft hatte. Das war ein Novum“, erklärt Ennser-Jedenastik. Anders sah es in den rot-schwarzen Regierungen früher aus. „Da kamen die Ministerinnen und Minister bis zur Hälfte aus diesen Institutionen.“

Der Politikwissenschafter und Sozial­partner-Experte Emmerich Tálos sagt: „Es hat über die Jahre ein Wandel stattgefunden. Weg vom sozialpartnerschaft­lichen Interessenausgleich hin zum Eigeninteresse der einzelnen Sozialpartner­verbände.“

Dabei hätten die einzelnen Verbände unterschiedliches Gewicht bekommen. In den ÖVP-FPÖ-Regierungen sei etwa der Einfluss der Arbeitnehmervertretungen dezidiert ausgeschaltet worden. Nach den Regierungsverhandlungen 2017 feierte sich Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer, der an der Seite von Sebastian Kurz verhandelt hatte, so: „Dank des Einsatzes der WKÖ trägt das neue Regierungsprogramm die Handschrift der Wirtschaft.“ Tálos verweist gerne auf dieses Zitat. „Ich finde es sehr treffend. Denn es war wirklich so.“ Die Kurz-Strache-Regierung hatte u. a. den 12-Stunden-Arbeitstag beschlossen.

Strukturen von gestern

Hingegen hätten Phasen, in denen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite gehört wurden, „sicherlich nicht nur Nachteile gehabt“, sagt Tálos. „Es gab eine Abmilderung der Konfliktpositionen. Die gute österreichische Entwicklung in den Nachkriegsjahrzehnten hat sicherlich mit der Einbindung der Interessenvertretungen zu tun.“ Aber der Sozialforscher sieht auch die Nachteile: „Sozial­­partnerschaft ist kein demokratisches Muster der Interessenwahrnehmung. Entscheidungen werden von der Funk­tio­närsebene getroffen.“

Heute stelle sich allerdings die Frage, wie weit die Sozialpartnerverbände die gesellschaftlichen Gegebenheiten noch abbilden. „Sie sind an die traditionellen Formen von Erwerbsarbeit gebunden. Aber was ist mit jenen, die kaum in Erwerbsarbeit eingebunden sind? Werden diese Menschen am Verhandlungstisch auch vertreten?“

Kammerjäger NEOS

Mit NEOS sitzt diesmal eine dritte Partei am Tisch, die – nach der FPÖ – die größte Ablehnung der Kammerstrukturen vor sich herträgt. 2022 brachte die Partei sogar ein Büchlein mit dem Titel „Der Kammerstaat“ heraus. Und ihr „Kammerjäger“ Gerald Loacker – mittlerweile nicht mehr in der Politik – schrieb: „Die Kammermitglieder sind in der Regel nicht Kunden, denen ihre Organisation dient. Sie sind Objekte, aus denen diese Kammerorganisationen das Geld für ihr stetes Wachstum ziehen.“

Dennoch geht Tálos davon aus, dass NEOS sich in der Koalition nicht die Kammern als Gegner aussuchen werden. „NEOS werden Einfluss auf die Kräfteverhältnisse in der Regierung nehmen. Aber ob dieser Einfluss darin besteht, dass man den Umbau des traditionellen Interessensystems anstrebt, wird sich zeigen. NEOS müssen schauen, dass sie Spuren hinterlassen, sich aber überlegen, wo sie am meisten erreichen können.“ Auch im NEOS-Team sitzt ein Verhandler mit Kammerverbindungen. Markus Hofer ist laut „Meine Abgeordneten – Verein zur Förderung von Transparenz und Demokratie“ als Unternehmer in Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung aktiv.

Der Pragmatismus der anderen

Auch wenn es in der schwarz-grünen Regierungszeit keine Ministerinnen oder Minister aus Sozialpartnerverbänden gab, saßen Interessenvertreter an den Verhandlungstischen. „Im Kern geht es dabei darum, dass sie gleich von Anfang an dabei sind, damit sie nicht danach alles besser wissen können. Und ihre Einbindung dient dazu, Wege zu verkürzen, weil Interessenvertreter wie die Wirtschaftskammer in der ÖVP einfach eine wichtige Rolle spielen“, sagt eine grüne Verhandlerin. Und weiter: „Mitunter war es auch leichter, mit den Vertretern von Kammern und Gewerkschaften zu verhandeln als mit den Politikerinnen, weil die einfach eine Ahnung haben, wovon sie reden.“ Bei den aktuellen Verhandlungen sieht man bei den Grünen den Einfluss der parteiinter­nen Lobbys kritischer: „Da heißt es ,Kein weiter wie bisher‘ und dann setzt man sich die größten Blockierer des Landes, etwa die Lehrer-Gewerkschaft, in die Verhandlungsgruppen rein.“

Auch die Grünen haben sich in Verhandlungen Expertise von außen geholt. Absprachen mit Umwelt- und Klima-­NGO hat man allerdings nicht gebraucht. Klimaministerin Leonore Gewessler kam ja mehr oder weniger direkt von Global 2000 auf die grüne Liste für die Nationalratswahl 2019. Klimasprecher Lukas Hammer war zuvor bei Greenpeace.

Wer wen gerade anruft

Jetzt seien entscheidende Wochen, um sich mit seinen Anliegen an die Verhandler aller Parteien zu wenden, sind sich die Beobachter einig. Ärzte- und Apothekerkammer oder die Pharmaindustrie werden mit ihren Vorschlägen bei der Untergruppe Gesundheit vorstellig. Die großen Sozial-NGOs wie Volkshilfe, Hilfswerk oder Caritas strecken wohl ebenfalls ihre Fühler aus. Umgekehrt holen sich die Verhandler auch Expertise von Menschen, die sich etwa bei Pflege auskennen oder Menschen mit Behinderung vertreten.

Neben den klassischen Sozialpartnerverbänden gibt es natürlich noch weitere parteinahe Seilschaften und so sitzen dann z. B. Vertreter der Haus- und Grundbesitzer, der Wohnbaugenossenschaften oder der Energiewirtschaft in den Verhandlungsgruppen.

Und dann gibt es natürlich noch die Landeshauptleute. Gegen die Interessen der Länder zu verhandeln, traut sich kein Koalitionsverhandler. Ihre Vertreter sitzen fast immer mit am Tisch. Das kann sachliche Gründe haben – etwa, weil den Ländern z. B. bei Pflege oder Bildung Kosten entstehen, wenn die Regierung etwas beschließt. Oder informelle Gründe, weil in SPÖ und ÖVP so mancher Landesfürst wichtiger sein will als der Parteichef. Und die Parteichefs wiederum ihre Ruhe haben wollen. Manchmal erschließt sich die Interessenlage auch erst auf den zweiten Blick. „Im Energiebereich spielen die Landesenergieversorger eine gewichtige Rolle“, erklärt Laurenz Ennser-Jedenastik. „Die SPÖ etwa tut sich schwer, eine Energie­politik zu machen, die den Interessen der Wien-Energie entgegensteht.“

Ist das zeitgemäß oder kann das weg?

„Ich habe kein Problem damit, wenn Sozialpartnerverbände am Verhandlungstisch sitzen. Aber es wäre ein Problem, wenn sich herausstellt, dass hier nur verbandspezifischer Lobbyismus gemacht wird“, sagt Tálos. Aber: „Das können sich die ehemaligen Großparteien gar nicht mehr leisten. Sie haben jetzt die letzte Chance, das Ruder herumzureißen. Da erwarte ich schon, dass sie nicht nur traditionelle Interessen wahrnehmen, sondern auch zeigen, dass sie die Menschen tatsächlich ansprechen wollen. Dieses Gerede und Gelaber im Wahlkampf ,Wir treten für die Menschen ein‘ – das war ja schon nicht mehr anzuhören.“

Ein „Weiter so“ würde hingegen den Eindruck erwecken, die immer gleichen Protagonisten machen sich die Dinge wieder einmal untereinander aus. Es wäre Wasser auf die Mühlen Herbert Kickls.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 48/2024 erschienen.

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